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Ostersonntag

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Laude patronos cano gloriosa


(Ich besinge mit ruhmreichem Lob die Schutzherrn – Inschrift der Gloriosa)

Erfurt, 10.45 Uhr

Ein stiller Frühlingshimmel wölbt sich erwartungsschwanger über der Stadt. Alle Glocken schweigen, warten gespannt darauf, dass die größte von ihnen, die berühmteste, die Gloriosa, den Ostertag einläutet. So ist es Brauch seit alters her, der Gloriosa gebührt der Vorrang. Erst wenn ihr majestätisch schöner Klang die Erfurter Luft zum Vibrieren bringt, dürfen sich auch die anderen Glocken in Bewegung setzen, dürfen sie mit einfallen in das österliche Festkonzert.

Die Stadt, sie hält den Atem an, sehnt sich nach dem Signal vom Domberg, nach dem ersten Schlag der Gloriosa. Was aber ist das? Welch grässliche Töne, welch eiernder, scheppernder Lärm! Das soll die Gloriosa sein, die Göttliche, die Königin der Kirchenglocken? Unerträglich falsch hört sich das an, höhnisch schmerzt es in den Ohren, ein teuflisch-schiefes Geläut, klirrend, verzweifelt, ohne jeden Rhythmus. Als kämpfe die Glocke gegen etwas an, gegen einen geheimen Widerstand, einen Widersacher, der sich gegen ihr Schwingen stemmt.

»Nein, lasst ihn bitte noch hängen!«

Wie alt mochte der Mann sein, der da neben dem Klöppel hing? 40, vielleicht Anfang 50? Es fällt schwer, das Alter eines Menschen zu schätzen, dessen Schädel zerschmettert ist wie eine Wassermelone, die man unter ein Hammerwerk gelegt hatte.

»Unsere Gloriosa wiegt locker zehn Tonnen, das hält selbst der größte Thüringer Dickschädel nicht aus.«

Kommissar Mütze nickte und kniff die Augen zusammen. Sanft baumelte der Mann mit dem Strick um die Füße im Inneren der Glocke, den letzten Bewegungen des Klöppels folgend. Der zerquetschte Kopf schmiegte sich an das verdickte Klöppelende, die herunterhängenden Arme, von denen es rot hinablief, strichen fast über die Holzdielen und malten mit dem hinabtropfenden Blut zierliche Schleifen und Kreise auf den Boden. Der Mann war tot, mausetot, da gab es keine Zweifel, und doch, solange ein Mensch sich noch bewegt, schien eine Prise Leben in ihm zu sein.

Mütze beugte sich nieder und leuchtete mit seinem Handy in die Glocke hinein. Ganz oben, dort, wo der Klöppel aufgehängt war, hatte man den Strick befestigt. Das linke Hosenbein des Mannes war heruntergerutscht, was etwas unordentlich aussah. Zudem passten die gelb-blauen Ringelsocken nicht zu dem eleganten schwarzen Anzug. Und da war noch etwas, das nicht passte, es waren die Hände des Toten. Das waren nicht die Hände eines Anzugträgers, das waren die Hände eines Mannes, der hart anpacken musste, breit und blutig sahen sie aus, zerschunden von einer übermenschlichen Aufgabe. Unter dem Klöppel, vom Blut getränkt, lag eine weiße Nelke auf den Dielen.

Während sich Mann und Klöppel noch sacht bewegten, war die Glocke bereits zum Stillstand gekommen. Mütze besah sie sich genauer. Ein Relief zierte die Außenseite, eine Frau in einem Strahlenkranz war darauf zu sehen. Vielleicht die heilige Maria? Mütze war die katholische Heiligenkunde so vertraut wie einem Hamster der Buddhismus. Das Messing der Gloriosa war stumpf geworden im Laufe der Jahrhunderte, an zwei Stellen unten am Rand aber glänzte es, und diese Stellen lagen sich genau gegenüber. Was da glänzte, war frisches Blut.

»Die Glocke? Sie meinen wirklich, die Glocke hat ihn auf dem Gewissen?« Mütze trat dicht an den Seziertisch heran. Die abgenommene Schädeldecke neben dem zerquetschten Gehirn erinnerte ihn an ein antikes Gefäß, das man, tausendfach zerbrochen, mühsam wieder zu kitten versucht hatte.

»Alles sieht danach aus«, sagte Professor Hahnemann, ein grauhaariger Hüne, den nichts mehr erschüttern konnte. »Sehen Sie, Herr Kommissar, die inneren Organe, Herz, Lunge, Bauchraum, alles völlig unversehrt. Der Schädel hingegen, das Gehirn, ein einziger Brei. Die Glocke hat ihn erschlagen, vielleicht auch der Klöppel, wer will das entscheiden?«

»Und wenn er vorher schon tot gewesen ist? Ich meine, wenn man eine Leiche aufgehängt hat?«

»Eine Leiche hätte sich nicht gegen den Tod gewehrt«, sagte der Professor und hob eine der Hände des Toten auf. »Die Hand hier muss man sich im Original deutlich schmaler vorstellen. Schauen Sie hier.« Bei diesen Worten ließ er eine milchige Scheibe aufflammen, an der mehrere Röntgenbilder hingen. »Hier außen, das sind die Hände.«

Man brauchte kein Radiologe zu sein, um zu erkennen, was passiert war. Die feinen Fingerknochen waren vielfach gebrochen, ja, an vielen Stellen völlig zersplittert.

»Der Ärmste muss versucht haben, der Gloriosa auszuweichen. Als sie stärker zu schwingen begann, hat er vielleicht noch probiert, sich in der entgegengesetzten Richtung vom Klöppel abzustoßen und den Zusammenprall auf diese Weise zu vermeiden. Als das nicht mehr möglich war, als seine Kräfte nachließen, wollte er zumindest seinen Kopf schützen und hat seine Hände verzweifelt vor die Schläfen gehalten. Zusammen mit dem Kopf sind sie zwischen Klöppel und Glocke geraten, so lange, bis sie völlig zertrümmert waren. Das Opfer hat schließlich das Bewusstsein verloren, seine Arme sind schlaff hinabgesunken und der Kopf hat die volle Dröhnung abbekommen: dong, dong, dong!«

Mütze nickte. So konnte es gewesen sein. Wer aber ließ sich freiwillig in eine Glocke binden? Oder hatte es zuvor einen Kampf gegeben, gab es entsprechende Spuren?

Der Rechtsmediziner zuckte mit den Schultern. »Bislang haben wir nichts dergleichen gefunden. Aber Sie sehen ja selbst, der Zustand der Hände … Wir sind noch dran. Ob sich jedoch DNA-Spuren vom Täter finden lassen, bleibt ungewiss.«

»Adam Sternberg, 59 Jahre, städtischer Gärtner.« Hauptkommissar Thomas Stulpenpilz, von jedermann nur »Braunkärsch« gerufen wegen seiner unbezähmbaren Vorliebe für Butterstullen mit Brunnenkresse, wischte auf seinem Tablet herum, während Mütze hinter ihm stand.

Seit gerade mal vier Wochen bildeten sie ein Team. Nach sieben Erlanger Jahren hatte sich Mütze nach Erfurt versetzen lassen, der Liebe wegen. Sein Freund Karl-Dieter hatte eine neue Herausforderung gesucht. Vielleicht hatte er sich auch nur von seinem einfach nicht verstummenden Kinderwunsch zu befreien versucht, wer weiß? Alle sieben Jahre muss man sich häuten, hatte er jedenfalls gesagt. Die Stelle des leitenden Bühnenbildners am Theater Erfurt war ausgeschrieben gewesen und die Wahl war auf Karl-Dieter gefallen. Ein paar Monate waren die Freunde zwischen Erfurt und Erlangen hin- und hergependelt, mit dem ICE durch den durchlöcherten Thüringer Wald, dann waren sie die Reiserei mit der chronisch unpünktlichen Bahn leid geworden und Mütze hatte sich ebenfalls in Erfurt beworben. Nun war er da und hatte seinen ersten Mordfall. Und was für einen!

