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Kuno

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Die Familie von Kuno war einer der alteingesessenen wohlhabenden Kaufmannsfamilien in Pitburg. Sein Urgroßvater Kunibert Mayer war mit einem kleinen Fischhandel angefangen. Jetzt waren Kunos Onkel Klaus und sein Vater Karl für den Handel verantwortlich und gingen davon aus, dass ihre Söhne die Firma später übernehmen würden. Das Geschäft war gleich neben Kunos Elternhaus. Über den Geschäftsräumen wohnte sein Onkel mit seiner Familie.

Während Onkel Klaus in Pitburg die Geschäfte tätigte, kümmerte sich Kunos Vater um den Einkauf, das heißt, dass er kaum zu Hause war. Mal war er im fernen Sibirien, um Felle zu kaufen und dann wieder irgendwo in Italien oder sonst wo auf der Welt. Der Sohn von Onkel Klaus war praktisch in den Geschäftsräumen aufgewachsen. Für den zwei Jahre älteren Konstantin war es selbstverständlich, dass er seinen Vater unterstützte und er lernte fleißig wie man die Bücher und die Geschäfte führte. Eigentlich sollte das auch Kunos Weg sein, aber er fand es grauenvoll für längere Zeit in geschlossenen Räumen zu arbeiten. Als er versuchte seinem Vater zu erklären, dass er auf keinen Fall ins Geschäft einsteigen wollte, war dieser zutiefst schockiert. Nachdem der Tobsuchtsanfall des Vaters sich gelegt hatte, wurde der damals 15-jährige Kuno kurzerhand mit auf Reisen genommen.

Anders als gedacht änderte sich Kunos Einstellung aber nicht. Er empfand sich als höchst unehrenhaft, wenn er zum Beispiel ein Fell für einen Taler erwarb und das gleiche Fell später in Pitburg für 50 Taler oder noch mehr verkaufen sollte. Wenn er dann seinem Onkel oder seinem Vetter noch dabei zusah, wie sie sich windeten und so taten, als wäre das so ein niedriger Preis, dass der Käufer Schuld daran war, dass die Familie kaum genug zum Überleben hatte, dann wurde es Kuno fast übel. Auch wenn man alle Kosten für den Transport und die Lagerung und so weiter mit einrechnete, dann war der Preis für ein Fell, das im Einkauf einen Taler kostete bei fünf Talern. Der Rest war Gewinn der Kaufleute. Auf der Einkaufsreise erlebte er, wie sein Vater genau die gleichen Komödien bei den Händlern aufführte um einen möglichst niedrigen Preis bezahlen zu müssen. Kuno fand, dass sein Onkel und sein Vater wirkliche Könner in ihrem Fach waren. Die Reise beeindruckte den Jungen aber auf eine ganz andere Weise als gedacht. Auf der Seereise zur Küste Sibiriens bewunderte er das stolze Segelschiff und staunte, wie flink die Seemänner zu den Segeln hinaufkletterten. In der ersten Reisezeit durfte er seinem Vater kaum von der Seite weichen, aber nach einiger Zeit legte sich diese Überwachung und Bevormundung und Kuno erkundete das Schiff und freundete sich mit den Matrosen an. An einem Tag bescherte der Jugendliche seinem Vater fast einen Herzinfarkt, als dieser aus seiner Kajüte kam und seinen Sohn hoch oben, auf dem Weg zum Ausguck entdeckte. Zum Glück war es der letzte Tag der Reise und der Stubenarrest in der Kajüte war für einen Tag auszuhalten gewesen. Gut, dass der Vater nicht wusste, dass Kuno schon ungefähr ein Dutzend Mal dort hinaufgeklettert war. Noch heute musste Kuno manchmal daran denken und schmunzelte dabei.

