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Johanna vom See

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Am späten Vormittag wachte David in seinem schmalen Bauernbett auf. Lärm von draußen hatte ihn geweckt. Auf dem Rücken liegend, öffnete er die Augen und ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Alles war so geblieben, wie er es sich vor Jahren eingerichtet hatte. Ein eintüriger Kleiderschrank, eine emaillebeschichtete Waschschüssel auf einem Metallständer, daneben ein Schränkchen mit einem Wasserkrug obenauf, der sich durch den Spiegel an der Wand verdoppelt zu haben schien. Die gesamte Einrichtung stammte aus den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts und war bei einer Haushaltsauflösung durch Zwangsversteigerung erworben worden. David selbst hatte die Stücke ausgesucht. Auch den Stuhl, den Tisch und das kleine Bücherregal. Er liebte diese schlichte Art von Provisorium.

Man packt einfach seine Tasche und geht. Wer nichts hinterlässt, vermisst auch nichts. Zudem denkt es sich in solchen Räumen besser. Nur nicht in diesem Augenblick. David stand auf, um das Gaubenfenster zu schließen. Draußen auf dem Nachbargelände spielte eine Mutter mit ihrem Kind Nachlaufen. Der Junge, höchstens acht Jahre alt, hatte die Frau jetzt erreicht und riss sie von hinten zu Boden. Sie wälzten sich im weichen Gras und wurden dabei von Sonnenstrahlen, die sich einen Weg durch die Blätter der Obstbäume suchten, getroffen. Die Mischung aus Licht und Schatten, die auf die beiden im Gras tollenden Gestalten fiel, veranlasste David dazu, der Szene länger beizuwohnen, als er ursprünglich beabsichtigt hatte. Für einen kurzen Moment dachte er an Aline und seine beiden Kinder François und Jean. Ein unbeschwerter Sommer mit leichten Gedanken und schönen Bildern. Wie lange war das her? Er versuchte sich an das Jahr zu erinnern. Da rief von unten eine Stimme seinen Namen. Die junge Frau saß jetzt im Gras, in ihrem Schoß der Junge, und winkte nach oben.

„Die Johanna“, murmelte David für sich und lächelte. Gut gelaunt ging er pfeifend zum Waschtisch. Er füllte das kalte Wasser aus der Kanne in die Schüssel und steckte anschließend seinen Kopf bis über die Ohren in das kühle Nass. Nach anfänglicher Stille hörte er, wie unten seine Mutter mit einer der Hausangestellten sprach. Zwei undeutliche dumpfe Stimmen drangen bis zu ihm hinauf und unter die Wasseroberfläche, mehr nicht. Mit einem Blubbern und Rauschen zog er seinen Kopf wieder aus dem Wasser. Sein langes, nasses Haar klatschte auf seinen Rücken. David schaute auf seine Armbanduhr. Fast anderthalb Minuten. Gar nicht so schlecht für jemanden, der vollkommen aus der Übung war. Mit seinen tropfnassen Haaren nahm er sich seine Kleider vom Stuhl und zog sich ohne vorheriges Abtrocknen an. Sein Blick fiel auf den kleinen unversehrten Rest eines verkohlten Blatt Papiers und eine filterlose Zigarettenkippe, die auf dem Tisch lagen. Seine kleine Beute aus der letzten Nacht. Vorsichtig steckte er die Sachen in kleine Klarsichthüllen mit Plastikverschluss und verstaute sie in seiner seesackähnlich geschnittenen Ledertasche.

Lächelnd verließ David sein Zimmer und ging die Treppe herunter, die mit Utensilien aus dem späten Mittelalter so voll gestellt war, dass nur ein schmaler Durchgang blieb. Unten in der Halle hingen an den Mahagoniwandkassetten unzählige Geweihe von Rot- und Dammwild aus der hiesigen Umgebung. Mit beiden Händen öffnete er die große Jugendstilschiebetür zum Esszimmer.

„Die Johanna ist ja da“, begrüßte er seine Mutter, die am Kopfende eines Tisches saß, an dem mit Sicherheit vierzig Personen bequem Platz nehmen konnten.

„Die gute Laune wird dir schnell vergehen. Du hast Post vom hiesigen Amtsgericht. Eine wirklich unappetitliche Geschichte“, antwortete die Mutter und bestrich mit einem kleinen Silbermesser den frischen Toast mit englischer Orangenkonfitüre.

Am anderen Tischende war ebenfalls eingedeckt. Daneben ein silbernes Tablett mit einer handvoll Briefe.

David hatte sich gerade gesetzt, da öffnete sich eine Tapetentür, und die Haushälterin Frau Borgmann betrat mit einer silbernen Kanne voll heißem Kaffee den Raum.

