Читать книгу Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang - Johann Gottfried Herder, Christian Friedrich Hebbel - Страница 175

III.

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Inhaltsverzeichnis

Von Worten fange ich die Ehrbarkeit nicht an; sondern von Gedanken; und von welchen? Ich sehe, daß Hr. Kl. mich in zu tiefe Gelehrsamkeit, in zu bunte Philosophie führe; ich will lieber auf dem ebnen Stege der Natur bleiben. Nur gebe die Göttin, deren Wesen ich untersuche, daß, indem ichs untersuche, ich nicht selbst ihren Altar entweihe!

Zuerst: womit ist die Schaamhaftigkeit natürlicher gesellet, als mit den Neigungen der Liebe? Der Liebe ward sie von der Natur, als Schwester, als Gesellin, als Aufseherin, mitgegeben, an deren Hand sie auch die Würkungen, die Macht, die Reize derselben so sehr befördert. Nichts ziert die Liebesgöttin so sehr, als die Farbe der Unschuld, sanfte Schaamröthe, die in sich geschmiegete Mine der bescheidenen Einfalt. Wenn also unter allen Tugenden Eine das Anrecht hätte, in der Allegorie als ein Frauenzimmer vorgestellt zu werden: so ist die Schaamhaftigkeit dazu die Erste. Sie ist der Reiz der Liebe, und die Tugend des Geschlechts, das die Natur zum liebenswürdigen Theile der Menschheit bestimmte: sie also eine weibliche Tugend. Ein Weib ohne Zucht, sagt das Arabische Sprüchwort, ist eine Speise ohne Salz: und noch füglicher könnte dies Sprüchwort von der Liebe selbst gelten. Eine Liebe ohne Scham ist nicht Liebe mehr: sie ist Ekel. Nichts ekelhafters in der Welt, als eine förmliche Exposition der Liebe.

Wenn dies in der Natur, bei einer so nothwendigen, und für das Menschliche Geschlecht unentbehrlichen Neigung, Statt findet: wie weit mehr in Worten! in Worten an die Welt und Nachwelt! in Worten, zum Vergnügen! Alle Empfindungen des Vergnügens zerfließen bei einem Schaamlosen Bilde; sie verwandeln sich in Ekel! Homer, in seiner Beschreibung der zweiten Brautnacht1 zwischen Jupiter und Juno, mag alle Annehmlichkeiten, die sich vor Augen legen lassen, zeigen: die hohe Gestalt, den Schmuck, die Pracht der Königin des Himmels: alle Gratien und Reize inm Gürtel der Venus: alle Empfindungen der Liebe, und des Verlangens im Herzen Jupiters – aber nun? decke sie die himmlische Wolke! Da liegt sie in den Armen des höchsten Gottes, und unter ihnen blühen Kräuter und Blumen aus dem Schooße der Erde hervor; das himmlische Paar selbst aber umschatte die goldne Wolke, daß selbst die allsehende Sonne sie nicht erblicke! – So dichtet Homer; und ich sehe keinen Weg, weiter zu dichten, als die artigen Zweideutigkeiten, von denen er nichts weiß – –

Zunächst äußert sich die Naturempfindung, von der ich rede, in Nennung der verborgenen Theile unsres Körpers, die unsre Sprache, zum Theile, schon mit dem Namen der Tugend selbst bezeichnet. Ich sage: zunächst; aber absteigend zunächst; denn es ist unstreitig, daß diese Gattung von Schaamhaftigkeit nicht schon allein von der Natur, sondern auch von der Politesse, Gesetze erhält. In einem Wörterbuche, in einer Naturlehre mag dieses und jenes Wort recht gelegentlich und schaamlos stehen; nur aber nicht so gelegentlich in offenbarer Rede, in Schriften, wo es nicht hin gehören muß, in Werken des Vergnügens, und der Gesellschaft. Seit dem Kleider die Hüllen der Schönheit und Häßlichkeit geworden: seit dem haben auch einige Namen, gleichsam verdeckt, selten werden müssen; und, mit der Zeit, sind sie gar unsichtbar geworden. Mit dem Unterschiede, daß, wo sie unsichtbar seyn konnten, weil sie nicht genannt werden dorften: da war ihr Verschwinden eine Folge einer Naturempfindung; wo sie aber genannt werden müssen, und doch nicht genannt werden dorften; da war ihre Unehrbarkeit eine gesellschaftliche Verabredung; ein Vertrag der höchsten Politesse.