»Bist du sicher, Braunkärsch, ich meine, wir haben dem Toten ins Gesicht gesehen. Auch wenn es ziemlich zermatscht gewesen ist, die Ähnlichkeit ist doch wirklich nur eine sehr entfernte. Zudem haben wir keinerlei Papiere gefunden.«

Braunkärschs Augen blitzten. »Mensch, mach de Glotzen uff!« Er vergrößerte die Fotografie auf seinem Tablet so weit, dass der kleine Ohrring, der das linke Läppchen zierte, zu einem Türklopfer heranwuchs. »So einen Ohrring gibt es nur einmal in Erfurt, da kannste Gift drauf nehmen!«

Mütze kniff die Augen zusammen. Der Ohrring war offensichtlich ein handgeschmiedetes Unikat. Er zeigte ein stilisiertes Mühlrad. Genau dieser Ohrring hatte in der Nierenschale neben dem Seziertisch gelegen.

Insgeheim hatte sich Mütze auf Erfurt und das neue Umfeld gefreut, auch wenn er das Karl-Dieter gegenüber nie zugeben würde. Ewig seinem Lebenspartner hinterherzureisen, war das nicht etwas würdelos? Der Umzug von Dortmund nach Erlangen war echt hart gewesen, vom fröhlich mordenden Ruhrpott in eine Stadt, die keine Universität hatte, sondern eine war. Das Leben in Erlangen glitt einfach zu friedlich übers Pflaster. Lauter Akademiker, die meinten, jeden, aber wirklich jeden Streit friedlich lösen zu müssen. Was blieb da für einen Kommissar übrig? Der einzige Grund, die Ärmel hochzukrempeln, war das Schäufele am Sonntag. Der aktuelle Umzug versprach beruflich eine deutliche Verbesserung. Erfurt war zwar nicht als Thüringens Antwort auf die Bronx verschrien und doch durfte man sich als hungriger Kriminalkommissar mehr erwarten als Klöße und Rostbratwürste. Und hungrig war Mütze immer noch, auch wenn er bereits einen 50. Geburtstag hatte erdulden müssen. Nach wie vor scharrte er mit den Hufen und suchte die berufliche Herausforderung. Und nun, nach nur vier Wochen, steckte er schon mittendrin in seinem ersten Erfurter Fall. War das nicht wunderbar? Zumal eines klar war: Dieser Fall war keiner von der Stange. Mord mit ’ner Glocke! Wumm-bum! »Den Mörder muss ein unglaublicher Hass getrieben haben. Wozu sonst der Aufwand?«

»Oder wir haben es mit seinem Sadisten zu tun, mit einem Psychopathen«, gab Braunkärsch zu bedenken.

Mütze verzog sein Gesicht, um sein Grinsen zu verbergen. Die Thüringer sprachen das P so zärtlich aus wie die Franken, weich wie ihre Klöße war auch ihre Art zu sprechen. Dialektmäßig betrachtet hatte der Umzug keine Probleme bereitet. Aber klar, Braunkärsch war nicht zu widersprechen, auch ein Psychopath kam in Betracht.

»Und zwar einer von der geschmacklosen Sorte«, fügte der Kollege hinzu, »unsere Gloriosa als Mordwaffe zu missbrauchen, welch bodenlose Frechheit!«

Geschmacklos, ja direkt widerlich fand auch Karl-Dieter das Verbrechen. Die Freunde saßen zusammen in ihrer schicken Wohnung im Brühl, dem Stadtteil, der sich zwischen das Theater und den Petersberg kuschelte. Das Brühl ist ehemals eine Schmuddelecke gewesen, verschiedene Gewerbebetriebe hatten sich hier angesiedelt. Lange her. Mittlerweile hatte man das ehemalige Werksgelände zu Büros und Wohnungen umgebaut, hohe Räume mit französischen Fenstern im Industriedesign, sehr stylisch. Am schicksten war das Dompalais in der Peterstraße, in dem sich die Wohnung von Karl-Dieter und Mütze befand. Von der Dachterrasse hatte man einen Blick auf einen kleinen Grünstreifen, den ein Bächlein wässerte, auf der gegenüberliegenden Seite sah man zum Domberg hinauf. Einfach malerisch!

Karl-Dieter musste erst am Nachmittag zur Probe und hatte anlässlich des Osterfestes butterzarte Lammlachse gebrutzelt. Dazu gab es Rosmarinkartoffeln, schön kross, wie Mütze sie liebte, grüne Speckbohnen und als Osterwein einen Bio-Primitivo von einem kleinen Familienweingut aus Apulien.

»Wie ist der Täter denn auf den Turm hinaufgelangt? Ich meine, da ist doch sicher immer abgesperrt.«

»Man muss links um den Dom zur Hochterrasse, dort geht’s zu den Türmen. Das Türschloss war unversehrt, der Täter muss einen Schlüssel gehabt haben.«

»Und wie hat er sein Opfer überzeugt, mit ihm auf den Turm zu steigen?«

»Vielleicht so.« Unvermittelt sprang Mütze auf, setzte Karl-Dieter das Steakmesser auf die Brust und zischte: »Komm mit auf den Turm, wenn dir dein Leben lieb ist!«

Entsetzt wich Karl-Dieter zurück: »Mensch, Mütze, hör doch auf mit dem Scheiß!«

Lachend setzte sich Mütze wieder, um sich eine weitere Scheibe vom Lamm hinunterzusäbeln. »Vielleicht hat der Täter aber auch einen Trick gebraucht, vielleicht hat er seinem Opfer erzählt, in der Glockenstube sei ein Schatz verborgen.«

»Ganz genau, Mütze. Und oben angekommen hat er dann zu ihm gesagt, halt mal schön still, den Schatz kannst du besser betrachten, wenn ich dich mit den Füßen in der Glocke aufhänge.«

»Hast schon recht, Knuffi, er wird ihm natürlich vorher was auf die Glocke gegeben haben.«

»Mütze!«, sagte Karl-Dieter pikiert.

Zugegeben, das Wortspiel war etwas daneben. Und doch könnte es so gewesen sein. Und kein Rechtsmediziner der Welt würde herausfinden, ob Sternbergs Schädel vor dem Glockenschlag bereits ein anderer Gegenstand getroffen hatte, nicht mal Professor Hahnemann, und das wollte etwas heißen.

»Keine Angehörigen?«

»Nur eine senile Tante, die in einem Arnstädter Altenheim ihr Leben fristet«, sagte Braunkärsch. »Sternberg lebte allein. Keine Frau, keine Kinder, nicht mal einen Wellensittich. Eigentlich stammt er aus Nordhausen, seine Eltern sind beide schon verstorben.«

Die beiden Kommissare hatten die Trommsdorffstraße erreicht, die von der Altstadt kommend in die südöstlichen Vororte führte. Mütze trat auf die Bremse und schwang seinen Manta auf den Bürgersteig. Sternbergs Wohnung befand sich im zweiten Stock eines unscheinbaren Mietshauses vis-à-vis dem Ursulinenkloster, also noch innerhalb des Altstadtringes, den man nach Juri Gagarin benannt und nach der Wende nicht in Neil-Armstrong-Ring verwestlicht hatte. Die Spusi war schon bei der Arbeit, als die Kommissare eintrafen. Sternbergs Wohnung war äußerst zweckmäßig eingerichtet. Nichts Überflüssiges stand herum.

»Schon was Verwertbares gefunden?«, fragte Mütze den Oberspurensicherer, einen fülligen Mann namens Wullkopf, der in seinem Ganzkörperanzug aussah wie ein zu groß geratener Bruder des Sams.

»Ich wünschte, alle Wohnungen wären so aufgeräumt wie diese«, scherzte Wullkopf. Dann zog er aus einer Schublade eine runde Blechdose mit dem Aufdruck Cottbuser Buttergebäck hervor und öffnete scheppernd den Deckel.

