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„Meine Tante, deine Tante“

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Das wohl beliebteste Spiel einer ganzen Generation. Ob meine Mutter es gespielt hat, vermag ich mich nicht zu erinnern, ganz sicher aber wäre es niemals von meiner Großmutter gespielt worden, die häufig zu sagen pflegte: „Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr“, und dabei Wert darauf legte, dass der ironische, ja oft vorwurfsvolle Unterton, den sie vor allem uns Kindern gegenüber anschlug, nicht zu überhören war.

Mir hätte sie diesen Spruch am liebsten ins Poesie-Album geschrieben. Sie meinte nämlich, unter uns vier Geschwistern sei ich der einzige, der sich immer das größte Stück Fleisch oder das dickste Kuchenstück zu angeln versuchte.

Daran wurde ich erinnert, als ich jüngst die Kolumne einer Kinderärztin in einer Fernseh-Programmzeitschrift las, worin sie unter Verweis auf dieses „grammatikalisch provokante und inhaltlich höchst zweideutige“ Sprichwort darauf hinweist, dass schließlich „in jedem von uns ein kleiner Egoist stecke“ und „Verzicht auf die eigenen Bedürfnisse“ keinesfalls immer die bessere Verhaltensweise sei. Natürlich seien Bescheidenheit und Rücksichtnahme „hohe Ziele“ und „für das Zusammenleben unverzichtbar“, aber wer sich immer „als letzter in der Schlange“ erlebt und dann meist leer ausgeht, läuft Gefahr, „zum notorischen Miesepeter“ zu werden und würde damit der Gemeinschaft letztendlich gar keinen Gefallen tun.

Den „Egoisten in uns einmal ‚rauslassen‘ dürften wir gern“, meint die Kinderärztin in ihrer Kolumne, „Hauptsache wir behalten ihn an der Leine“.

Genau in diesem Spannungsverhältnis zwischen „unseren Egoismus an der Leine halten“ und „den eigenen Hals nicht voll bekommen“, also zwischen einer gesunden Portion Eigennutz und einem „unsolidarischen“ Verhalten der Gemeinschaft gegenüber fanden sich in den 1970er Jahren im Raum Leipzig die „Spielernaturen“, auch „Zocker“ genannt, wieder.

Alle Welt wusste damals: „Im Sozialismus reich werden, das kannst du vergessen!“ Dennoch mag es heute manch einen verwundern, dass es durchaus möglich war, im Sozialismus reich zu werden. Und dies völlig legal. Hier sei nur an das Spiel „Tele-Lotto“ erinnert, das jeden Sonntag um 19 Uhr Millionen Menschen vor den Bildschirm versammelte, erwartungsvoll der Ziehung der Zahlen folgend, immer hoffend, bei den 5 Richtigen einmal selbst dabei zu sein.

Nicht weniger waren Pferdewetten beliebt. Besonders reizvoll und wirklich große Gewinne verheißend waren Wetten, die schon vor dem Start, zum Beispiel eines Pferderennens, abgeschlossen wurden. Diese etwas am Rande der Legalität sich bewegende Art von „Glücksspiel“, wie auch rein privat organisierte Würfelspiele, waren zwar anfänglich im Arbeiter- und Bauernstaat DDR nicht erwünscht, aber keineswegs explizit verboten.

Diese „Lücke im Gesetz“ sprach sich schnell herum, und ganz Gescheite nutzten sie – für sich. Was als harmloses Spiel zur Aufbesserung der eigenen finanziellen Möglichkeiten begann, entwickelte sich zu einer böse endenden Gepflogenheit – „Zocker“ hatten die Bühne des Glücksspiels für sich entdeckt und wussten, wie dort zu agieren war. Damit nahm anfangs der 1970er Jahre in erst einmal recht harmloser Weise eine fast unglaubliche, aber doch wahre Geschichte ihren Lauf.

Es begann an der Galopprennbahn Scheibenholz in Leipzig. Dort, wo also Geschäfte mit schnellen Pferden gemacht wurden. Da, wo sich die Reichen und die Habenichtse begegneten, allesamt mehr oder weniger große Zocker, die der Traum vom großen Glück vereinte. Dabei sollte man folgende Tatsachen nicht aus den Augen verlieren. In der DDR wurden sämtliche Rennveranstalter in Volkseigentum überführt. Trainer waren Angestellte, der Anteil privater Pferdebesitzer war sehr, sehr gering. Der Galopprennsport führte ein Nischendasein. Trotz alledem war Leipzig während dieser Zeit zeitweise die umsatzstärkste Rennbahn in Ostdeutschland, es standen bis zu hundert Pferde in den Ställen, und jährlich fanden bis zu dreißig Renntage statt.

Am Ende eines Renntages auf dem Platz vor dem Leipziger Scheibenholz standen wenigstens 20 Campingtische, umringt von einer Menschentraube. Dort waren Leute zugange mit einem Packen Geld in der Hand und Würfelbecher.

