Читать книгу Die Hafenkinder von Pitburg - Jessica H. Weber - Страница 6

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Kuno hatte Lotte mit gutem Gewissen bei Magda in der Küche gelassen. Dass sie eigentlich Lieselotte hieß, wusste er ja nicht. Pflichtbewusst hatte er sich bei seiner Mutter gemeldet und sie hatte allgemein über den Tag gesprochen. Sein neuestes 'Mitbringsel' hatte Kuno dabei aber sicherheitshalber nicht erwähnt. Seine Mutter und Magda waren da schon einiges von ihm gewohnt gewesen, obwohl das letzte Mal schon eine ganze Weile her war. Aber Wuffi, der dreibeinige Hund, lebte genauso wie Tapsi, die blinde Katze, immer noch bei ihnen, auch wenn sie langsam alt wurden. Kuno hatte beide Tiere irgendwann einmal aus dem Hafenbecken gefischt und gesund gepflegt. Er hatte einfach ein weiches Herz und konnte weder Kinder noch Tiere leiden sehen. Als Kind hatte sich Kuno einmal vorgestellt, dass er ein edler Ritter wäre, der edle Taten vollbrachte und Jungfrauen aus den Klauen gefährlicher Drachen befreite. Nur dass ihm bislang noch kein Drache und auch kein edles Burgfräulein über den Weg gelaufen waren.

Nur jetzt saß dort unten dieses Mädchen. Kuno ließ sich der Länge nach auf sein Bett fallen. Was war ihm eigentlich eingefallen, dass er sie gleich mit nach Hause genommen hatte? Sie gehörte in keine seiner zwei Welten und wirkte völlig fehl am Platz. Sie war weder eine Tochter aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, noch kam sie aus dem Arbeiterviertel. Allein schon durch ihre Kleidung sah man, dass sie von einem Bauernhof stammte. Es ging ihn doch überhaupt nichts an, warum sie so Hals über Kopf einem Bauernlümmel hinterherlief. Na gut, ob er ein Bauernlümmel ist, dass weiß ich ja noch gar nicht, aber irgendwas wird er ja wohl angestellt haben, dass Lotte ihm folgte und er nicht an seinem Ziel angekommen war, dachte Kuno. Wahrscheinlich sitzt er in der ersten Kneipe, die am Wegesrand liegt und vertrinkt sein gesamtes Erbe, mutmaßte Kuno weiter. »Hmm, was mach ich jetzt?«, überlegte er weiter, »Wie hieß er noch gleich? Frank? Na gut, ich ziehe mich um, und dann frage ich einmal in der Poststation und notfalls noch in ein paar Kneipen. Mal sehen, ob ich den Kerl finde. Ob ich Lotte dann zu ihm bringe, kann ich mir ja dann immer noch überlegen. Ich glaube ja, dass sie viel zu gut für ihn ist.“ Geschwind zog er seine Marineuniform aus und hängte sie sorgfältig in den Schrank. Danach kramte er eine alte Wollhose, einen Pullover und eine löchrige Jacke aus einer Ecke und auch die Schuhe hatten schon bessere Tage gesehen. Die Haare, die vorher genauestens gekämmt und gescheitelt waren wurden wild durcheinander gewuschelt und eine Mütze aufgesetzt. Schon würde selbst seine Mutter ihn nicht von einem jungen Hafenarbeiter oder einem Matrosen auf Landgang unterscheiden können.

»Wie sieht der Kerl überhaupt aus?«, fragte sich Kuno, »Sollte ich Lotte mitnehmen? Nein, sie sah vorhin so müde und geschafft aus.« Er ging noch mal zu seinem Schrank und holte aus der Tasche seiner Uniformjacke einen Strohhalm. Gedankenverloren besah er sich sein Beutestück. Er hatte es Lotte unauffällig aus den Haaren gezogen. »Entweder kam sie direkt von der Ernte oder sie hatte die letzte Nacht in einem Stall verbracht. Wobei das wohl wahrscheinlicher war.«, mutmaßte Kuno, »So wie ich Magda kenne, hat sie Lotte bestimmt im kleinen Dienstbotenzimmer ins Bett geschickt.«

