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Wahre Freunde

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Seit zwei Wochen wartete David Engel nun schon in der Villa am See auf eine Nachricht von seinem ältesten und besten Freund Gabriel Lavant. Er hatte ihm sofort nach Erhalt des Briefes vom Amtsgericht eine Speichelprobe nach Den Haag geschickt. Als Chef der forensischen Pathologie im Dienst des europäischen Gerichtshofs verfügte Lavant über die besten Möglichkeiten für eine genetische Klärung des unsäglichen Vorfalls.

Wie jeden Tag nahm David Engel gegen acht Uhr morgens als erstes unten in der Küche bei Frau Borgmann das Frühstück ein, obwohl sie immer im Speisezimmer für ihn eindeckte.

„Wenn Sie schon nicht mit ihrer Frau Mutter frühstücken wollen, so leisten sie ihr doch wenigstens etwas Gesellschaft. Wo sie so selten da sind, Herr David.“

„Bekommt sie denn so wenig Besuch?“ fragte David erstaunt und griff gleichzeitig nach einem der frisch gewaschenen Radieschen, die die Haushälterin gerade geputzt hatte.

„Wie man’s nimmt. Die Herrschaften eben, die schon seit Jahren kommen. Der Monsignore aus Rom, der Anwalt aus München, dem ein Bein und ein Arm fehlt. Nicht zu vergessen der ehemalige Staatssekretär aus Bonn. Ja, und neuerdings ein blinder Pfarrer, der hier irgendwo in der Nähe eine kleine Berggemeinde übernommen hat. Das halbe Gesicht verätzt, grauselig, sage ich ihnen. Einmal nur habe ich ihn gesehen. An meinem freien Tag, weil ich im Haus was vergessen hatte.“

David schaute auf die große antike Küchenuhr aus Porzellan, deren metallene Zeiger kurz vor neun Uhr anzeigten, und stand auf. Frau Borgmann schob die Schüssel mit den Radieschen beiseite, hob die Wachstuchdecke hoch und öffnete die kleine Tischschublade, in der sich allerlei Krimskrams befand.

Bevor David sich verabschieden konnte, fiel sein Blick in die Holzlade. Zwischen Küchengarn, Streichhölzern, einer kleinen Metalldose, allerlei Zetteln und Einkaufbons, lag ein Amulett, ähnlich dem aus dem Taxi, das ihn vom Flughafen hierher gebracht hatte.

Frau Borgmann öffnete die kleine Metalldose, entnahm ihr einen Geldschein und bat David, etwas für sie aus dem Trachtengeschäft im Ort mitzubringen. Eine kleine Kette mit Zwischengliedern aus Kuhhorn für eine alte Freundin in Hamburg, die nächste Woche Geburtstag hatte.

Als die Haushälterin die Schublade wieder schloss und das Wachstuch darüber legte, befand sich das Amulett längst in Davids Hosentasche.

Um schneller ins Dorf zu gelangen, nutzte David die Abkürzung am See entlang, die ihn auch am Nachbargrundstück vorbeiführte. Er schaute zum Haus hinauf. Überall waren die Fensterläden geschlossen. Johanna war vor zwei Wochen, ohne ein weiteres Wort mit ihm gewechselt zu haben, mit ihrem Sohn zurück in die Stadt gefahren.

David war es im Grunde egal. Natürlich hatte er darüber nachgedacht, warum Johanna etwas behauptete, von dem sie genau wusste, dass es nicht stimmte. Ein Motiv oder gar eine Erklärung hatte er bis heute nicht gefunden. Wenn Johannas Großvater, der Gerichtspräsident Kranz, noch leben würde, gäbe es vielleicht ein Motiv. Aber der hatte sich vor mehr als dreißig Jahren draußen auf dem See in der Kajüte seines Segelbootes erschossen. David hatte Zeitungsausschnitte im Archiv seines Vaters gefunden. Sein Name war das erste Mal im Dunstkreis der Nitribitt aufgetaucht. In einem der Prozesse, die in der Folge um den mysteriösen Tod der Rosemarie Nitribitt stattfanden, hatte der Gerichtspräsident den richterlichen Vorsitz aus Gesundheitsgründen abgegeben. Zwei Jahre später war er in den Ruhestand getreten. Anschließend hatte er sich mit seiner Familie hier an den See zurückgezogen.