Auf dieser Reise hatte Kuno viel Zeit zum Nachdenken und beobachten gehabt. Sein Entschluss stand jetzt fest, er wollte zur See fahren. Im ersten Moment und wenn er sich mal wieder mit seinem Vater gestritten hatte, dann wollte er gleich nach der Heimkehr auf dem nächsten Schiff als Matrose anheuern. Doch er war im Hafenviertel aufgewachsen und kannte die rauen Sitten der Seemänner. An Bord erlebte er aber auch die andere Seite, die harte Arbeit und Gehorsam und schlechtes eintöniges Essen bedeutete. Als ihm das Aufgefallen war, beobachtete er die Tätigkeiten des Kapitäns und der Offiziere. Es faszinierte ihn, wie die Männer anhand des Sonnenstandes, des Mondes und der Sternbilder die Position berechneten und sicher die richtige Reiseroute fanden. Danach war er sich sicher, dass es seine Bestimmung war, eines Tages auch so einen stolzen Dreimaster als Kapitän über die Weltmeere zu steuern. Aber ihm war auch bewusst, dass er das seinem Vater nicht erzählen konnte und erst recht konnte er auf keine Unterstützung von ihm hoffen.

Die Familie seiner Mutter war da ganz anders. Sie war auch eine alteingesessene Familie aus Pitburg, aber sie sind vor allem Seefahrer oder Fischer geblieben. Kunos Mutter war das einzige Mädchen zwischen 5 Brüdern. Kuno wunderte sich manchmal, wie seine Eltern sich kennen und lieben gelernt hatten. Er fand, dass es wohl kaum einen größeren Unterschied geben könnte, als die bodenständige Mutter und der etwas hochnäsige Vater. Aber vielleicht war es auch die Tatsache, dass sein Vater genauso selten wie ein Seemann zu Hause war? Die Brüder seiner Mutter waren irgendwie in der ganzen Stadt verteilt.

Am liebsten war Kuno bei seinem Onkel Wilhelm, den alle nur Willi nannten. Er war früher wohl mal als Smutje, also als Koch, zur See gefahren. Aber heute führte der Witwer mit seiner Erwachsenen Tochter direkt im Hafenbezirk eine Wirtschaft. Die Seeleute kamen vor allem wegen des guten Essens. Denn Willi wusste aus eigener Erfahrung worauf sich die Seeleute freuten, wenn sie nach monatelanger Reise endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatten. Oft gab es am Ende einer Reise nur noch eingeweichten Schiffszwieback. Wenn man dann deftige Hausmannskost bekam, dann bekamen die ausgehungerten Matrosen sehr schnell ihre gute Laune und ihre Kräfte zurück. So ein duftender Braten oder ein Gemüseeintopf konnte dann schon etwas Herrliches sein. Einigen reichte dann aber auch schon ein frisches, am besten noch ofenwarmes Brot und eine leckere Wurst dazu.

Als Kind war Kuno viel bei Onkel Willi gewesen. Er war für ihn schon fast so etwas wie ein Vaterersatz. Seine Kusine Clara war nur ein paar Monate älter als er, aber sie beschützte ihn, wie eine große Schwester. Später verschoben sich dann die Rollen und Kuno wurde Claras Beschützer.

Im Hafen war ständig viel Betrieb. Schiffe wurden beladen und fuhren nach Indien oder in die neue Welt. Andere Schiffe kamen an und brachten exotische Waren, wie z. B. Kaffee oder Tee oder Pfeffer mit. Es hockte immer eine ganze Reihe von Kindern herum, die neugierig das Treiben der Hafenarbeiter beobachteten. Einige Kinder hofften auf die Heimkehr ihrer Väter. Andere verdienten sich ein kleines Zubrot, indem sie die Kaufleute über die Ankunft ihrer Schiffe informierten. Und natürlich gab es auch genug Kinder, die das Durcheinander ausnutzen, wenn Passagiere von Bord gingen, oder mit einem Schiff mitfahren wollten. So manche Geldbörse wechselte dabei unbemerkt den Besitzer.

