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PROLOG Beethoven zu seiner Zeit

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Die Musik der Klassik, die sich 1770, als Beethoven geboren wurde, noch in einem relativ frühen Stadium befand, beruhte auf Vorstellungen von Ordnung, Proportion und Anmut. Schönheit und Symmetrie der Form waren in sich Objekte der Verehrung und erschufen zusammen ein utopisches Bild, eine Idealisierung der universellen Erfahrung. In der Romantik kam stattdessen – auch dank Beethovens Einfluss – ein Kult des individuellen Ausdrucks auf, das freie Bekenntnis starker Gefühle und Urbedürfnisse, die Verherrlichung der Sinnlichkeit, ein Flirt mit dem Übernatürlichen, eine Betonung der Spontaneität und Improvisation sowie die Kultivierung der Gegensätze. Kennzeichnete die Klassik eine Vorliebe für die Symmetrie, erfreute sich die Romantik an der Asymmetrie. Form wurde nicht länger nur als Behältnis angesehen, sondern als Ausdruck des Gefühls, das von innen heraus erzeugt wird. Die großen Maler der Romantik füllten ihre Leinwände mit großangelegten Landschaften, und die bedeutenden romantischen Komponisten, angefangen bei Beethoven und Weber (aber auch von Haydn in seinem Oratorium Die Jahreszeiten vorweggenommen), strebten ähnliche klangliche Darstellungen an. Die Musik erhielt eine illustrative Funktion in einem nie dagewesenen Maße, obwohl es die „Programmmusik“ (erzählende Musik) schon fast so lange gab wie die Musik selbst. Mit ihrer Kultivierung und Umgestaltung des Volkslieds (oder dessen, was fälschlicherweise als Volkslied aufgefasst wurde) wurde die Musik zudem eine Darstellerin des Nationalismus, einer der stärksten Antriebskräfte der romantischen Epoche. Auch wenn dies nur eine kleine Rolle in Beethovens Schaffen spielte, finden wir Anzeichen in einigen Spätwerken mit seiner Übernahme der deutschen anstelle der traditionellen italienischen Terminologie (darunter sein kurzes Kokettieren mit dem Begriff „Hammerklavier“ als Ersatz für das italienische „Pianoforte“) sowie in seiner Bevorzugung der deutschen Opern Mozarts – vor allem der Zauberflöte – gegenüber dessen italienischen.

Ein weiteres Merkmal der romantischen Vorstellungskraft war die Vorliebe für Extravaganz. Beethoven war hier, besonders wo die Instrumentalmusik betroffen ist, richtungsweisend. Seine Sinfonien „Eroica“, „Pastorale“ und die Neunte dehnten Bandbreite und Größe der Sinfonie in einem ungeahnten Ausmaß, während seine Große Sonate für das Hammerklavier zweimal so lang wie eine typische klassische Sonate eines Mozart oder Haydn war.

Die Ideale und Folgen der Französischen Revolution waren für die Herrscher des zerfallenden Heiligen Römischen Reiches Grund zur Besorgnis. Daher wurde Österreich mit seiner Hauptstadt Wien ein Bollwerk gegen den französischen Imperialismus und ein gut funktionierender Überwachungsstaat, in dem sowohl politischer als auch philosophischer Liberalismus erbarmungslos unterdrückt wurde. Aber die Wiener, wie Beethoven bemerkte, waren keine naturgegebenen Revolutionäre. Sie waren eher für ihre politische Apathie und einen fast dekadenten Geschmack für Vergnügungen bekannt. Störender als ihre einheimischen Lehnsherren waren für sie die zwei Okkupationen 1805 und 1809 durch die Franzosen, wovon besonders die zweite der Stadt beträchtliches Elend brachte, in Form von Geldkrisen, bedenklicher Nahrungsknappheit und Bevölkerungsflucht, während Österreich als Ganzes ernste politische und territoriale Rückschläge erlitt. Mit der endgültigen Niederlage Napoleons im Jahr 1814 machte Österreich viele Verluste wieder wett und wurde während des Wiener Kongresses 1814–15 der Hauptbrennpunkt der diplomatischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aktivitäten Europas. In dieser Zeit, in der die Hauptstadt von Würdenträgern und ihrem Gefolge überflutet war, wurde Beethovens Fidelio 22-mal mit anhaltendem Erfolg aufgeführt. Aber während die Festlichkeiten in Zusammenhang mit dem Kongress ein Zeichen für die Rückkehr zur Ausgelassenheit waren, können sie auch als Totenwache für eine Epoche gesehen werden, deren Zeit vorüber war. In ganz Europa traten Banker und Geschäftsleute zunehmend gegenüber Adel und Großgrundbesitzern als maßgebliche Schiedsrichter über Geschmack und Kultur auf. In einem ganz neuen Ausmaß trat die Musik aus den Palästen hinaus auf den Marktplatz. Komponisten wurden weniger abhängig von aristokratischer Gönnerschaft. Für ihren Lebensunterhalt stützten sie sich nun auf den Verkauf ihrer Werke oder häufiger auch auf ihre Einkünfte als Lehrer für die Wohlhabenden – und die, die diesen Zustand anstrebten. Wien (obwohl damals keine große Stadt) beherbergte über 6000 Klavierschüler. Interpreten, die immer mehr auf die launische Kundschaft des zahlenden Publikums angewiesen waren, traten als eigene spezielle Art hervor. Doch auf dem Gebiet des öffentlichen Konzerts blieb Wien weit hinter London zurück. Obwohl es hier Orchesterkonzerte seit den 1770er-Jahren gab, bekam es erst 1831, vier Jahre nach Beethovens Tod, eine eigens dafür errichtete Konzerthalle. Zeit seines Lebens fanden Konzerte entweder in den Schlössern der untergehenden Adeligen, in Theatern, die oft in Privatbesitz waren und privat geführt wurden, oder in Ballsälen und anderen Hallen statt, von denen ursprünglich keine für Musik konzipiert war.