Viel wichtiger war David ohnehin Gabriel Lavants Antwort. Neben den obligatorischen Proben für einen Vaterschaftstest hatte er die erworbene Reliquie und die filterlose Zigarettenkippe beigelegt, die er im Aschenbecher bei seiner Mutter gefunden hatte. Vielleicht würde ihn eine genetische Analyse ein Stück weiterbringen. Denn allzu viel hatte er in den letzten zwei Wochen nicht in Erfahrung bringen können. Bei seinen Internetrecherchen in verschieden Universitätsbibliotheken stieß er zwar immer wieder auf diverse religiöse Gemeinschaften und Sekten, die in irgendeiner Art und Weise entweder mit dem Evangelisten Johannes oder mit dem Sternzeichen Adler im Skorpion in Zusammenhang standen, aber eine Verbindung zu der Reliquie ließ sich nicht herstellen.

Um weitere Post vor dem neugierigen Zugriff der Mutter zu schützen, hatte er das hiesige Amt angewiesen, seine Briefe für die Zeit seines Aufenthaltes postzulagern.

Den Bootssteg mit der Hütte hinter sich lassend, bog David jetzt in einen Kiesweg ein, der an einer vielbefahrenen Landstraße endete, die um den ganzen See herumführte. Dort befand sich eine Bank neben einem Wegkreuz, das irgendeinem Heiligen geweiht oder Bestandteil eines Kreuzweges war.

Im Schatten einer Linde ließ sich David auf der Holzbank nieder und zog Frau Borgmanns Amulett aus der Tasche. Bis auf Größe und Form des Knochens war es mit dem ersten vollkommen identisch, etwas kleiner vielleicht. Zentraler Teil wiederum ein Mittelhandknochen, davon war auszugehen. Wieder hielt David das Stück an seine rechte Hand und verglich es mit seinen eigenen Gliedern. Kein Zweifel, es stimmte von der Größe her mit dem Mittelknochen des Mittelfingers der rechten Hand überein. Ein Kribbeln überzog seinen Rücken. Hinzu kam, dass er das Gefühl hatte, jemand würde ganz nah hinter ihm stehen und ihn beobachteten. Es war aber nicht Davids Art, sich einfach abrupt umzudrehen, um den heimlichen Gaffer brüsk zu entlarven. Im Gegenteil, er blieb ganz bewusst noch eine Weile sitzen und spielte mit der Reliquie in seiner Hand.

Als er endlich aufstand und zur Seite schaute, war niemand zu sehen. Im näheren Umkreis konnte eigentlich kein Mensch gewesen sein, denn eine Wiese reichte bis zur Bank und umwucherte das Wegkreuz. Nicht ein Halm oder eine Wildblume war niedergetreten. Hinten im dichten Wald könnte jemand gestanden und ihn mit einem Fernglas beobachtet haben. Aber würde er das bis hierher spüren?

Wohl kaum. Wenn er aber mit seinem Gefühl, beobachtet worden zu sein, Recht hatte, konnte der Späher nur ein einziges sicheres Versteck benutzt haben. Das Wegkreuz, einen etwa drei Meter hohen Steinbau, der die 4. Station aus der Leidensgeschichte Jesu Christi zeigte. Jesus begegnet seiner Mutter, stand da in teilweise abgeplatzten goldenen Lettern. Darüber befand sich in der Mitte ein verrostetes Fensterkreuz, hinter dem sich eine Einbuchtung befand. In einem Würstchenglas standen verwelkte Wiesenblumen im trüben Wasser. Das daneben stehende ewige Licht, das in einer wannenähnlichen Schüssel eingebettet war, war heruntergebrannt und die dahinter liegende Darstellung der Kreuzwegstation bis zur Unkenntlichkeit verrußt.

Ein Holztransporter näherte sich mit lautem Dieselmotor. David nahm das als Chance, so unbemerkt hinter das Wegkreuz zu gelangen. Zwei, drei Schritte, und er stand hinter der Kreuzwegstation. Da war nichts, was von Bedeutung wäre. Ein paar Zigarettenkippen, ein benutztes abgerolltes Kondom, eine von der Sonne gebleichte Coladose.

Der Laster rauschte vorbei, und David Engel entschloss sich, seinen Weg ins Dorf fortzusetzen.

Am Ortseingang, wo die Gemeinde auf einem großen Holzschild ihre Gäste begrüßte, befand sich ein kleiner Rastplatz mit Holzbänken und ein Brunnen, der sein Wasser in einen ausgehöhlten halben Baumstamm ergoss. Außer einem weißen Van mit schwarzen Scheiben und ausländischem Nummernschild, parkte dort niemand. Im Inneren saß ein Mann um die vierzig vor mehreren Bildschirmen, die die Straße aus verschiedenen Blickwinkeln zeigten. Genüsslich drehte sich der Mann eine Zigarette und setzte sein für ihn so typisches Lächeln auf.