„Sie trinken doch noch Kaffee, Herr David?“ war ihre kühle hanseatische Begrüßung, wie all die Jahre zuvor auch.

Seit mehr als vierzig Jahren war sie Angestellte im Hause Engel und gehörte längst zur Familie. Nur an ihrem Geburtstag und bei hohen Feiertagen zog sie sich zurück in ihr Zimmer und ward den ganzen Tag nicht gesehen.

„Es hat sich nichts geändert“, war seine zu einem Ritual gewordene Antwort.

„Das ist schön“, sagte Frau Borgmann mit einem Lächeln und schüttete den heißen Kaffee in eine Porzellanschale. Anschließend stellte sie die Kanne auf den Tisch. David fasste ihre Hände, zog sie auf seinen Schoß und küsste sie auf ihre faltige Wange.

„Aber David, dafür sind sie wirklich zu alt.“

„Dafür ist man nie zu alt!“ antwortete David und drückte sie fest an sich. Er roch ihre indische Gewürzseife, die ihn jedes Mal in die Kindheit zurückversetzte.

„An deiner Stelle würde ich mich um die Post kümmern“, warf die Hausherrin, ohne ihren Blick zu heben, vom anderen Ende des Tisches ein.

Frau Borgmann machte sich von Davids Schoß frei, glättete ihre Schürze und verschwand ebenso leise wie sie gekommen war, durch die Tapetentür in die Küche.

„Ist Johanna schon länger hier?“ fragte David interessiert während er die Post, die allesamt bereits geöffnet worden war, sortierte.

„Es steht zu befürchten, dass diese unsägliche Person für immer hier zu bleiben gedenkt“, war die Antwort der Mutter, die über ihren Brillenrand kurz zu ihm herüberschaute. „Ein großer Fehler, seinerzeit das Nachbargrundstück nicht mit erworben zu haben.“

Der Kauf des Anwesens, das sich wie ein Kuchenstück zum See hin verengte, fiel in dasselbe Jahr wie das Verschwinden der Kamera von Johannes Engel, die Jahre später, während der Olympischen Spiele 1972, in München beim einem Trödler wiederaufgetaucht war. Am 1. November 1957 war der Fotoapparat als gestohlen gemeldet worden. Am 3. November, nur drei Tage später, wurde der Kaufvertrag für das Anwesen bei einem Frankfurter Notar unterschrieben. Ein Nylonstrümpfehersteller aus dem Main-Taunusgebiet hatte Johannes Engel das große Grundstück mit dem Herrenhaus für einen Spottpreis überlassen. David hatte die Unterlagen unten im großen Archiv des Vaters gesichtet. Leider war der ehemalige Besitzer längst verstorben und die Hinterbliebenen hatten kein Interesse gezeigt, mit ihm in Kontakt zu treten, geschweige denn die alten Sachen wieder aufzuwärmen. Auch in der Kopie der Polizeiakte zum Fall des gewaltsamen Todes der Rosemarie Nitribitt, an die der Vater durch irgendwelche dunklen Kanäle herangekommen war, tauchte der Name des Nylonstrümpfefabrikanten auf. Seltsam war nur, dass er zur Sache nie verhört worden war. Zumindest gab es keinen Vermerk in einer der dicken Polizeiakten. Ein Anruf bei dem sich längst in Rente befindlichen Nachtportier hätte aber schon ausgereicht, um eine Verbindung zwischen dem Fabrikanten und der Toten herzustellen. Fast zwanzig Jahre war es nun her, dass David mit ihm gesprochen hatte. Anfangs naturgemäß über den Vater, der nach der Meinung des Portiers schon ein komischer Kauz gewesen sei.

„Es war die erste Nacht Ihres Vaters in unserem Hause. Er konnte nicht schlafen, wie er sagte, und so kamen wir unten im Empfang ins Gespräch. Er erzählte von seinen Kriegserlebnissen, - besonders von den Brandbomben, die er als Kind erlebt hatte. Ihr Vater bezeichnete sie als unauslöschliches Trauma und deshalb wollte er doch allen Ernstes die Generalpläne des Hotels einsehen, Fluchtwege, Versorgungsschächte, alles wollte er wissen. Er hat wirklich nicht losgelassen, bis ich ihm dann die Pläne mit auf sein Zimmer gegeben habe. Ein überaus ängstlicher Mensch ist Ihr Herr Vater gewesen. Dafür habe ich einen Blick, das können sie mir glauben.“

