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Geschichte und Geschichten um das Phänomen Zeit. Nicht in dem Sinne „alte Zeit“, sondern: dass mal etwas gewesen ist, was nicht mehr da ist. Also nicht die Vergangenheit – die Vergänglichkeit, dies interessiert und fasziniert mich.

An einer ganz besonderen Geschichte möchte ich Sie teilhaben lassen. Eine Alltagsgeschichte, die als Notizen einer Leipziger Schrankenwärterin daherkommt, welche nach 1945 ihre Tagesabläufe auf Fahrkarten, Lotteriescheinen und Zetteln notierte. Ein halbes Arbeiter-Leben lang hatte Martha Lehmann, die Mutter dreier Söhne, auf ihrem einsamen Posten inmitten der Kleinstadt Taucha ihren Dienst getan. Tagtäglich und präzise wie ein Uhrwerk erfüllte die Schrankenwärterin auf ihrem Posten 46 (Überweg Graßdorfer Straße) ihre Pflicht.

Früher kannte man noch den Schrankenwärter, der die Schranken mit der Hand nach oben oder unten kurbelte – heute so gut wie verschwunden. Ein Glockenwerk kündigte durch eine unterschiedliche Anzahl von Schlägen das Dampfross von A nach B und B nach A an. Ein Blick auf die 50er Jahre aus einem Schrankenwärterhäuschen in Ostdeutschland – am Stadtrand von Leipzig. Hier hat sie, die Arbeiterin, Trümmerfau und Eisenbahnerin das vergangene Jahrhundert erlebt und durchlitten. All die Jahre, die sie lebte und ihren Dienst an der Bahnstrecke versah, gab es eigentlich nichts Besonderes an ihr – der bescheidenen alten Frau. Nun ist sie tot (1888 - 1971) und niemand hat sie nach ihrer Erinnerung befragt.

Als sie starb, hinterließ sie jedoch etwas Bemerkenswertes – eine Sammlung eigenartiger Aufzeichnungen. Denn wenn ihr Arbeitsalltag seine stillen Minuten hatte, nahm sie gelegentlich einen Zettel und schrieb darauf, was die Zeit gerade so brachte und was ihr Gemüt bewegte. Und weil sie das über Jahrzehnte beharrlich tat, sind es sehr viele Zettel geworden. Das winzige Format beschränkte ihre Aufzeichnungen auf wenige Worte. So dass auf diesen Zetteln nur das steht, was ihr, Martha Lehmann, wichtig genug schien, festgehalten zu werden. Ein Beispiel: 7. Juli 1952, Posten 46, Taucha. Einige Tage sehr heißes Wetter. Himbeeren, Erdbeeren, Stachelbeeren, eine Pracht! Von den 12 Küken sind 7 Hähne. Hoffentlich kommt kein 3. Krieg. (Vgl.: Dokumentarfilm „Martha Lehmann“, Peter Voigt, 1972)

Aufgehoben, im wahrsten Sinne des Wortes hat sie unzählige Papierschnipsel – Rückseiten von Einzahlungsbelegen für Miete oder Solidaritätsspenden – auf denen sie über Jahre ihre Gedanken festgehalten hat, das, was ihren Alltag ausmachte und das, woran sie sich erinnerte. Dies wiederum war dem Dokumentaristen Peter Voigt († 12. März 2015 in Berlin) einen Kurzfilm wert. Im Jahre 1971 entstehen einfache, klare Bilder, in dem das Leben und ihr Charakter, durch Kargheit sichtbar werden.

Heute erinnert dieser fast in Vergessenheit geratene Dokumentarfilm „Martha Lehmann“ an eine verschwundene Gesellschaft und an eine Biographie, die von ihr geformt wurde. Als Gedächtnismedium bewahrt er Vergessenes und fordert zum Erinnern heraus. In keinem anderen Genre, hätte man über diese Frau einen Film gemacht. Da man sie wohl kaum irgendwo anders als bildgewaltig eingestuft hätte.

Martha Lehmann erlebte die Premiere des Filmes im April 1972 leider nicht mehr.

Akte »M-S-K«

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