Mütze pfiff durch die Zähne: »Nicht schlecht, Herr Specht!«

»Über 80.000 Piepen! Mehr als 160.000 Mark!« Braunkärsch hatte die Angewohnheit beibehalten, alle Geldbeträge umzurechnen, als wäre die Währungsreform spurlos an ihm vorübergegangen. »Überleg doch mal, Sternberg war ein einfacher Stadtgärtner. Woher hatte er die Knete?«

Die beiden Kommissare hatten einen Kaffeestopp eingelegt und standen am Bistrotisch einer Bäckereifiliale nahe der Hauptpost, gleich ums Eck von Sternbergs Wohnung. Ein Käffchen war schon okay, gegen ein erstes Bierchen und eine Bratwurst hätte Mütze jedoch gleichfalls nichts einzuwenden gehabt. »Ich muss sehen, wie ich meinen Fleischbedarf stille«, pflegte er zu scherzen. Je älter Karl-Dieter wurde, desto vegetarischer kochte er. Wenn das so weiterging, wucherte bald nur noch Grünzeug auf ihren Tellern. Das Lamm heute war eine echte Ausnahme gewesen. Weil Ostern war.

»Die meisten Scheine sahen ziemlich verwuselt aus, das Geld hat sich Sternberg nicht frisch aus dem Automaten gezapft, das hat er sich mühsam zusammengespart.«

»Magst recht haben«, sagte Braunkärsch, »dennoch, als Gärtner! Was wird er schon verdient haben? Und selbst wenn er sich das Geld von den Rippen abgespart hat, warum hat er die Scheine nicht zur Bank getragen?«

»Wozu? Seit die Zinsen verdraghisiert sind, kriegst du doch keinen Cent mehr.«

»Dennoch, 80.000 Euro! Die verwahrt man nicht in einer Keksdose auf.«

»Ich weiß nicht, was du meinst. Die Dose war doch recht hübsch. Oder hast du was gegen die Stadtansicht von Cottbus?«

»Willst du mich verkackeiern?«

»Quatsch, Braunkärsch, im Ernst, du hast natürlich recht, hast ja immer recht. Keksdosen taugen vielleicht für die Skatkasse, nicht aber für 80.000 Euro.«

»Eben. Wenn es der Täter aber auf die Knete abgesehen hatte, warum ist dann alles noch an Ort und Stelle?«

Mütze sah Braunkärsch an und in seinen Augen blitzte es: »Vielleicht, weil er ohnehin alles erbt.«

»Dafür der Aufwand mit der Glocke?«

»Das ist ja das Raffinierte! Er will uns in die Irre führen, aber nicht mit uns!«

Notar Michael von Gleichen war ein höchst bedächtiger Mann. Nur weil zwei Kommissare an seiner Haustür standen, die Auskunft von ihm verlangten, fing er nicht gleich an zu springen. Das war ja gerade das Erfolgsgeheimnis des deutschen Notarwesens, seine ausgesprochen geringe Sprungfreudigkeit. Beim Notar ging alles seinen geordneten Gang, man arbeitete mit Terminen und Fristen, jede Form von Spontaneität war dem Notar fremd, ja suspekt. Mindestens ebenso wichtig wie die Einhaltung formaler Ordnungen aber war dem deutschen Notar die Verschwiegenheit. Bloß weil er im Telefonbuch eines Mordopfers auftauchte, musste er doch nicht in beruflicher Verbindung mit dem Mann stehen. Von Gleichens Empörung speiste sich vor allem aus dem Faktum, dass man sich erdreistete, ihn privat aufzusuchen. Bei dienstlichen Angelegenheiten, und um eine solche handelte es sich zweifelsohne, war er es gewohnt, dass alles über sein Vorzimmer lief. Wie Wasser, das über mehrere Reinigungsstufen geklärt wurde, so wurde jeder Vorgang zunächst durch seine Damen (er sprach immer von seinen Damen, wenn er seine Angestellten meinte) vorbereitet, aufgearbeitet und in eine bekömmliche Form gebracht. Erst dann beschäftigte er sich selbst mit der Sache. Einfach so überfallen zu werden, an der Haustür seines privaten Anwesens, ohne jede Vorankündigung, war ziemlich ungeheuerlich. Noch dazu am Ostersonntag. Nicht, dass er sich in seinem religiösen Empfinden gestört hätte, jedes religiöse Empfinden war von Gleichen fremd, gerne bezeichnete er sich als Freigeist. Ein Feiertag aber war nun mal ein Feiertag.

»Hören Sie, Herr von Gleichen, wir stören wirklich nur ungern, aber wir ermitteln in einem Mordfall. Wer ist der Erbe von Adam Sternberg?«

Der Notar hatte dankend abgelehnt, in den Manta zu steigen. Wenn man ihn schon nötigte, an einem Feiertag in seine Kanzlei zu fahren, dann nahm er selbstverständlich sein eigenes Auto, einen schwarzen Porsche 911. Sein Sohn, der soeben sein zweites Studium abgebrochen hatte, um sich in Ruhe einem dritten widmen zu können, hatte ihn naserümpfend gefragt, wie man sich in der heutigen Zeit nur eine solche Kiste (er hatte tatsächlich »Kiste« gesagt) kaufen könne. Ob er nichts von der Klimakatastrophe gehört habe. So ein Rotzlöffel! »Mit dem Kauf eines Porsches leiste ich meinen Teil gegen die Wegwerfgesellschaft«, hatte von Gleichen seinen Sohn zurechtgewiesen. Kein Auto, das werthaltiger sei. Ein Porsche würde nämlich niemals verschrottet und fände nach 50 Jahren noch seinen Liebhaber. Aber so war die Jugend. Wusste alles besser. Wenn man jedoch einer neuen Freundin imponieren wollte, spielte das Klima plötzlich keine Rolle mehr, dann war Papas Porsche plötzlich genau der richtige Schlitten.

Von Gleichens Notariat befand sich im ersten Stock eines grün gestrichenen Altbaus am Fischmarkt, oberhalb eines italienischen Restaurants, in dem von Gleichen gerne zu Mittag speiste. Wenn er aus seinem stuckverzierten Arbeitszimmer schaute, fiel sein Blick auf den neogotischen Bau des Rathauses und auf die prächtigen Häuser zum Roten Ochsen und zur Güldenen Krone, Renaissancekunst vom Feinsten. Noch reicher verziert war die Fassade des Hauses zum Breiten Herd, ein Anblick, der von Gleichen stets einen schmerzlichen Stich versetzte. Wie gerne wäre er mit seinem Notariat dort eingezogen, ein Konkurrent aber war schneller gewesen. Doch auch seine Räumlichkeiten brauchten sich nicht zu verstecken und sie besaßen den Vorteil, dass man von ihnen die Renaissancefassade des Breiten Herds bewundern konnte, was vom Breiten Herd aus natürlich nicht möglich war. Von Gleichen hatte das Notariat unmittelbar nach der Wende bezogen, zum bestmöglichen Zeitpunkt. Erfurt als Landeshauptstadt boomte, Immobilien wanderten hin und her, schnell war er zu Geld gekommen und seit sich seine Frau darum kümmerte, seine Damen auszuwählen, lief das Notariat wie auf Schienen. Ein dummer Fehltritt, viele Jahre her und zum Glück schon fast vergessen, hatte den Ausschlag gegeben, dass seine Frau von einem Tag auf den anderen die Einstellungsgespräche übernommen hatte. Sie hatte das Notariat an einem Sonntag aufgesucht, um Kopien für einen Benefiznachmittag ihres rotarischen Inner-Wheel-Circles zu machen, als sie im Auswurfschacht des Kopierers den nackten Hintern von Susi gefunden hatte, seiner jungen Chefsekretärin, die ihn am Freitag zuvor, nachdem alle gegangen waren, noch zu einem Quickie verführt hatte. Blöderweise muss von ihnen beiden unbemerkt der Kopierer angesprungen sein, was das Ende ihrer Arbeitsbeziehung bedeutet hatte.