Im Ortskern vis à vis dem Polizeiposten stand das kleine Postamt, das David Engel jetzt betrat, um seine Post abzuholen. Die Schalterbeamtin griff in ein Holzregal, das in viele kleine Fächer unterteilt war, und händigte ihm einen Brief aus.

„Tut mir leid, aber mehr war heute nicht dabei!“

David bedankte sich und riss den Umschlag im Gehen auf.

Stehe draußen

Dein Gabriel

Typisch Gabriel, dachte David, steckte den Brief in seine Tasche und eilte nach draußen. Als er aufblickte, schaute er direkt in die blauen Augen seines besten Freundes, der breit grinsend neben seinem weißen Van mit den schwarzen Scheiben stand.

Mehr als zwei Jahre hatten sich die beiden nicht gesehen. Und so fiel ihre Begrüßung mehr als herzlich aus. Lange hielten sie sich in den Armen, hauten sich abwechselnd auf die Schultern und flachsten miteinander.

„Wieder ein paar graue Haare dazugekommen, was.“

„Dein Bauch hat auch einige Fortschritte gemacht.“

„Das Nomadenleben macht halt alt.“

„Das Singleleben träge und faul.“

Gabriel hatte natürlich die ganze Trennungsgeschichte zwischen David, seiner Frau und den Kindern mitbekommen. Für kurze Zeit hatte der Freund sogar bei ihm gewohnt, bis er eine neue Bleibe gefunden hatte. Aber das waren Geschichten von gestern. Das, was vor ihnen lag, schien umso spannender.

„Und wie lange kannst du bleiben?“

„Die nächsten Wochen gehören dir. Meine Arbeit in Den Haag ist soweit erledigt. Ab und zu werden sie mich für den einen oder anderen Verhandlungstag als Gutachter benötigen. Ansonsten habe ich aber Urlaub genommen und feiere meine Überstunden ab.“

„Hört sich gut an.“

David strahlte. Die Vorstellung, die nächsten Tage, oder gar Wochen mit seinem Freund zu verbringen, ließ seine Stimmung steigen.

„Und, wie sind die Ergebnisse?“

„Komm, erst muss ich dir meine neuste Errungenschaft zeigen.

Gabriel öffnete die Seitenschiebetür seines Vans und präsentierte David das Innere seines Wagens.

„Komm mit rein, muss ja nicht jeder mitbekommen, was ich so alles an Bord habe.“

David staunte nicht schlecht. Das Innere des Vans war bis zur Decke mit Elektronik voll gestopft.

„Hier ist alles drin, was dein Herz begehrt. Es gibt kaum eine Untersuchung, die ich nicht von hier aus machen kann“, verkündete Gabriel und hob spielerisch den Zeigefinger. „Zudem habe ich mich nach außen ein wenig abgesichert.“

Gabriel schaltete die Überwachungsmonitore ein und spielte ein wenig mit dem Cursor einer der Computer. Sofort hatten die beiden den gesamten Dorfplatz im Blick.

„Die Kameras gehen automatisch an, wenn sich jemand dem Wagen auf einen Meter nähert. Die Scheiben sind bruchsicher und falls es doch jemand schaffen sollte, was ich übrigens nicht glaube, kann ich den Wagen sofort über Satellit orten. Natürlich kann die Kiste noch mehr. Aber wie ich dich kenne, interessieren dich meine Ergebnisse deiner Proben sicherlich mehr. Also komm, lass uns Essen gehen!“

Gabriel und David verließen den Van, überquerten den Platz und betraten den Biergarten, der zur örtlichen Brauerei gehörte.

Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, legte Gabriel seinen alten Alukoffer auf den Tisch und öffnete die beiden Verschlussschnallen.

„Um dich nicht unnötig auf die Folter zu spannen, sage ich es Dir gleich: Du bist nicht der Vater. Aber freu dich nicht zu früh; denn was ich dir gleich zeigen werde, wird dich trotzdem vom Stuhl hauen.“

Gabriel öffnete seinen Koffer und holte ein dünnes Dossier heraus. Er reichte David ein transparentes Blatt Papier, auf dem seine DNA-Kette abgebildet war, und deutete vielsagend darauf:

„Das sind deine Stammdaten! Und hier kommt die DNA die von dem Jungen, dem Speichel an der Zigarettenkippe und dem kleinen Knochen.“

Nacheinander reichte er ihm die einzelnen dünnen Blätter.