Also schlich Kuno sich noch eine Etage hinauf. Direkt unter dem Dach war eine kleine Kammer für Dienstboten. Sie war nur klein und schlicht, aber bestimmt hundert Mal besser als ein Bett in einem Stall. Vorsichtig klopfte Kuno an und trat nach einem vorsichtig fragenden »Ja, bitte?« ein. Wie Kuno vermutet hatte lag Lotte schon im Bett und war kurz vorm Einschlafen. Erschrocken zog sie die Bettdecke bis zum Kinn und setzte sich auf. »Psst, keine Angst, ich bin es nur«, flüsterte Kuno, im Bewusstsein das er sicherlich der Letzte wäre, der die Kammer eines Mädchens betreten sollte, wenn sie schon im Bett liegt. »Lotte, sag mal, wie sieht Dein Bruder Frank eigentlich aus? Ich will mich draußen noch ein wenig umhören. Vielleicht hat ihn ja jemand gesehen.«, meinte er optimistisch. »Hmm, na ja, ungefähr genau so groß wie Du, aber strohblonde Haare und sehr auffällige hellblaue Augen. Fast so ein Himmelblau, wenn die Sonne scheint.«, erklärte Lieselotte. »Na gut, dann versuche ich mal mein Glück, schlaf gut, Lotte.«, meinte Kuno und wollte schon gehen. »Soll ich Dich nicht begleiten?«, fragte Lieselotte nach. »Nein, ich gehe in ein paar Ecken, da sollte sich ein anständiges Mädchen abends nicht hinbegeben und die Bekannten würden mir dann wohl auch nichts mehr erzählen.«, gab Kuno zu bedenken. Dabei dachte er, dass ein anständiges Mädchen auch tagsüber nicht dorthin gehen sollte.

Geschwind verließ Kuno das Haus und ging zur Poststation. Zur Poststation gehörte auch eine Wirtschaft, die auch einige Gästezimmer anbot. Dort konnten Reisende, die auf eine passende Kutsche warteten oder auf der Durchreise waren, sich einige Tage aufhalten. Zu Kunos Erstaunen konnte sich der Wirt an Frank erinnern. »Ja, da war vor drei Tagen so ein gut aussehender Bursche dabei. Der schien mit sich und der Welt sehr zufrieden zu sein. Er hatte immer ein Lächeln im Gesicht und hat allen Mädchen schönen Augen gemacht. Ich glaub, dass der es faustdick hinter den Ohren hat. Ich war bei meiner Schwester zu Besuch gewesen und bin selbst mit der Kutsche nach Hause gekommen. Ach ja, ich glaube er hatte etwas davon erzählt, dass er zur See fahren wollte.«, erzählte der Wirt freimütig und gut gelaunt und polierte dabei ein paar Gläser, »und möchtest Du jetzt auch ein Bier?«, fragte er Kuno noch. »Nein, heute nicht, Basti, ich muss erst diesen Kerl finden.«, erwiderte Kuno und war schon wieder durch die Tür. Auch das noch, dachte Kuno, so ein Schönling, der alle Mädchen um den kleinen Finger wickeln kann. Die kann ich ja überhaupt nicht ausstehen. Hat Lotte denn nicht bemerkt, mit einem Burschen sie sich da eingelassen hat? Also bis nach Pitburg hatte er es geschafft, nur wohin ist er dann verschwunden? Ach ich frage mal bei Onkel Willi im ‘Zum Goldenen Anker’ nach.

In der Gaststube seines Onkels war noch nicht viel los. Erstaunt stellte Kuno fest, dass seine Cousine Clara in einer Ecke bei einem Gast am Tisch saß. Aber der Gesuchte war es nicht, denn er war wohl etwas älter als 18 Jahre und hatte dunkles Haar. Als Clara auf Kuno aufmerksam wurde, da winkte sie ihn zu sich. »Beschreib doch noch mal, wen Du suchst«, bat sie den Unbekannten. »Also ich suche meine Schwester Lieschen, sie ist etwa so groß, hat Zöpfe und trägt ein blaues Kleid. Ach ja, und hat dunkelblondes Haar.«, meinte er und zeigte bei der Größe etwas über seinem Bauchnabel an. Kuno schüttelte den Kopf, »Nein, das Mädchen ist mir nicht aufgefallen.«, meinte er. Seine Lotte konnte damit nicht gemeint sein. Sie war eindeutig größer, hatte dunkelbraune Haare, die zu einem Haarkranz geflochten waren und trug einen graubraunen Rock, mit einer etwas verblichenen grünen Bluse und eine beige Schürze darüber. Der junge Mann hatte auch eher ein kleines Mädchen beschrieben und Lotte wirkte da schon eher erwachsen, auch wenn sie noch recht jung war.