Aufgrund der fantastischen Ordnung, die mit der neuen Personalpolitik Einzug gehalten hatte, fand der Notar Sternbergs Testament auch ohne bürokommunikative Hilfe. Ganz wie er es gewohnt war, händigte er das Dokument jedoch nicht aus, sondern begann, es vorzulesen: »Hiermit bestimme ich, Adam Sternberg, im Falle meines Ablebens, Herrn Kevin Wieland, geboren am 17. April 1996 in Weimar, derzeit wohnhaft im Pegasusweg 32 in Erfurt-Bindersleben, zu meinem alleinigen Erben. Erfurt, den 8. August 2018, gezeichnet Adam Sternberg.«

Bindersleben klebte wie ein Schwalbennest an Erfurts westlichem Rand. Mütze ließ den Manta fröhlich aufheulen. Vorbei ging’s an den Berufsschulen, am Hauptfriedhof mit seinem munter rauchenden Krematorium, immer die Binderslebener Landstraße entlang Richtung Flughafen. Natürlich leistete sich Erfurt einen Flughafen. Schließlich war man Landeshauptstadt und was wäre eine Landeshauptstadt ohne Fluglärm? Vor einigen Jahren hatte man ihn in »Flughafen Erfurt-Weimar« umbenannt. Der krampfhafte Versuch, mit der benachbarten Goethe- und Schillerstadt zu punkten, hatte in Erfurt viel Kopfschütteln hervorgerufen. Mann! Was war denn das für ein Selbstbewusstsein?

Während Mütze Gummi gab, wischte Braunkärsch auf seinem Smartphone herum.

Mütze grinste. »Und? Heute was dabei?«

»Ach, hör uff.«

Seit mehr als drei Jahren schon war Braunkärsch Single. Viel zu lange hatte er seiner Sylvia hinterhergetrauert, hatte vergeblich auf eine zweite Chance gehofft. Nun versuchte er es mit Tinder, konnte sich aber nicht entschließen, eine der Frauen auf die rechte Seite zu wischen. Die einen waren zu attraktiv, vor denen fürchtete er sich, und die anderen, na ja, die anderen wollte er nicht.

»Du musst von der Attraktivität mindestens fünf Punkte abziehen«, lachte Mütze, »weißt schon, wegen Photoshop und so.«

Braunkärsch brummte nur einen unverständlichen Kommentar. Auch verriet er nicht, wer ihn auf Tinder gebracht hatte. Oder wusste es Mütze etwa schon?

Rechts erhob sich lustlos der Tower. Bindersleben war erreicht. Statt zu den Terminals abzubiegen, ließ Mütze seinen Manta in eine südlich gelegene Siedlung rollen. Alle Straßen des Viertels hatte man nach Sternbildern und Sternen benannt, vielleicht als Referenz an die letzten noch abhebenden Flieger: Orion, Capella, Pegasus … Das Haus mit der Nummer 32 war eines dieser freundlich-nichtssagenden Reihenhäuser, wie sie auch in den Weichbildern von Castrop-Rauxel und Buxtehude herumlümmelten.

»Hier könntest du mich nacksch über den Zaun hängen«, sagte Braunkärsch, der zum überzeugten Innenstadtkäfer mutiert war.

Mütze lächelte und drückte die Klingel. Nichts rührte sich. Mütze klingelte ein zweites Mal. Kevin Wieland schien nicht zu Hause zu sein.

»Schönes Wetter heute, nicht wahr?«

Eine ältere Nachbarin mit blumenübersätem Strohhut besprenkelte ihre Osterglocken und grüßte zugleich freundlich über die wellenförmig beschnittene Tujenhecke.

»Mütze, Kriminalpolizei, mein Kollege, Hauptkommissar Stulpenpilz. Können Sie uns sagen, wo Herr Wieland steckt?«

»Kriminalpolizei?« Erschrocken ließ die Frau ihre Gießkanne sinken. »Ist was passiert?«

Statt auf die Frage einzugehen, kramte Mütze ein Foto des Toten aus der Tasche, das er aus dessen Wohnung mitgenommen hatte. »Kennen Sie diesen Herrn?«

Die Frau fingerte nach ihrer Brille, die an einem silbernen Kettchen vor ihrer Gartenschürze baumelte. »Ja, gewiss, der Herr ist mir bekannt. Er hat den jungen Herrn Wieland immer mal besucht. Ich glaube, die beiden sind Kollegen. Herr Wieland ist Gärtner, wissen Sie. Was ist denn mit dem Herrn auf dem Foto?«

»Er ist von hinnen, und zwar nicht ganz freiwillig.«

»Um Himmels willen! Und Sie glauben, dass Herr Wieland …? Nein, niemals! Der junge Mann ist der freundlichste Mensch der Welt, er gibt mir so viele gute Tipps für unseren Garten, der tut keiner Fliege was zuleide.«

»Haben Sie vielleicht mitbekommen, dass die beiden sich einmal gestritten hätten?«

»Nein, nein! Wie kommen Sie darauf? Die zwei sind gute Freunde gewesen.«

»Wo arbeitet Herr Wieland denn?«

»Bei der Stadtgärtnerei. Die haben doch jetzt so viel zu tun, Sie wissen schon, unsere Gartenschau. Aber sagen Sie, der Mann da auf dem Foto, der Freund von Herrn Wieland, das ist doch nicht etwa der Ärmste, den die Gloriosa erschlagen hat?«

Erfurt verstand das Kunststück, Hauptstadt zu sein und zugleich ein Dorf. Noch bevor die Presse über den Mordfall berichten konnte, wussten alle längst Bescheid. Erfurt kam prächtig ohne digitale Netzwerke zurecht, ohne soziale und unsoziale. Von Mund zu Mund lief die Neuigkeit weiter, von Haus zu Haus, von Straße zu Straße. Der Glockenwart des Mariendoms, der wegen des grausamen Glockenklangs auf den Turm geeilt war, hatte den schockierenden Grund in der Sakristei berichtet, so hatten es die Besucher des Ostergottesdienstes erfahren, hatten schnell ihr Kreuzzeichen gemacht, um sich vor der Domtür auszutauschen und dann die Handys zu zücken und Verwandte und Freunde zu informieren. »Es heißt, er habe in der Gloriosa gehangen.« »Kann man’s glauben?« »Er sei total zerklöppelt worden.« »Nein, wie furchtbar!« »So ein Verbrechen!« »Das hätte es früher nicht gegeben.«

Auch am Theater schüttelte jeder ungläubig den Kopf. Zwar kannte man sich in der Bühnenwelt mit blutigen Mordfällen bestens aus, eine solche Moritat aber wäre selbst Shakespeare nicht eingefallen. Viel Zeit für langes Rühren in der Gerüchteküche blieb allerdings nicht, steckte man doch in den finalen Vorbereitungen für die Premieren anlässlich der angelaufenen Gartenschau. Diese sollte ein Erfurter Gesamtkunstwerk werden, nicht allein auf die Präsentation hübscher Blümchen wollte man sich beschränken, alle Bürger der Stadt und erst recht die Kulturschaffenden sollten sich einbringen, das war der Plan. Der Intendant des Erfurter Theaters hatte sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Sebastian Bächlein, der Erfurter Hauskomponist, hatte Les Fleurs du Mal, die Blumen des Bösen, für das Ballett eingerichtet, eine Auswahl von sechs Gedichten Baudelaires, vertont mithilfe assoziativer Klänge. Grandios war das Bühnenbild gelungen, das Karl-Dieter entworfen hatte. Baumhohe Blumen wuchsen aus der Bühne, helle, freundliche Margeriten, welche im Laufe des Stückes allmählich zu schwarzen Monstern welkten, eine technisch schwierige Aufgabe, die Karl-Dieter mit Bravour gelöst hatte, auch wenn er, bescheiden und selbstkritisch, wie er war, alle Vorschlusslorbeeren von sich wies. Morgen war Premiere, das Publikum sollte staunen. Bei der Generalprobe am heutigen Nachmittag war die Öffentlichkeit nicht zugelassen. Nichts sollte nach außen dringen. Das junge Ballettensemble war hoch motiviert und ging bis an die Grenzen seiner körperlichen Leistungsfähigkeit. Besonders gefiel Karl-Dieter ein dunkelhaariger Spanier, Eduardo Contés mit Namen, der sich durch eine große Ernsthaftigkeit auszeichnete. In jeder seiner Bewegungen spürte man, wie er in seiner Rolle aufging, jeder Sprung, jede Drehung war Ausdruck einer enormen inneren Energie, einer völligen Verschmelzung mit der Musik, ja, in manchen Momenten schien es, als würde nicht der Dirigent im Graben, sondern der Körper des jungen Mannes das Orchester leiten. Wenn Eduardo am Ende des Stücks erschöpft auf der Bühne stand, atemlos und schweißgebadet, fühlte Karl-Dieter bei aller Begeisterung eine leichte Sorge in sich aufsteigen. Das konnte auf die Dauer nicht gut gehen. Bei aller Professionalität – und Karl-Dieter liebte Professionalität –, die Gefahr schien nicht gering, dass der junge Mann seinen enormen, ja schon fast übermenschlichen Einsatz bald bitter bezahlen musste.