Viele der Kinder kannten ihre Väter nicht. Denn man konnte sagen, dass ein Seemann, der lange nur das Meer und seine Kameraden gesehen hatte, bei seinem ersten Landgang nach der Reise drei Dinge suchte. Ein gutes Essen, etwas zu Trinken und die Gesellschaft einer schönen Frau. Denn die Seemänner waren abergläubisch und sie waren der festen Überzeugung, dass Frauen an Bord Unglück brachten. So gab es in jedem Hafen Frauen, die den Seemännern gleich den hart verdienten Lohn wieder aus der Tasche zogen. Einige Kinder machten sich einen Spaß daraus. Sobald die Matrosen das Schiff verließen, fingen sie an zu hüpfen und zu springen und stürmten dann mit lautem »Vater, Vater...juhu, endlich bist du wieder da...!« ihren Opfern entgegen. Die Reaktion der Männer war in den meisten Fällen erstaunt und ablehnend. Doch wenn ein Bub oder ein Mädel es schaffte den Seemann zu umarmen, dann sollte er schnellstens überprüfen, ob er sein Geld noch hatte.

Nur ein Junge freute sich nicht, wenn sein Vater von einer langen Reise heimkam. Für Kuno bedeutete es immer eine große Einschränkung seiner Freiheit. Ansonsten führte er ein recht freies Leben. Vormittags drückte er zusammen mit seinem Vetter Konstantin die Schulbank. Im Haus seines Onkels kam dafür extra ein Privatlehrer. Nachmittags tauschte Kuno die Kleider und war mit seiner Cousine Clara im Hafen unterwegs. So kannte er sich in beiden Umgebungen gut aus. Er konnte sich als biederer Spross einer reichen Kaufmannsfamilie genauso problemlos bewegen, wie als armer Junge, bei dem man nicht wusste, ob er überhaupt Eltern hatte. Dieser Rollentausch machte ihm einen riesen Spaß. Aber gleichzeitig versuchte er auch die größte Not zu lindern, ohne dass es jemand bemerkte. Wenn ihm auffiel, dass ein Kind hungerte, so kam es manchmal vor, dass er sich dann mit diesem Kind zusammentat und Essen organisierte. Dabei steckte er dem Verkäufer ganz unauffällig das Geld zu und benahm sich dann trotzdem so, als ob er das Brot oder etwas Anderes gestohlen hätte. Zu seinem Glück kannten die Händler bald seine Tricks und spielten mit.

Aber nach der Schiffsreise mit seinem Vater konnte er sein altes Leben in der gewohnten Form nicht wiederaufnehmen. Zwangsweise musste er im Kontor seines Onkels bei der Buchhaltung helfen. Schon bald hatte er aber gemerkt, dass er nicht nur einen Widerwillen gegen diese Tätigkeiten hatte, sondern er merkte auch eine Art Feindschaft. Offenbar war es seinem Onkel Klaus und seinem Vetter Konstantin auch nicht recht, dass er in ihrem Kontor hockte. Die kleinsten Fehler die Kuno unterliefen wurden sofort vom Onkel mit Stockhieben bestraft. Bald schon entdeckte Kuno zu seinem Entsetzen auch noch, dass sein Vetter absichtlich Fehler machte, um ihm die Schuld daran zu geben und er beobachtete, dass Konstantin es freute, wenn Kuno Hiebe bekam.

Kuno suchte verzweifelt nach einem Ausweg aus dieser Situation, als ihm ein Zufall den Weg zeigte. Zufällig war seine Tante Geraldine im Kontor aufgetaucht, als Kuno sich verschluckte und einen fürchterlichen Hustenanfall bekam. Seine Tante war eine außerordentlich besorgte Person. Bei dem kleinsten Anzeichen von Krankheit befürchtete sie sofort das Schlimmste und war selbst häufig leidend. Um ihre empfindliche Natur zu schonen war sie häufig bei ihrer Schwester auf dem Land. Erwartungsgemäß bekam sie fast einen hysterischen Anfall, als sie sah, wie Kuno hustete. Sie schimpfte ihren Mann aus, dass der arme Junge nicht so lange in den staubigen Räumen sitzen sollte und bestand darauf, dass er sofort Feierabend machen sollte um sich auszuruhen. Natürlich verschlimmerte sich Kunos 'Husten' dadurch nur noch und wurde immer häufiger.