Die Wirklichkeit muss indes ein wenig anders ausgesehen haben. Die abfotografierten Pläne des Hotels waren selbstverständlich auch im Archiv. Auf den daraus entstandenen Blaupausen waren mit verschiedenen Farbstiften Linien gezogen. An manchen Grundrissen der Zimmer war an den Wänden ein X eingezeichnet. Die Frage, welches Zimmer der Nylonstrümpfefabrikant hatte, konnte der ehemalige Nachtportier sofort beantworten, da dieser seit Jahren immer dieselbe Suite gebucht hatte. Sieben Kreuze waren im Grundriss der Senatorsuite von Davids Vater eingezeichnet worden. David hatte keine Kosten gescheut und die großzügigen Räumlichkeiten für zwei Tage angemietet. Durch Abklopfen der Wände hatte er gleich am ersten Tag alle sieben Eintragungen lokalisiert. Naturgemäß waren die Räumlichkeiten über die Jahre des Öfteren renoviert worden. Eines aber war geblieben. Die Ausfüllungen mit Gips. Die Ausmaße entsprachen einem Loch, in das eine Kamera, wie sie der Vater damals als vermisst gemeldet hatte, ohne weiteres hineingepasst hätte.

„Unser Anwesen am See war ein Hochzeitsgeschenk deines Vaters gewesen“, hatte die Mutter ihm auf seine Fragen hin lapidar geantwortet. David wusste es jedoch besser. Das Haus war zu Lebzeiten seines Vaters nie auf die Mutter umgeschrieben worden.

Amtsgericht prangte in dicken Lettern auf dem auf Umweltpapier geschriebenen Brief.

Ein feines Lächeln verbreitete sich um den schmalen Mund der Mutter, als David ohne ein Wort zu sagen aufstand und den Raum verließ. Über die Terrassentür betrat er den Garten und lief über den gepflegten Rasen. Mit einem seitlichen Schwung hatte er den Zaun übersprungen und stand nach wenigen Metern vor Johanna, die ihn mit festem Blick anstrahlte. David holte Luft. Er wusste genau, was er jetzt sagen wollte. Aber da war dieses Gesicht mit den unzähligen Sommersprossen, dem großen fleischigen Mund, da waren diese markante Nase, die kleinen Ohren und das Flachshaar, das wild nach allen Seiten abstand.

Äußerlich hatte sie sich kaum verändert. Zumindest das Kindliche in ihrem Gesicht war geblieben. Die funkelnden Augen, der trotzige Mund. Fast so wie vor zehn Jahren.

Johanna war damals gerade mal vierzehn Jahre alt. Sie waren in jenem Sommer gemeinsam an einem heißen Nachmittag mit dem Boot hinaus auf den See gefahren. Geradeheraus hatte sie es ihm ins Gesicht gesagt, dass sie mit ihm schlafen wollte.

„Ich will ein Kind von dir, jetzt und hier auf dem See!“

David blinzelte mit den Augen. Die Sonne hatte ihm direkt ins Gesicht geschienen. Vor ihm war Johanna gesessen, die vierzehnjährige Tochter der Nachbarn, die er nur in Konturen hatte erkennen können. Er hatte kurz überlegt, wie er einem Mädchen in diesem schwierigen Alter, antworten konnte, ohne es zu verletzen.

„Ich bin verheiratet und habe bereits zwei Kinder“, hatte er erwidert und dabei um die Plattheit seiner Antwort gewusst.

„Deine Frau ist langweilig und deine Kinder mittelmäßig, ich glaube kaum, dass du überhaupt der Vater bist.“

„Werd’ nicht unverschämt!“

David hatte das Ruderblatt schräg ins Wasser gesetzt und zum Schlag ausgeholt. Eine Wasserwand war steil aufgestiegen und über Johanna zusammengebrochen. Es hatte einfach platsch gemacht und das Mädchen war von oben bis unten klatschnass gewesen.

„Schlappschwanz“, war Johannas ganzer Kommentar gewesen. Sie war aufgestanden und hatte dabei durch die Verlagerung ihres Gewichts versucht, das Boot zum Kentern zu bringen. Als das nicht den nötigen Erfolg gebracht hatte, zog sie ihr T-Shirt und das Bikiniunterteil aus und sprang ins Wasser.

Kein Jahr später, gerade mal fünfzehn Jahre alt, hatte sie einen gesunden Jungen geboren, und alle Welt rätselte seitdem, wer wohl als Vater in Frage kommen könnte.

„Hier“, mehr brachte David nicht heraus und überreichte Johanna den Brief des Amtsgerichts. Etwas abseits saß der Junge auf einer Schaukel, die zwischen zwei Obstbäumen befestigt war. In regelmäßigen Abständen tauchte sein Gesicht aus dem Schatten der Bäume auf. Ein lächelndes, fröhliches Kindergesicht strahlte ihn an. Es war Davids Gesicht, genauer gesagt, sein eigenes vor zweiunddreißig Jahren, daran gab es keinen Zweifel.

Joseph

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