Wer hatte etwas gesehen? Wer hatte eine Beobachtung gemacht? Wer war in der Nacht zuvor oder am frühen Morgen am Domberg gewesen und hatte mitbekommen, wie jemand die Tür zu den Türmen geöffnet hat? Der Erfurter Domberg war das Zentrum der Stadt, sein Panorama weltweit einzigartig. Selbst der abgebrühteste Atheist verspürte einen Moment der Ergriffenheit angesichts des Ensembles, zu dem der Hohe Dom und die Severikirche verschmolzen. Ihre sechs Türme bildeten die Krone der Stadt. Die freie Treppe mit ihren 70 Stufen, einst »Graden« genannt, führte genau auf das seitlich angebrachte Triangelportal zu, eine raffinierte architektonische Lösung, betrat man gotische Kirchen doch zumeist durch das Westportal, welches sich in Erfurt jedoch an der stadtabgewandten Seite des Domes befand. Die breite Freitreppe verschmälerte sich nach oben zusehends, was den Eindruck der Steilheit des Berges noch hervorhob.

Angesichts der besonderen Umstände des Falls war Mütze sehr damit einverstanden, frühzeitig an die Öffentlichkeit heranzutreten, ja, er selbst hatte ihren Chef, den sie heimlich das Brot nannten, darum gebeten. Seinen Spitznamen trug der Leiter des Kommissariats, weil er mindestens so missmutig dreinschaute, wie Bernd das Brot, ja, der depressive Brotlaib war verglichen mit dem Kriminalbeamten eine echte Stimmungskanone. Nur der alte Pförtner behauptete, beim Brot einmal den Anflug eines Lächelns bemerkt zu haben, gute 20 Jahre her, zumindest habe ein Mundwinkel für einen Sekundenbruchteil die Andeutung einer Verlängerung gemacht, er könne sich jedoch auch täuschen. Winfried Mühlhauser, so der bürgerliche Name des Leiters der Erfurter Kriminalpolizei, stand kurz vor der Pensionierung, in der er sich ganz seinem Hobby, der Erfurter Stadtgeschichte, widmen wollte. Der Tod in der Glocke hatte auch ihn schockiert. Das Attentat am Gutenberg-Gymnasium ausgenommen, war ihm in seinem ganzen Arbeitsleben ein solch brutales Verbrechen noch nicht vorgekommen.

»Das schlimmste Unglück in der Domgeschichte seit dem Erfurter Latrinensturz.«

»Latrinensturz?«

»1184. Der Landgraf von Thüringen und der Bischof von Mainz hatten sich in den Haaren gelegen, wer das Sagen im Lande hat. Kaiser Heinrich war eigens angereist, den Streit zu schlichten. Das ganze Gefolge hatte sich in der Dompropstei versammelt, auf dem zweiten Geschoss, als der Boden nachgab und alles in die Abtrittgrube fiel. 60 Tote soll es gegeben haben, darunter auch der Burggraf von der Wartburg, alle in der Scheiße ertrunken.«

»Prost Mahlzeit!«

»Mütze, Sie haben mein vollstes Vertrauen. Gehen Sie an die Öffentlichkeit, ich sag Linda Bescheid, wir stellen es sogleich auf unsere Facebookseite.«

Linda Bleibtreu war ihre Pressereferentin. Fast hätte Mütze es bedauert, schwul zu sein, in die hübsche Sächsin mit den lustigen Augen hätte er sich sofort verliebt.

»Ich bin keine Sächsin, ich bin Thüringerin«, hatte sie ihm mit gespielter Empörung erwidert.

»Warum sächseln Sie dann?«

»Mein Gott, Mütze, stellen Sie mal die Lauscher auf, ich komme aus Gotha!«

Der Abend war bereits angebrochen, als die beiden Kommissare auf dem Domplatz eintrafen. Sie hatten sich ein zweites Mal mit Udo Binge verabredet, dem Glockenwart des Mariendoms. Der Mittvierziger sah immer noch reichlich mitgenommen aus, das bartlose Gesicht war blass wie ein Blumenkohl, fahrig der Blick.

»Wissen Sie, Herr Kommissar, es ist alles so unwirklich, wie in einem schlechten Horrorfilm. In dem Moment, in dem ich das scheußliche Läuten gehört habe, wusste ich gleich, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. So schnell bin ich noch nie auf dem Turm gewesen. Wie ich oben ankomme, stockte mir der Atem. Ich konnte nicht glauben, was ich mit ansehen musste. Der schwingende Körper in der Glocke, der Klöppel, der abwechselnd gegen den armen Mann und gegen die Gloriosa schlug, und dann das Blut, all das viele Blut. Am schlimmsten aber war das Bersten, als der Kopf des Mannes zwischen Klöppel und Glocke geriet, dieses furchtbare Bersten, es will nicht mehr aus meinen Ohren hinaus. Kennen Sie das Geräusch, das entsteht, wenn man eine Kokosnuss fallen lässt? Furchtbar, einfach furchtbar! Ich hatte noch versucht dazwischenzugehen, aber die Macht der Glocke ist ungeheuer, ich hatte keine Chance, nicht den Hauch einer Chance. Ich konnte nur zuschauen, bis die Gloriosa endlich, endlich zum Stillstand kam.«

Mütze nickte mitfühlend und dankte Udo Binge, dass er dennoch gekommen war und ihnen nicht nur aufschloss, sondern sich sogar bereit erklärt hatte, erneut mit auf den Turm zu steigen.

»Keine Ursache, Herr Kommissar, ich hab zu meiner Gabi gesagt, man soll nicht davonlaufen, sonst wird alles nur noch schlimmer. Wenn ein Kind von einer Schaukel fällt, setzt man es doch sofort wieder darauf, verstehen Sie? Vielleicht verarbeite ich dann alles besser.«

»Und Sie sind sich sicher, dass der Turm tatsächlich abgeschlossen gewesen ist?«, fragte Mütze.

»Hundertprozentig, Herr Kommissar. Die letzte Turmführung habe ich selbst betreut, Samstag, um 16 Uhr, danach hab ich die Tür unten versperrt, ziemlich genau gegen halb fünf, dann bin ich heim zu meiner Gabi.«

»Und sonntags finden wohl keine Führungen statt?«

»Erst später, nach dem Hochamt, das heißt, heute natürlich nicht.«

»Also muss der Täter mit seinem Opfer zwischen Samstag halb fünf und dem Sonntagsgeläut auf dem Turm gewesen sein.«

»Ganz genau. Und er muss auch wieder abgeschlossen haben, die Tür ist nämlich versperrt gewesen, als ich am Sonntag das Geläut anstellen wollte. Wissen Sie, das ist das Schlimmste daran, dass ich es gewesen bin, der die Gloriosa in Gang gesetzt hat. Verstehen Sie, ich hab den armen Kerl auf dem Gewissen, ich hab ihn umgebracht.«

»Aber Sie konnten doch nicht wissen, dass ein Mensch in der Glocke hängt. Sie sind unschuldig, vollkommen unschuldig, genau wie die Glocke.«

»Ich weiß, ich weiß, wissen Sie, wie oft mir das meine Gabi schon gesagt hat? Und dennoch …« Udo Binge griff in die Tasche und zog einen altertümlichen Schlüssel hervor.

»Darf ich mal?«, fragte Mütze, nahm den Schlüssel in die Hand und betrachtete ihn. Auf dem verschnörkelten Griff war eine Glocke zu sehen.