Eines Tages legte ein Schiff im Hafen an, dass eigentlich Ware für das Geschäftshaus Mayer bringen sollte. Der Kapitän erschien aber mit mehreren Verbänden im Kontor und erklärte, dass er von Piraten überfallen worden war. Onkel Klaus bekam einen Tobsuchtsanfall und schrie dem Kapitän an, dass er ein unfähiger Wicht wäre und es seine Pflicht gewesen wäre, die Ware mit seinem Leben zu verteidigen. Am Abend brachte dieser Vorfall Kuno wieder in Erinnerung, dass er ja eigentlich Kapitän werden wollte. Er nahm allen Mut zusammen und erzählte der Haushälterin Magda von seinen Wünschen und Träumen. Magda war nicht nur eine Haushälterin, sondern auch so etwas wie die gute Seele des Hauses. Zu ihr konnte Kuno mit all seinen großen und kleinen Problemen kommen. In diesem Fall allerdings nahm sie den jungen Mann kurzerhand an die Hand und ging mit ihm hinauf zu seiner Mutter. Kunos Vater war vor kurzem erst zu einer besonders langen Reise in die neue Welt aufgebrochen. Man rechnete damit, dass er in etwa zwei oder drei Jahren zurück sein würde.

Zu Kunos großem Erstaunen unterstützte seine Mutter nach einiger Überzeugungsarbeit seine Pläne und bezahlte sogar die Seefahrtschule. Nach dem Überfall auf das Schiff stimmte sogar sein Onkel zu, dass Kuno nicht mehr ins Kontor kam, aber bei der Finanzierung der Ausbildung wollte er nicht helfen. Ein Familienmitglied, das sich bald an der Jagd nach den elenden Piraten beteiligte, war schließlich auch nicht verkehrt.

Kuno wusste lange nicht, woher seine Mutter das Geld hatte. Erst als er seiner Cousine Clara einmal bei der Buchhaltung der Gastwirtschaft half durchschaute er die Sache. Sein Vater kaufte in Spanien ein Fass mit Rotwein für 10 Taler. Das sollte Onkel Klaus dann eigentlich für 20 Taler in Pitburg verkaufen. Aber er überließ das Fass Kunos Mutter für den Vorzugspreis von 25 Talern. Diese verkaufte das Fass an ihren Bruder Willi für 30 Taler. Erst dachte Kuno, dass es ja wohl nicht anginge, dass selbst seine Mutter ihren Bruder keinen ehrlichen Preis berechnete. Dann kam er aber dahinter, dass in einem Fass 100 Liter Wein waren. Onkel Willi schenkte es in Karaffen von einem halben Liter für 25 Pfennige aus. Also ein Liter für einen halben Taler. Das machte für das ganze Fass 50 Taler. Also nochmal ganze 20 Taler mehr, als er für den Einkauf bei seiner Schwester ausgeben musste. Und zudem beobachtete Kuno erstaunt, dass sein Onkel den Wein gelegentlich auch noch etwas verlängerte. Hatte er Kundschaft, bei der er schon wusste, dass sie keine Ahnung hatten, tat er gleich ein Drittel Wasser hinein. Bei Kunden, die sich auskannten, aber mehr tranken, bekamen sie ab der dritten Karaffe nur noch verdünnten Wein. Kuno konnte da nur noch mit dem Kopf schütteln und wollte von den ganzen Machenschaften lieber nichts mehr wissen und war froh, dass seine Mutter ihm die Seefahrtschule finanzierte. Denn ihm war schon bewusst, dass er eine privilegierte Position hatte, da der durchschnittliche Monatslohn eines Hafenarbeiters meistens bei 5 Talern lag.

Die Hafenkinder von Pitburg

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