Noch offenbarer sind andre Verabredungen, die immer heißen könnten, wie sie wollten; nur Naturempfindungen der Schaamhaftigkeit sollten sie eigentlich nicht heißen. Dies sind alle Beleidigungen des gesellschaftlichen Wohlstandes, wo man eine Art von Verweise befürchtet, oder sich selbst giebt. Ein Kind hält seine Kleider schmutzig, seine Strümpfe nachläßig, seine Haare unordentlich. »Schäme dich!« ist der allgemeine Zuruf der Mutter; und das Kind, insonderheit das Mädchen, lernt sich im Ernste schämen. Es lernt, sich schämen, und mußte es lernen: denn, als Naturempfindung, lag solche Schaam nicht in ihm. Sie lernte sie blos aus dem Worte: von da stieg sie ins Ohr, in die Seele, und zur Gesellschaft auch auf die Wangen: mit dem Worte ward endlich auch der Begriff, mit dem Begriffe die Empfindung selbst geläufig. An sich immer ein gesellschaftlich nothwendiger Begriff, eine gesellschaftlich vortrefliche Empfindung; nur nenne man sie immer lieber ein erworbnes Gefühl des geselligen Anstandes; oder soll sie ja Schaam heißen, so mag man sie, als eine gesellschaftlich formirte Schaamempfindung, betrachten, mit dem Gefühle in uns, so wie es aus den Händen der Natur kam, eigentlich nicht Einerlei.

Unser Sprachgebrauch, und, was noch ärger ist, unsre gemeine Erziehung verwechselt sie: man lernt, sich von Jugend auf über eine widrige Wahl der Kleidungsfarben, über unmodische Stücke des Anputzes, über misrathne Komplimente schämen, bis zur Röthe schämen, sich schämen, als ob uns die Steine auszulachen schienen; aber wie lange hat man schon die Kunst in die Stelle der Natur gesetzt, und Menschliche Verabredungen zu Naturtrieben erhoben? Wie lange aber, frage ich weiter, hat es nicht auch halbkluge Spötter gegeben, die, da sie Etwas in solchen Sachen Menschlich verabredet, gesellschaftlich eingerichtet fanden; endlich alles im Menschen für Menschlich verabredet, für willkürlich eingepflanzet, hielten. Sie bestürmten also auch die heiligen Gesetze der Natur: sie entweiheten also auch den Altar der liebenswürdigsten Tugend Schaamhaftigkeit: ja sie, die frechsten Cyniker, und der Pöbel der Epikureer baueten endlich der Unverschämtheit selbst Altäre. Wenn die Vermischung des Angenommenen mit dem Natürlichen in dieser Empfindung also weit abführen kann: ich dächte, so könnte doch der Philosoph frei unterscheiden dörfen, und das Gesetz des Aristoteles anwenden: den Jünglingen macht Schaamhaftigkeit Ehre, den lehrenden Alten aber Schande. Ich fahre also fort.

Die künstliche gesellschaftliche Schaamhaftigkeit kann sich verschieden äußern: in der Sorgfalt, seinen Körper zu produciren: »Reinlichkeit, Anstand, u.s.w.,« in hundert Gebärden, Worten, Stellungen, Thaten, die, als artig, als schön, verabredet sind: da wollen wir sie »Anständigkeiten, Artigkeiten« nennen: gnug! sie sind gesellschaftlich gebildet. Die Empfindung darüber stieg nicht aus dem Herzen auf die Wangen, sondern erst aus eingepflanzten Begriffen ins Herz hinein: sie richtet sich also nach diesen eingepflanzten Begriffen. Da sie von der Kunst, man nenne diese Erziehung, oder Lebensart, oder Stuffe der Cultur, oder Geschmack, sich zu betragen, oder Politesse, oder Galanterie, oder, wie man wolle – Ich sage, da sie von der Kunst einer Gesellschaft Gesetze empfängt, so hat sie sich auch immer nach der Beschaffenheit, nach dem Tone der Gesellschaft, nach Zeitalter, Nation, u.s.w. gestimmet. Sie ist ein Kind der Mode, und also veränderlich, wie der Geist ihrer Mutter. Jetzt wird sie in dieser Kleidertracht, in diesem Ausdrucke, in dieser Stellung beschämt, in welcher sie kurz voraus nicht beschämt ward, und bald hernach nicht mehr beschämt seyn wird. In dieser Gesellschaft wird die Deutsche Sprache, in jener die Deutsche Ehrlichkeit, in dieser der Französische Wind, in jener die Französische Sprache, Wechselsweise lächerlich und beschämend, oder anständig. Wer sich in solchen Sachen mit Anständigkeiten brüsten kann, wird sich auch über solche Unanständigkeiten beschämen lassen. Die Schaam ist hier ein Geschöpf des Wahns der Menschen, und muß sich also durchaus nach ihrem Schöpfer richten.