»Schön, nicht? Eine Idee unseres Herrn Bischofs, die Turmschlüssel mit dem Bild der Gloriosa zu verzieren.«

»Wer besitzt denn alles einen Turmschlüssel?«

»In unserem Pfarrbüro hängt einer, außerdem besitzt natürlich der Herr Bischof einen, auch ein paar der anderen Domgeistlichen, natürlich die Turmführer, ja, und auch die Feuerwehr hat einen.«

»Hat jemand seinen Schlüssel als vermisst gemeldet?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Braunkärsch, könntest du das überprüfen?«

»Aber klar doch.«

»Okay, gehen wir!«

147 Stufen waren geschafft, 30 fehlten noch. Dem Glockenwart merkte man die Anstrengung trotz seines elenden Zustandes kaum an, er war das Treppensteigen gewohnt, auch Mütze war trainiert. Während Karl-Dieter die Frühstückseier briet, joggte er jeden Morgen am Ufer der Gera aus der Stadt hinaus und durch den Steigerwald wieder zurück. Einzig Braunkärsch, der gemütliche Typ aus den Thüringer Wäldern, kam ziemlich ins Keuchen. Sie waren ein Stockwerk unterhalb der Gloriosa angelangt, wo die Turmuhr hing.

»Das ist noch das Originaluhrwerk aus dem Jahre 1853, feinste Mechanik«, sagte der Glockenwart und deutete auf Drahtseile, die mehrere Meter lang waren, und ein langsam schwingendes Pendel. »Die Uhr stammt aus Weimar, aus der Werkstatt des Großherzoglichen Hofuhrmeisters Jacob Auch. Sein Präzisionsinstrument funktionierte zuverlässig bis 1920, musste aber jeden Tag per Hand aufgezogen werden und wurde deshalb von einem elektrischen Laufwerk abgelöst. Heute wird die Turmuhr per Funk aus Braunschweig gesteuert, von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt. Wir haben das mechanische Uhrwerk wieder restaurieren lassen, sehen Sie, ist das nicht wundervoll?«

Mütze nickte. Das alles tat zwar nichts zur Sache, dennoch konnte er den Glockenwart verstehen. Viele geschockte Menschen hielten krampfhaft an etwas Gewohntem fest, als könnten sie das aus den Fugen geratene Leben wieder zusammenleimen. Der Leim des Glockenwarts war offensichtlich die Historie des Glockenturms und alles, was damit zusammenhing. Bei allem Verständnis für die Psychologie des Mannes drängte Mütze weiter. Er war schließlich kein Historiker, er musste einen Mörder fangen, und zwar möglichst bald. Bei solch einem spektakulären Fall war der öffentliche Druck enorm.

Eine Minute später standen sie vor der Gloriosa. Erneute staunte Mütze über die riesige Glocke und deren Aufhängung. Links und rechts waren zwei große Schwungräder zu sehen, mit deren Hilfe die Glocke in Gang gesetzt wurde. Durch die Fensteröffnungen sah man auf das Dächermeer von Erfurt hinab und weiter zu den blauen Höhen des Thüringer Waldes, auf dessen höchsten Gipfeln noch der Schnee glitzerte. Den Tatortreiniger hatte man offensichtlich auf die Schnelle nicht von der Ostereiersuche loseisen können, überall klebte noch das angetrocknete Blut. Schwer atmend sank der Glockenwart in die Hocke, während sich Mütze niederkniete, um das Innere der Glocke zu inspizieren.

»Warten Sie, ich mach Licht«, sagte der Glockenwart und drückte einen versteckten Knopf. Aus einem nach oben gerichteten Scheinwerfer flutete es hell in die Glocke hinein.

»Danke!«, sagte Mütze.

Die beiden Kommissare betrachteten die Aufhängung des Klöppels genauer. Um einen Strick darum legen zu können, musste man entweder am Klöppel hinaufklettern, was unwahrscheinlich erschien, oder einen Stuhl benutzen. Ein vergleichbarer Gegenstand kam natürlich auch infrage.

»Nur ein Riese käme aus dem Stand an die Aufhängung heran«, sagte Braunkärsch und blickte sich um. »Was ist mit dem Ding da vorne?«

Unter einem Balken stand eine verstaubte Holzkiste mit dem Aufdruck Leihverpackung DGS.

»Manchmal will ein Kind aus der Besuchergruppe den Klöppel anfassen«, sagte der Glockenwart, »dann ziehen wir die Kiste heran.«

Mütze pfiff durch die Zähne. Er schob die Kiste mit dem Fuß unter die Gloriosa und stellte sich darauf. Aus dem Inneren der Glocke dröhnte seine Stimme auf unheimliche Weise.

»Der Täter schlägt Sternberg nieder, bindet dessen Füße mit einem Strick zusammen, steigt auf die Kiste, fädelt den Strick durch die Öse, steigt vom Hocker wieder herunter und zieht sein bewusstloses Opfer langsam hinauf, bis sich dessen Kopf genau auf der Höhe der Klöppelverdickung befindet.«

»Dem Ballen«, korrigierte der Glockenwart.

»Dem was?«

»Dem Klöppelballen. So nennt man das, was Sie Verdickung nennen.«

»Okay. Dann steigt der Täter erneut auf den Hocker und bindet den Strick oben zusammen«, ergänzte Braunkärsch.

»Und muss nur noch darauf warten, dass die Gloriosa zu schwingen beginnt, exakt um 10.45 Uhr, eine Viertelstunde vor Beginn des Ostergottesdienstes.«

»So wie es in der Zeitung wie üblich angekündigt worden ist.«

»Entschuldigen Sie, wenn ich mich erneut einmische«, sagte der Glockenwart, »aber die Gloriosa hat bereits vorher zu schwingen begonnen. Exakt um 10.42 Uhr und 30 Sekunden habe ich unten auf den Knopf gedrückt.«

Mütze sprang von der Kiste herab und sah den Glockenwart mit großen Augen an.

»Es dauert«, sagte Udo Binge. »Was meinen Sie, welchen Anlauf solch eine Glocke benötigt, bis sie auf den Klöppel trifft? Bei kleineren Glocken geht das Läuten natürlich viel schneller, bei der Gloriosa aber dauert es exakt zweieinhalb Minuten, bis ihr erster Ton erschallt.«

»Das heißt, auch der Mann in der Glocke wurde zweieinhalb Minuten hin und her geschaukelt, bis ihn die Gloriosa traf?«

»Nein, nein, umgekehrt. Der Klöppel bewegt sich ja nicht, also nicht aktiv, die Glocke schwingt und trifft dann, wenn sie genug Schwung aufgenommen hat, auf den Klöppel. Aber das dauert eben seine Zeit, zweieinhalb Minuten.«

»Okay, verstehe«, sagte Mütze, »es kann also sein, dass das Opfer von dem einsetzenden Schwingen nichts mitbekommen hat, bis ihn die Glocke mit voller Wucht gegen den Kopf traf.«

»Mit voller Wucht nicht unbedingt, wie gesagt, sie schwingt sich ja zunächst ein«, sagte der Glockenwart, »auch hängt vieles davon ab, wo genau sich sein Kopf befunden hat. Vielleicht hat die Glocke zunächst auch den Klöppel getroffen, weil der Kopf des Mannes in dessen Schatten lag.«

Mütze trat vor, zog Einmalhandschuhe über und umfasste den Klöppelballen mit beiden Händen.

»Wie schwer ist der Klöppel?«

»Genau 366 Kilogramm.«

»Okay. Dann dürfte das auf das Gleiche hinauslaufen«, sagte Mütze, »jedenfalls ist Sternberg nicht gleich tot gewesen, ist aufgewacht und hat sich zu wehren versucht.«

Er musste an die zerquetschten Hände des Toten denken und was ihm der Professor dazu gesagt hatte. Mütze packte den Klöppel mit beiden Händen und stemmte sich dagegen, sodass das blutverschmierte Eisen leicht zu schwingen begann. Was würde er selbst machen, wenn man ihn in die Glocke hängen würde? Vielleicht nach dem Klöppel greifen und versuchen, sich an ihm hochzuziehen? Konnte das gelingen? Zumindest war es einen Versuch wert, sich vom Klöppel in die entgegengesetzte Richtung abzustoßen, wenn die Glocke auf einen zukam. Der Todeskampf jedenfalls wird sich hingezogen haben.

»Haben Sie denn niemanden schreien gehört?«

»Schreien gehört? Wenn die Gloriosa läutet?« Der Glockenwart schüttelte verständnislos den Kopf.