Änderungen in der Sozialstruktur gingen unweigerlich mit Geschmackswandel einher. Besonders nach den Entbehrungen der napoleonischen Zeit hatte das Publikum Lust auf leichte, eskapistische Unterhaltung, was vor allem durch die neue Welle der leichten italienischen Oper veranschaulicht wird. Diese Zeitspanne markierte den Tiefpunkt in Beethovens Schicksal als Komponist sowie den Höhepunkt seines Zorns und Abscheus gegenüber der Gesellschaft um ihn herum.

Beethovens Beziehung zur Politik seiner Zeit war so individuell und manchmal so gegensätzlich wie er selbst und fußte auf einem tiefverwurzelten Sinn für natürliche Gerechtigkeit, einem starken, wenn auch nicht präzise definierten Glauben an eine moralische Elite und einer seltsamerweise einfältigen Zuordnung von Tugend mit harter Arbeit und der Bewältigung von Schwierigkeiten. „Denn was schwer ist, ist auch schön, gut, groß“, schrieb er einmal. In seinem eigenen Leben scheint er Schwierigkeiten oft um ihrer selbst willen erzeugt zu haben, oder wenigstens als Bedingung für moralische Vornehmheit. 1816 schrieb er in sein Tagebuch: „Die große Auszeichnung eines vorzüglichen Mannes: Beharrlichkeit in widrigen, harten Zufällen.“ Adel war eine Sache der moralischen Tugend, nicht der Vererbung; aber sie bildete eine Elite, und nur die, die sie verwirklichten, waren für Herrschaft geeignet. Dass Herrscher notwendig und erwünscht waren, stellte Beethoven nicht infrage, und er konnte sich von seiner Bewunderung für Napoleon nie ganz befreien. Während er die Menschenrechte verfocht und es als Pflicht ansah, den Bedürftigen und Benachteiligten beizustehen, verteidigte er keineswegs die Grundsätze der Französischen Revolution (das vorherrschende politische Ereignis Europas in seiner Jugend). Er beklagte öffentlich die repressiven Handlungen der habsburgischen Machthaber, in deren Herrschaftsbereich er freiwillig lebte, und bewunderte die Briten für ihre Form der parlamentarischen Demokratie, obwohl er nicht gänzlich Demokrat war. Er glaubte an eine hierarchische, paternalistische Gesellschaft, verachtete die proletarischen Massen und erklärte rundweg: „abgeschlossen soll der Bürger vom höhern Menschen seyn.“

Was Beethovens weitere Bildung betrifft, so war er belesen, vor allem wenn man bedenkt, dass er ab dem Alter von elf Jahren keine formale Schulbildung hatte und seine familiäre Umgebung wenig bot, um sein literarisches Interesse zu bestärken. Seine lebenslange Liebe zur Poesie wurde größtenteils durch seine Landsleute genährt, besonders Goethe, Schiller, Klopstock und die weniger bekannten Wieland, Gleim, Amandus Müllner und Friederich Werner. Er war zudem ein leidenschaftlicher Verehrer Shakespeares und Homers und begeistert von den Werken Ovids, Plinius’ und Plutarchs (ein bestimmender Einfluss). Er hatte gute Bibelkenntnisse und interessierte sich in späteren Jahren für einige orientalische Schriftsteller. Zeitgenössische Literatur scheint er selten gelesen zu haben, obwohl er abermals in späteren Jahren Gefallen an Sir Walter Scotts Romanen fand. In der Philosophie fühlte er sich besonders zu Immanuel Kant hingezogen. Nach seinen Briefen und Gesprächen zu urteilen und aufgrund der Belege seiner Zeitgenossen waren ihm die bildenden Künste gleichgültig.

Beethoven als Übergangsfigur zu beschreiben, wäre eine irreführende Vereinfachung. Doch in der Musik schlug er die große Brücke von der Klassik zur Romantik. Tatsächlich war er in vielerlei Hinsicht ihr Gründer. Durch die zielstrebige Verfolgung seines künstlerischen Schicksals, wie er es sah, änderte er die Regeln. Wie kein anderer änderte er die Rolle, den Charakter und die Wahrnehmung des Künstlers in der Gesellschaft.

Ein auffallendes Merkmal der Romantik war die Heldenverehrung, vor allem wie in Schriften und Kunst der antiken griechischen und römischen Zivilisation dargestellt. Angesichts des Charakters seiner Musik (vor allem seiner mittleren Schaffensperiode) und der zahlreichen Einträge und Zitate in seinem Tagebuch bezüglich der Helden und des Heroischen gibt es keinen Zweifel, dass Beethoven sich selbst als Held im großen klassischen Kontext vorstellte. Eng mit der Heldenverehrung verbunden war der Geniekult, der im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert aufkam als Reaktion auf die Auffassung des Musikers als Handwerker – eher ein Diener als ein Meister. Sogar Haydn hatte die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens eine Dienerlivree getragen, während Mozart von einem Vertreter seines Dienstherrn, des Fürsterzbischofs von Salzburg, buchstäblich aus einem Zimmer hinausgeworfen wurde. Dass das „Genie“ in Beethovens Fall sowohl einzigartig als auch exzentrisch war, erhöhte nur seine Anziehungskraft und fachte seine eigene Vorstellungskraft an. Beethovens einzigartige Entwicklung als Komponist war wenigstens zum Teil ein Spiegelbild seiner Zeit. Die Geschichte war reif für sein Erscheinen.

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