Jetzt holte sich Kuno bei seinem Onkel am Tresen doch erst mal ein Bier und musste feststellen, dass weder sein Onkel, noch die anderen Gäste Frank kennen gelernt hatten. Unauffällig beobachtete Kuno jetzt Clara und den Unbekannten. Irgendwie wirkte es so, als ob die Zwei sich schon ewig kennen würden. Kuno setzte sich an einen benachbarten Tisch. Dabei setzte er sich möglichst dicht heran, aber mit dem Rücken zu den Beiden und versuchte heraus zu bekommen, worüber die Zwei sprachen. »Gibt es den einen Grund, warum Deine Schwester so plötzlich verschwunden ist?«, fragte Clara. »Nein, eigentlich nicht«, meinte der Unbekannte. »Ich heiße übrigens Berthold, aber meine Freunde nennen mich Berti.« »Und ich bin Clara, und meine Freunde nennen mich Clara.«, meinte Clara und kicherte dabei etwas. Seit wann kichert Clara denn so albern? dachte Kuno und wunderte sich.

»Vater hat einen Bräutigam für das Lieschen gefunden. Das ist doch keinen Grund wegzulaufen.«, meinte Berthold. »Wen soll sie den heiraten?«, fragte Clara nach. »Beim Bauern Onno Eckholz ist die Frau bei der Geburt des vierten Kindes gestorben und jetzt hat er eben 4 kleine Kinder und seine alte Mutter ist damit überfordert.«, erwiderte er. »Na, und da wunderst Du Dich, dass deine Schwester wegläuft? Wie alt ist sie denn überhaupt?«, fragte sie nach. »Hmm, ich weiß nicht«, meinte Berthold und kratzte sich am Hinterkopf, »Na ja, vielleicht so 15, oder so...Du musst wissen, dass ich jede Menge kleinerer Geschwister habe, da verliert man leicht den Überblick. Hast Du denn gar keine Geschwister?« »Nein, meine Mutter ist leider schon früh gestorben, aber zurück zu Deiner Schwester, meinst Du, dass es ihr gefallen würde, einen doppelt so alten Mann mit 4 kleinen Kindern zu heiraten, die nicht Ihre sind?«, hakte Clara nach. »Darüber habe ich nicht nachgedacht. Was die Eltern beschließen, das muss man doch tun. Und sie kann ja noch genug eigene Kinder dazu bekommen und sie wäre versorgt.«, meinte er. »Aber was ist mit Liebe, und Romantik und so?«, fragte Clara verwundert. »Hmm, meinst Du, das ist so wichtig? Weißt Du eigentlich, dass Du wunderschöne Augen hast?«, fragte der junge Mann. »Hey, was wird das denn jetzt?«, fragte sich Kuno in Gedanken. Er überlegte sich schon, ob er seine Cousine vor dem Burschen retten sollte. Allerdings wirkte er ganz schön stämmig und kräftig und komischerweise sah Clara nicht so aus, als ob sie gerettet werden wollte.

Trotzdem straffte sich Kuno gerade, um dem Kerl seine Meinung zu sagen, als die Tür aufflog und ein aufgebrachter Mann hereinkam. »Hey Willi«, rief der Mann, »hast Du Kapitän Lebertran gesehen? Der Gauner ist bei mir die Zeche schuldig geblieben.« Kuno hatte gar nicht bemerkt, wie voll die Gaststube inzwischen geworden war. Jetzt wurde es richtig laut. Alle lachten und redeten durcheinander. »Hans, da hast Du Pech, der hat sich heute Morgen mit seiner Rosalinde aus dem Hafen geschlichen.«, rief jetzt irgendjemand. Der Wirt, der mit Hans angesprochen wurde fluchte jetzt laut, »Der Mistkerl und zwei seiner Kumpane haben sich für zwei Wochen bei mir Zimmer gemietet und gut gespeist und getrunken. Die Zimmer kann ich jetzt bestimmt mindestens einen Monat nicht vermieten, so stinken die nach Lebertran. Da wird einem doch gleich übel.« Lautes Gelächter war da die Reaktion, und viele hatten wohl schon ähnliche Erfahrungen gemacht. »Der hat sich gestern Abend ein halbes Dutzend Frischlinge im Keller geschnappt und weg ist er! Ha, ha, ha«, rief da jemand.