Mütze verstand. Sein Blick fiel auf den Boden, wo noch das Muster der Blutspuren zu sehen war, Schlingen und Schleifen wie gemalt. Die Nelke war nicht mehr zu sehen.

Es war schon gegen zehn, als Wullkopf, der Chef der Spurensicherung, im Kommissariat eintraf. Mütze sprang auf und bot ihm einen Stuhl an. Auch Braunkärsch und das Brot saßen mit am Tisch. Wullkopf setzte sich dankend. Viel hatte er nicht zu berichten.

»Alle Blutspuren, die wir bislang untersucht haben, stammen eindeutig von Sternberg. Auch die Haarpartikel am Klöppel und an den Rändern der Gloriosa sind dem Opfer zuzuordnen. Den Strick untersuchen wir noch auf Anhaftungen, bislang negativ. Fingerabdrücke an der Tür zum Turm haben wir genügend gefunden, der Abgleich mit der Datenbank ergab keinen Treffer, vielleicht haben wir es mit einem neuen Kunden zu tun.«

Mütze verzog die Mundwinkel. Dass man Fingerabdrücke an der Tür gefunden hatte, hieß überhaupt nichts. Wer wird die Klinke nicht alles in die Hand genommen haben? Hunderte von Touristen besuchten den Glockenturm jeden Tag, das hatte ihnen der Glockenwart erzählt.

»Was ist mit der Nelke?«

»Gehörte dem Toten. Hatte er in einem Knopfloch getragen, winzige Pflanzenfasern am Anzug stimmen mit der Nelke überein.«

Der schnieke Anzug, die Nelke. Alles sprach dafür, dass sich Sternberg zu einem Rendezvous verabredet hatte. Das Treffen muss eine Falle gewesen sein. Diejenige Person, die sich mit ihm verabredet hatte, musste mit dem Mörder identisch sein oder doch zumindest mit ihm unter einer Decke stecken. Dass man Sternberg auf dem Weg zu seiner Verabredung abgepasst und auf den Turm gelockt hat, war nahezu auszuschließen.

»Sonst hätte sich die Dame seines Herzens doch sicher Sorgen gemacht und sich an uns gewandt«, sagte Braunkärsch.

»Kann sein, muss nicht sein«, gab Mütze zu bedenken, »wie viele Damen müssen sich damit abfinden, sitzen gelassen zu werden? Wenn jede von ihnen zu uns rennen würde, hätten wir viel zu tun.«

»Mensch, Mütze. Du ein Frauenversteher?«

»Kannste mal sehen. Im Ernst, morgen steht Sternbergs Name in allen Zeitungen, dann werden wir ja mitbekommen, ob sich jemand meldet, der sich die Augen ausgeweint hat.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. In der heutigen Zeit sind Blind Dates schwer in Mode.«

»Blind Dates?« Der Leiter des Kommissariats schaute verwirrt, soweit das sein trauriger Dackelblick zuließ.

»Verabredungen, ohne viel von dem anderen zu wissen, nicht mal den wirklichen Namen.«

Weder einen Geldbeutel noch ein Handy hatten sie gefunden, nicht bei der Leiche und nicht in Sternbergs Wohnung. Dieses Faktum schloss zwar einen Raubmord nicht aus, die Durchführung der Tat dafür umso mehr. Welcher gewöhnliche Räuber würde einen solchen Aufwand betreiben, um an ein Handy und ein bisschen Kohle zu kommen? Die Entwendung aller persönlichen Gegenstände konnte nur einen Grund haben: Der Täter fürchtete sich vor Spuren, die auf ihn hindeuteten.

»Wir haben einen Anschluss ermitteln können, der auf Sternbergs Namen läuft. Der Anschluss ist tot, das Handy muss ausgeschaltet worden sein und mehr als das, vermutlich hat man den Akku entfernt oder das Handy komplett zerstört«, sagte Wullkopf.

»Das Bewegungsprofil vor der Tat?«

»Sind wir noch drüber. Die Telefongesellschaft ist kontaktiert.«

»Gut.«

Ein Bewegungsprofil von Sternberg, seine letzten Wege vor seinem Tod, konnte sehr aufschlussreich sein. Wo war Sternberg losgelaufen? Wann war er am Dom eingetroffen? Welche anderen Handys hatten sich zur gleichen Zeit am selben Ort eingeloggt? Mit etwas Glück kamen sie auf diesem Weg weiter.

Mützes Handy schlug an. Es war die Pforte, ein Anruf für ihn, ein gewisser Kevin Wieland wolle ihn sprechen.

»Stellen Sie durch! – Herr Wieland? Sind Sie zu Hause? Bleiben Sie, wo Sie sind. Wir kommen vorbei.«

Das Wetter war umgeschlagen. Ein übler Nordwest trieb fette Wolken gegen die Höhen des Thüringer Waldes, es fing kräftig an zu plästern. Die Wischblätter des Mantas taten, was sie konnten. Der Verkehrsbericht warnte vor Neuschnee auf dem Rennsteig. Nicht ungewöhnlich für diese Jahreszeit, meinte Braunkärsch, der aus Ilmenau stammte.

»Im Grunde gibt es nur zwei Monate, die dort oben garantiert schneefrei sind, Juni und Juli. Selbst Ende August hat es schon geschneit.«

Braunkärschs Gesicht trübte sich ein, während er das sagte. Für kein Geld der Welt würde er mehr einen Fuß in die alte Heimat setzen. Nicht, dass er keine glücklichen Erinnerungen an seine Kindheit gehabt hätte, im Gegenteil. Seine Kindheit war ihm als einziger Traum erschienen, ein kleines Paradies voller Geheimnisse und Geborgenheit. Die ungezwungenen Spiele mit seinen Kameraden an den Ufern der Ilm, die nahen Wälder mit ihren Verstecken, die unbegrenzten Freiheiten ihrer kleinen Welt, der Duft des Pflaumenkuchens am Gartentisch seiner Großmutter. Seine größte Freude aber war es gewesen, nach Spuren von Unfällen zu fahnden. An einer gefährlichen Kurve am Ortseingang, nicht weit von seinem Elternhaus, hatte es immer mal wieder ein Auto gegen einen Alleebaum geschleudert. Sofort war er los und hatte im Straßengraben nach Spuren des Unfalls gesucht. Wie groß war seine Freude gewesen, wenn er etwas gefunden hatte, einen abgerissenen Autospiegel, ein zerbrochenes Blinkerglas, einmal sogar einen kompletten Kotflügel. Mithilfe seiner Schätze hatte er versucht, den Unfallhergang zu rekonstruieren.

Seit er sich erinnern konnte, war es sein größter Wunsch gewesen, eine Ausbildung zum Polizisten zu absolvieren und dann in seine Heimatstadt zurückzukehren. Doch wehe, wenn sich Wünsche erfüllen! Die Rückkehr nach Ilmenau sollte zu seinem größten Albtraum werden. Was er dort hatte erleben müssen, ließ ihn nicht mehr los. Am Schlimmsten war diese Stimme, die Stimme der Mutter. Sie verfolgte ihn bis in die Nächte hinein. Oft konnte er darauf nicht weiterschlafen, ja, wollte nicht weiterschlafen, um nicht erneut diesen Traum zu träumen. Dann stand er auf, erschöpft und todmüde, setzte sich an den Tisch und wartete, wartete darauf, dass endlich der Morgen graute. Nein, nie wieder wollte er nach Ilmenau zurück.

Erfurt tat ihm gut, die Geräusche der Stadt, das quirlige Leben, all das beruhigte ihn. Nie hätte er sich das früher vorstellen können. Wenn spätabends das Rattern der nahen Straßenbahn an sein Ohr drang, empfand er das als süßen Trost und er schlief leichter, wenn es gelang, sogar bis zum nächsten Morgen.