„So und jetzt leg sie mal übereinander.“

David konnte nichts Außergewöhnliches erkennen. Natürlich gab es deckungsgleiche Übereinstimmungen. Aber die hätte es mit der DNA eines Bandwurmes auch gegeben.

„Die verhältnismäßig vielen Übereinstimmungen haben mir zu denken gegeben. Leg mal die DNA der Zigarettenkippe als unterste. Jetzt sieht die Sache schon ganz anders aus.“

Und tatsächlich: durch die neue Anordnung des Übereinanderlegens ergab sich ein fast einheitliches Bild.

„Eins, mein lieber Freund, kann ich dir zu neunundneunzig Prozent sagen. Du bist mit allen genetisch verwandt. Und der Stamm, von dem alles ausgeht, ist die Zigarettenkippe.“

David lächelte zwar, aber in seinem Innersten arbeitete es auf Hochtouren. Der Zigarettenstummel, nun ja, er könnte, zumindest rein theoretisch von seiner Mutter stammen. Obwohl seine Mutter eine ganz andere Marke mit Filter bevorzugte. Aber Johannas Kind war hundertprozentig nicht von ihm. Und wie sollte das Glied eines Fingerknochen, das er einem wildfremden Taxifahrer abgekauft hatte, der zufällig in der ersten Reihe am Flughafen gestanden war, mit ihm in verwandtschaftlicher Verbindung stehen?

Nein, Gabriel musste sich irren, und das gewaltig!

David Engel glaubte nicht an Zufälle oder irgendwelche Fügungen. Durch seinen Beruf hatte er oft genug die Folgen von Aberglauben und den Verirrungen fanatischer Religionsanhängern erlebt. Beides war ihm nicht nur fremd, sondern zuwider.

„Du musst dich irren“, sagte er knapp und versuchte in der Krone einer Kastanie, die dem Biergarten Schatten bot, eine Antwort zu finden.

„Finde dich mit der Tatsache ab und versuche lieber alles in einen Zusammenhang zu bringen“, entgegnete Gabriel lakonisch.

„Du willst mir also sagen, dass die Zigarettenkippe mein Vater oder meine Mutter ist, der Junge und der Knochen meine Geschwister?“ spottete David. „Mit Verlaub, alter Junge, das ist lächerlich, total lächerlich!“

David spürte ein Kribbeln im Bauch, merkte wie das Blut in ihm hochschoss und ärgerte sich gleichermaßen über diese Gefühlsregung, für die es ja überhaupt keinen Grund gab. Gabriel musste sich einfach irren.

„Jetzt kennst du auch den Grund, warum ich persönlich vorbeigekommen bin. Zumal die Zigarettenkippe nur ein Mann geraucht haben kann.“

„Mein Vater ist gestorben, da war ich gerade ein paar Wochen alt, hast du das vergessen?“

David kämpfte vergebens gegen seine Tränen an. Was war los mit ihm? Warum hatte er sich nicht mehr unter Kontrolle?

Er schloss die Augen und sah noch einmal, wie der schwarze Pullmann am Tag seiner Ankunft langsam an ihm vorbei gefahren war. Er spürte wieder dieses unerklärliche Kribbeln, wie vor weniger als einer Stunde an der Kreuzwegstation.

Gabriel rüttelte ihn und holte ihn zurück in den Biergarten.

„Entschuldige, ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.“

„Kein Problem, ging mir genauso, als ich dahinter gekommen bin. Aber glaube mir, wir werden der Sache schon auf den Grund gehen.“

„Hier“, sagte David und schob das zweite Amulett zu Gabriel über den Tisch, „habe ich in der Schublade unserer Haushälterin gefunden.“

„Kein Problem. In ein paar Stunden haben wird das Ergebnis.“

„Als ich vier oder fünf Jahre alt war, hatte ich oft das Gefühl, nein falsch, war ich mir eigentlich ziemlich sicher, dass mein Vater noch leben würde. Aber das sind Kinderphantasien.“

„Wir werden die Wahrheit schon herausfinden. Dafür bin ich hier, dafür bin ich gekommen.“

„Die Wahrheit hatte sich mein Vater auch auf seine Fahnen geschrieben, aber anders als man sich das im Allgemeinen vorstellt. Wenn wir in der Villa sind, werde ich dir das Archiv meines Vaters zeigen, dann wirst du verstehen, was ich meine.“

Als die beiden Freunde den Biergarten verließen, ging die Sonne langsam hinter den Bergen unter.

Schweigend fuhren sie zur Villa am See. Den Auftrag der Haushälterin, die Kette für die Freundin in Hamburg abzuholen, hatte David Engel vergessen.

Joseph

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