Da wurde Kuno wieder aufmerksam. Er war zwar gerade aufgestanden, um zu sehen, wo Clara mit dem Fremden abgeblieben war, aber jetzt suchte er erst einmal den letzten Rufer auf. Bald stellte sich heraus, dass es ein Freund von ihm war. »Hallo Uwe, Du warst gestern im Keller?«, fragte Kuno betont nebensächlich. »Ja, da ist das Publikum meistens jünger als hier und gestern waren da eine ganze Reihe von Landeiern, die heute eigentlich zur Seefahrtschule wollten. Tja, da fehlten wohl heute so einige, die alten Seebären haben sich da kräftig bedient. Da wurden bestimmt zwanzig Burschen schanghait. Und bestimmt noch mehr wurden um ihre Ersparnisse gebracht.« »Oh, oh, die Ärmsten, da hast Du ja Glück, dass sie Dich nicht auch gleich mitgenommen haben.«, meinte Kuno leutselig. »Ach Du, das kenne ich schon, das ist immer wieder das gleiche. Die Kapitäne scheinen Informanten zu haben, wann viele junge Burschen in die Stadt kommen. Aber unter uns, ich war da, weil die Kneipe meinem Onkel gehört und ich hinten beim Spülen helfe. Da lasse ich mich an so einem Abend lieber nicht vorne sehen. Die haben vielleicht gefeiert, ich glaub, die hätten zum Schluss ihre eigene Oma verkauft. Die Jungs, die Kapitän Lebertran mitgenommen hat, die konnten alle nicht mehr alleine stehen, hihi...«, erklärte Uwe. »Hmm, Kapitän Lebertran, das war doch der Walfänger, oder?«, fragte Kuno und Uwe nickte nur, »Klar, da geht schon mal einer über Bord, wenn sie die Wale jagen, deshalb braucht er eben regelmäßig Nachschub. Und aus dem Wal Tran wird doch Lebertran und ähnliches gemacht, um die Kinderlein zu quälen.« »Sag mal, war da auch ein Bursche dabei, der ein auffälliger Blondschopf und Strahlemann war, so in unserem Alter ungefähr?«, fragte Kuno und versuchte, wieder möglichst nebensächlich zu klingen. »Vermisst Du den Burschen?«, fragte Uwe augenzwinkernd, »Ja, ich glaub so einer war dabei.« »Mist, dann kann ich mein Geld ja auch vergessen, ich habe mit dem Kerl vorgestern gewürfelt und ihn ganz schön ausgenommen, so dass er bei mir in der Kreide steht. Aber wenigstens schnappt der Schönling uns die hübschen Mädchen nicht mehr weg.«, meinte Kuno und knuffte Uwe freundschaftlich in die Seite und beide lachten schadenfroh. »Na ja, in der Regel kommt Kapitän Lebertran in zwei Monaten wieder, wenn der Walfang erfolgreich war. Und dann bekommen seine Mannschaft und er auch jede Menge Geld.«, meinte Uwe leichthin.

Jetzt wusste Kuno wo Lottes angeblicher Bruder geblieben war. Mal sehen, was das Mädchen dazu sagte. Die große Hafenstadt war eben nicht nur für junge Mädchen ein gefährliches Pflaster. Hoffentlich fiel ihr noch eine Besonderheit zu ihrem Heimatdorf Neudorf ein. In der Poststation konnte ihm der Wirt auch nicht weiterhelfen. An der Strecke, die Frank mitgefahren war, lagen wohl schon etwa 5 Dörfer mit diesem Namen.

Die Hafenkinder von Pitburg

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