Das kann doch nicht wahr sein - verbotenes Glücksspiel in der DDR, in Sachsen, in Leipzig, direkt vor meiner Haustür? Heute, weiß ich, dass ab Dezember 1968 privates Glücksspiel in der DDR nicht mehr explizit verboten war. Fortan entwickelte sich eine Leipziger Spielerszene. Und bald wurde nicht nur an den Pferderennwochenenden gezockt. Ja, bis – bis dann am 29. Mai 1976 die Staatsmacht zum großen Schlag ausholte. Es begann eine großangelegte Razzia um die Galopprennbahn Leipzig. Über ein Dutzend Festnahmen und hohe Verwarnungsgelder wegen einer Ordnungswidrigkeit wurden verhängt – weitere Durchsuchungen folgten. „Diese Aktionen haben nur bewirkt, dass sich die Spieler in Gaststätten und Wohnungen zurückgezogen haben“, so die Aussage eines damaligen DDR-Volkspolizisten, im Rahmen für eine Dokumentation um das Glücksspiel in der DDR.

Die Partien fanden abends und nachts überwiegend an den Wochenenden bis in die frühen Morgenstunden statt. Am beliebtesten war das Kartenspiel „Meine Tante – Deine Tante“, aber auch Würfelspiele, wie „Die Goldene Sechs“ sowie „Grüne Wiese“ wurden gespielt. Später kam Roulette hinzu. Ich glaube mich zu erinnern, dass es zu DDR-Zeiten ein Roulette-Spiel mit gut und leicht laufendem Roulette-Kessel aus Kunststoff gab. Mit dreifarbig bedrucktem Spielplan, sowie einem aus drei Teilen bestehenden Roulette-Rechen. In erster Linie als Familienspiel gedacht.

Leipzig – Waldplatz. Freitagabend, Mitte der 70er Jahre. Ein streng geheimer Ort. Nur Eingeweihte wussten, was hier in einer Altbauwohnung hinter vorgezogenen Gardinen gespielt wurde. Hier ging es nicht um Jetons, um Plastikspielgeld, sondern um echtes Geld, viel Geld. 19 Uhr, die ‚Schlacht‘ begann. Von Mal zu Mal wurde es besser, was die Organisation und die Absprachen betraf, auch die Teilnehmerzahl wurde ausgedehnt. Zwischen Leipzig, Berlin und Dresden wurden regelrechte Städtewettkämpfe organisiert, quasi als ‚sozialistischer Wettbewerb‘ unter den besten Zockern. „Das war wie ein kleiner Klassenkampf. Da wurde richtig der letzte Rest ‚Taschengeld‘ herausgeholt", erinnert sich ein Teilnehmer. Mehrere zehntausend Mark wechselten nicht selten an einem Abend den Besitzer.

Die Stasi begann, die Szene zu observieren und stellte fest, dass sich bei einigen ein für DDR-Verhältnisse immenses Vermögen angehäuft hatte. Glücksspieler fuhren Autos der gehobenen Klasse, Marken wie Lada-Shiguli, Dacia oder der Wartburg Melkus – ein Flügeltür-Sportwagen, der in Dresden gebaut wurde. Auch Motorboot, Wohnwagen sowie Geld en masse nannten die Zocker ihr Eigen. Man zeigte natürlich gern, was man hatte. Ein damaliger Mitspieler brachte es auf den Punkt: „Es war für sozialistische Verhältnisse unanständig viel.“ Das Glücksspiel war aus den Wohnungen und Kneipen nicht mehr wegzudenken. Ende der 70er-/Anfang der 80er-Jahre wurde Glücksspiel mehr und mehr zum gesellschaftlichen Problem – zumindest das private galt als unvereinbar mit der propagierten sozialistischen Moral. Fast unbemerkt wurden Paragrafen des Strafgesetzbuches geändert. Fortan galt privates Glücksspiel genau wie Prostitution als Ausdruck asozialer Lebensweise. Somit war es keine Ordnungswidrigkeit mehr, sondern eine strafrechtliche Handlung. Von nun an ging es den Spielern an den Kragen. Dieses verschärfte Vorgehen gegen das private Glücksspiel blieb natürlich nicht lange im Verborgenen und hinterließ bald auch seine Spuren, nicht nur bei den Verurteilten, sondern auch bei allen Betroffenen.

Das DDR-Fernsehen zeigte 1981 den Film Nachtpartie aus der Reihe „Der Staatsanwalt hat das Wort“. Die Handlung spielt in Leipzig und basiert auf einem Kriminalfall aus dem Zocker-Milieu. Es werden Szenen und Motive an der Galopprennbahn in Leipzig sowie in der Altbauwohnung am Leipziger Waldplatz nachempfunden.

Wie meinte doch schon meine Großmutter – „Bescheidenheit ist eine Zier …“, wohl wissend, dass in jedem von uns ein kleiner Egoist lebt, „jener leicht unzivilisierte Gegenspieler, der nicht in jeder Situation und allen Leuten gegenüber der Gutmensch sein möchte.“

Und darum hört es sich einleuchtend an, wenn die eingangs zitierte Kolumnistin uns ermuntert, gnädig zu sein, wenn wir einem ziemlich unsozialen Bedürfnis begegnen – in uns selbst, wie auch bei anderen. „Ab und zu“, so lautet ihr zentraler Satz, „dürfen wir den kleinen Egoisten in uns e i n m a l ‚rauslassen‘. H a u p t s a c h e wir behalten ihn an der Leine.“

Lindenstadt und sächsischer Kleinkram

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