Braunkärsch betrachtete melancholisch den schmalen Silberring an seiner linken Hand. Um wie viel mehr hatte er Erfurt genossen, als Sylvia noch bei ihm gewesen war. Sie hatte den Schmerz seiner Verwundungen gelindert und ihm dann eine neue Wunde zugefügt. Drei Jahre war das jetzt her. Warum ihn Sylvia verlassen hatte, verstand er bis heute nicht. Es hatte keinen Streit gegeben, keine heftigen Diskussionen, nichts. Eines Tages hatte sie die Koffer gepackt und war davon. Ein kleiner Zettel auf dem Tisch mit einem kurzen Abschiedsgruß, das war alles gewesen. Auch diese Wunde wollte nicht heilen.

Bindersleben war erreicht. Einer der seltenen Flieger kämpfte sich zum Wolkengrau hinauf, aus dem ein heftiger Guss niederging. Kurz nach dem Ortsschild bog Mütze links ab. Im Pegasusweg 32 waren die Vorhänge zugezogen, dahinter schimmerte Licht. Mit hochgezogenen Mantelkrägen eilten die Kommissare zur Eingangstür und drückten die Klingel. Ein junger durchtrainierter Mann in Jogginganzug und Sportschlappen öffnete auf das Klingeln so rasch, als hätte er hinter der Tür gewartet. Seine braunen Haare trug er an den Scheiteln ausrasiert, der Schopf hing ihm tief über die Stirn, wie es jetzt bei jungen Leuten Mode war.

»Herr Wieland?«

»Jawohl, Kevin Wieland.«

Die Kommissare traten ein, Kevin Wieland schloss die Haustür schnell wieder, denn ein heftiger Regenschauer jagte ihnen hinterher. Zusammen gingen sie in die Wohnküche.

»Meine Frau Lisa.«

Am Küchentisch saß eine schlanke Frau mit blonder Kurzhaarfrisur.

»Ich geh nach oben«, sagte sie.

»Nein, nein, bleib doch ruhig, Schatz, wenn es die Herren nicht stört«, erwiderte ihr Mann.

Mütze und Braunkärsch hatten keine Einwände und setzten sich dazu.

»Meine Nachbarin hat mir einen Zettel an die Tür geklebt, dass die Polizei bei uns gewesen ist. Waren Sie das? Wir haben meine Schwiegereltern in Arnstadt besucht und sind eben erst nach Hause gekommen. Was ist denn passiert?«

»Herr Wieland, kannten Sie Herrn Sternberg?«

»Sternberg? Moment, Sie meinen Adam Sternberg? Na klar, kenne ich Adam! Aber wieso kannten? Was ist mit Adam?«

»Er ist tot.«

Lisa Wieland schlug sich auf den Mund, dennoch entfuhr ihr ein unterdrückter Schrei. Entsetzt starrte sie Mütze an und auch ihr Mann war sprachlos.

»Tot? Warum denn tot?«, fragte er stotternd.

»Wir müssen davon ausgehen, dass er getötet worden ist«, sagte Mütze.

»Um Himmels willen, wer war das? Wer hat Adam umgebracht?«

»Woher kannten Sie Herrn Sternberg?«

»Adam ist ein guter Freund, wir sind Kollegen, arbeiten zusammen bei der Stadt als Gärtner.«

»Wann haben Sie Adam Sternberg das letzte Mal gesehen?«

»Am Donnerstag. Karfreitag hatten wir beide frei, da musste nur der Notdienst ran. Wir sind beide oben am Petersberg eingesetzt worden, letzte Arbeiten an den Tulpenbeeten, Sie wissen schon, die Gartenschau. Alles etwas hektisch im Moment.«

»Ist Ihnen etwas an Ihrem Kollegen aufgefallen? Hat er von seinen Plänen für die Ostertage erzählt?«

»Adam? Nein, kann mich nicht erinnern. Wir haben nur wenig Privates ausgetauscht.«

»Aber Sie waren doch befreundet. Ihre Nachbarin hat erzählt, er hätte Sie immer mal besucht.«

»Ja, schon. Zum Grillen und so. Wir haben uns wirklich gut verstanden, aber es ging doch immer um den Job oder um Fußball und so.«

»Hat er Ihnen nicht erzählt, dass er ein Rendezvous hatte?«

»Ein Rendezvous? Adam, tatsächlich? Nein, davon weiß ich nichts.«

»Aber dass Sie als Erbe eingesetzt worden sind, das wissen Sie vermutlich.«

Bei diesen Worten nahm Mütze den Gärtner scharf in den Blick. Täuschte er sich oder hatte dessen linkes Auge für einen kurzen Moment gezuckt? Und diese Bewegung zum Hals, dieses unsichere Kratzen, was hatte es zu bedeuten?

»Also was jetzt? Wissen Sie es oder nicht?«

Die beiden Eheleute sahen sich kurz an, dann nickte der Gärtner stumm.

»Ist das ein Ja?«

Wieder nickte Wieland.

»Ungewöhnlich, oder? Einen Kollegen als Erben einzusetzen?«

Wieland sagte nichts darauf.

»Herr Wieland, wo waren Sie in der Zeit zwischen Samstag, 16.30 Uhr und Sonntag, 11.45 Uhr?«

»Wie gesagt, heute sind wir zum Osterbrunch bei meinen Schwiegereltern in Arnstadt gewesen.«

»Wann sind Sie dorthin aufgebrochen?«

»So gegen neun.«

»Und von gestern Nachmittag bis heute um neun, wo sind Sie da gewesen?«

»Zu Hause bei meiner Frau.«

»Das können Sie sicher bestätigen, Frau Wieland.«

Lisa Wieland griff nach der Hand ihres Mannes und sagte mit fester Stimme: »Genauso ist es, Herr Kommissar.«

*

Wie gut das tut, endlich von dem schrecklichen Blut befreit zu werden. Wie dankbar ich ihm bin, dem Mann in dem weißen Anzug. Mitten in der Nacht ist er noch zu mir hinaufgestiegen. Er gibt sich redliche Mühe, die hässlichen Spuren zu beseitigen. Wie behutsam er mit dem Lappen über meine Kanten fährt, mit einer einfachen Seifenlauge hat er ihn getränkt, nicht mit scharfen Chemikalien. Wieder und wieder taucht er den Lappen in seinen Eimer, wringt ihn aus, sodass es rot in den Behälter tropft. Mit jedem Mal aber wird das Rot heller, bis sich der Lappen nicht mehr verfärbt. Jetzt nimmt der Mann ein weiches Tuch, reibt mich trocken, gibt mir meine Unschuld zurück.

Natürlich können Sie einwenden, ich hätte meine Unschuld nie verloren, ich wäre doch unschuldig an dem, was passiert ist, und natürlich hätten Sie recht. Dennoch, mein Gefühl ist ein anderes. Auch wenn ich nichts dafür konnte! Der arme Mensch, den man in mich hineingehängt hat, was hätte ich gegeben, wenn ich ihm hätte ausweichen können. Er kam einfach auf mich zu, kam näher und näher, mit dem Kopf dicht am Klöppel hängend, bis ich ihn erwischt habe. Wie hat er geschrien, wie hat das Echo widergehallt! Doch meine Stimme war lauter, bedeutend lauter, sein Schrei ging unter, während ich immer fester zu schwingen begann, schwingen musste, so wie es von mir verlangt wird. Wie hat er mich angesehen, mit weit aufgerissen Augen, wie hat er mir seine Hände entgegengestreckt. Ach, der Tor! Hat er wirklich geglaubt, mein Schwingen stoppen zu können? Als ich seine Arme mühelos weggedrückt habe, hat er versucht, die Hände schützend vor seinen Kopf zu legen, auch das vergebens. Geriet sein Schädel zwischen den Klöppel und mich, krachte er zum Steinerweichen, ein furchtbares, grausames Geräusch. Dann sanken seine Arme hinab, es war vorbei mit ihm, endlich vorbei. Ich aber musste weitermachen, immer noch weitermachen, bis man mich endlich ausschwingen ließ. So schlimm hat meine Stimme nie zuvor geklungen.

Wie dankbar bin ich dem Mann in dem weißen Anzug. Jetzt reinigt er noch meinen Klöppel, reinigt ihn mit der gleichen Liebe und Umsicht wie zuvor mich selbst. Dass es schon nach Mitternacht ist, scheint ihm nichts auszumachen. Wenn alle Menschen so wären, nichts Böses gäbe es auf dieser Welt.

Der Fall Gloriosa

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