Ich habe mir noch eine Unterscheidung nöthig. Wie diese gesellschaftlich formirte Schaam nicht eigentlich ein Geschöpf der Natur ist; so ist sie auch nicht nothwendig mit Tugend einerlei: sie ist von der Moralischen Schaam völlig verschieden. Als jener Spötter vom Parterre herauf rief: »An diesen Damen ist nichts so keusch, als die Ohren!« so mag man ihn immer unverschämt, sündigend gegen die Gesetze des gesellschaftlichen Anstandes haben erkennen können: so unwahr, so gerade gegen Moralische Schaamhaftigkeit redete er eben nicht. Wenn man ihn gefragt hätte: wie? Unverschämter! muß denn an einer Dame das Ohr nicht keusch seyn? und das der Anständigkeit wegen! so hätte er erwiedern dörfen: und, eben der Anständigkeit wegen, darf da an eben derselben Dame wohl nothwendig Alles so keusch seyn, als das Ohr? – Nicht, als wenn es nicht seyn könnte, sondern seyn müßte: als wenn die Bürgerliche, schon die Moralische Schaamhaftigkeit wäre, und das ist sie nicht! Die Moralische Schaamhaftigkeit vor Einem Laster, als Laster, ist ganz etwas Anders!

Oft scheinen sie sich nahe zu kommen; aber oft zu nahe, so, daß die Eine die Andre unnöthig zu machen glaubt. Da die Politische Tugend oft als der Schein der wahren Tugend gilt: so läßt man sich oft mit dem Scheine begnügen, und natürlich, daß man alsdenn um so mehr auf den Schein erpicht seyn wirb, je weniger man das Wesen hat. Wer mit gefärbtem Glase, wie mit Edelgesteinen, prangen darf, wird diese um so mehr aufputzen, sie um so mehr zur Schau stellen, und wehe dem! der alsdenn nicht auch gefärbtes Glas hat. Je weniger man vielleicht eine Tugend inne hat, desto mehr wird man sich vielleicht im Kanzleistyle dieser Tugend üben: je unzüchtiger man denkt, desto mehr vielleicht die Keuschheit seines Ohrs schonen, desto ekler, desto wähliger und üppiger in der Wortwürde werden; desto eher nach Zweideutigkeiten haschen. Wer diese am besten kennet, wer diese in einer Gesellschaft zuerst, und vielleicht einzig und allein, aufmerkt, und darüber anständig erröthet, und artig darüber in Unwillen geräth – artig, freilich artig und anständig ist dieser schaamhafte Unwille, ob aber auch deßwegen wirklich und nothwendig, eine Schaamröthe der unwissenden Unschuld, der unwilligen Tugend? Nicht nothwendig!

Ich habe blos den Unterschied der Begriffe, zwischen Naturempfindung, gesellschaftlicher und Moralischer Schaam entwickelt; und verhülle, wie Sokrates, da er von der Liebe dithyrambisirte, mein Gesicht, um keiner von dreien zu nahe zu treten. Nur eben aus Verehrung will ich die Naturempfindung nicht mit Coquetterie, und die schönste der Tugenden nicht mit ihrer Nachäfferin, der unzüchtigen Ehrbarkeitspedantin verwechselt haben. Vielleicht sind Leser, die auch die Erste von dreien für einen Gesellschaftstrieb halten, denen wiederspreche ich nicht; sie ist aber alsdenn wenigstens ein Zögling der Menschlichen, nicht blos Bürgerlichen, nicht blos artigen Gesellschaft: sie ist näher unsrer Natur; und das nur habe ich sagen wollen.

1 Iliad. Ξ v. 346.

Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang

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