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Ostermontag

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Fulgus arcens et demones malignos


(Ich wehre die Blitze und die bösen Geister –

Inschrift der Gloriosa)

Karl-Dieter war früher auf als gewöhnlich. Das musste am Lampenfieber liegen. Es war verrückt, selbst nach all den Jahren am Theater ließ es ihn nicht los. Bei der gestrigen Generalprobe hatte bei einer der Blumen der Welkmechanismus versagt, bis spätabends hat er noch an ihr herumgeschraubt. Wenn das heute bei der Premiere passieren sollte!

Auf die Idee mit den Blumen war er bei einer Urlaubsreise durch die Dordogne gekommen. Es war bereits Ende September gewesen, Spätsommer. Bei einer Überlandfahrt hatten sie ein Sonnenblumenfeld passiert, das man vergessen hatte zu ernten. Unwillkürlich hatte er »Stopp!« gerufen und Mütze war in die Bremsen getreten. Was für ein unsäglich trauriger Anblick war das gewesen! Alle Sonnenblumen, vom Sommer verbrannt und vertrocknet, hatten ihre schwarzen Köpfe hängen lassen, alle in die gleiche Himmelsrichtung. Wie Gefangene, die auf ihre Hinrichtung warten, war es Karl-Dieter durch den Kopf geschossen. Schnell hatte er ein Foto gemacht, dann waren sie weitergefahren. Dieses Bild hatte in ihm weitergewirkt, nun hatte er versucht, es auf der Bühne nachzubauen: Les Fleurs du Mal.

Karl-Dieter holte das Müsli aus dem Kühlschrank. Wie üblich hatte er es über Nacht quellen lassen, er liebte die schmeichelnd-weiche Konsistenz der Haferflocken. Ein paar frische Früchte darüber, ein paar Körner aus dem Reformhaus und das Frühstück war perfekt. Mütze durfte er nicht mit Müsli kommen. Mütze freute sich auf seine immer gleiche Audi-Schnitte, ein Toast mit vier Scheiben Aldi-Salami, die wie die Audi-Ringe übereinanderlappten. Mütze war und blieb eben ein Prolet, dachte Karl-Dieter, als er mit spitzen Fingern nach der Wurst griff. Man ist, was man isst, hatte er mit Ludwig Feuerbach einmal kritisch anzumerken gewagt, worauf Mütze spöttisch gefragt hatte, ob Karl-Dieter gern ein aufgequollenes Müsli wäre. So foppten sie sich gelegentlich, im Grunde aber waren sie noch immer ein Superteam, fand Karl-Dieter, meistens jedenfalls, solange er das Babythema ausklammerte. Ohne gewisse Kompromisse konnte keine Beziehung funktionieren. Was hätte er zum Beispiel drum gegeben, beim Frühstück seinen rosaroten Seidenmorgenmantel zu tragen, das geile Teil mit den weißen Spitzen am Kragen. Das hatte überhaupt nichts mit tuntig zu tun, der Fummel war einfach nur schick. Einen ähnlichen Morgenmantel hatte Heidi Klum während ihrer letzten Flitterwochen getragen, und wer verstand mehr von Mode? Mütze und seine antiquierten Ansichten. War es etwa geschmackvoller, in den immer gleichen Shorts und dem immer gleichen schwarzen T-Shirt am Frühstückstisch herumzulümmeln?

Zischend verkündete die Kaffeemaschine, dass sie ihren Job getan hatte. Wo Mütze nur blieb? Mit leichter Besorgnis sah Karl-Dieter zum Fenster hinaus. Die morgendliche Joggingrunde musste doch längst zu Ende sein. Im selben Moment sah er den Freund um die Ecke biegen, mit leichtem Schritt, die Bäckertüte in der Hand. Kein Morgen verging, an dem Mütze ihm beim Joggen nicht eine Nussecke besorgte. Gerührt und erleichtert fischte Karl-Dieter noch rasch eine Essiggurke aus dem Glas, schnitt aus dieser eine dünne Scheibe heraus und aus der Gurkenscheibe wiederum ein Herzchen, das er liebevoll auf die Audi-Ringe legte. Jetzt war das Frühstück perfekt!

Mütze hatte gerade krachend in den Toast gebissen, als sein Handy fröhlich zu musizieren begann.

»Braunkärsch, was gibt’s? … Wie bitte, was sagst du? … Du weißt, von wem der Schlüssel stammt? Mensch, super! Magst du nicht vorbeikommen und es mir verraten? … Nein, du störst überhaupt nicht«, sagte Mütze schmatzend und blinzelte Karl-Dieter zu, »bekommst sogar noch was vom Frühstück ab.«

Karl-Dieter hatte nichts dagegen. Bei jedem anderen vielleicht, aber nicht bei Thomas. Er redete ihn immer bei seinem Vornamen an und nie mit seinem Spitznamen. Braunkärsch! Wie blöd klang das denn! Man durfte doch einen Menschen nicht wie ein Gemüse nennen. »Wieso nicht?«, hatte Mütze fröhlich geantwortet. »Was hältst du davon, wenn ich künftig ›mein süßes Blumenkohlröschen‹ zu dir sage, klingt das nicht reizend?« Gleich in seiner ersten Erfurtwoche hatte Mütze ihm seinen neuen Kollegen vorgestellt und Karl-Dieter war ihm dankbar dafür gewesen. Wenn man in eine neue Stadt kam, was gab es da Wichtigeres, als neue Freunde zu finden? Und Thomas war wirklich ein feiner Kerl, auf Anhieb hatte er sich mit ihm verstanden. Karl-Dieter ist es auch gewesen, der Thomas ermuntert hatte, es bei Tinder zu versuchen. »Geht ganz einfach, sollst sehen!« Der Kommissar hatte zunächst skeptisch das Gesicht verzogen. Liebe übers Internet, wo bliebe denn da die Romantik? »Die kommt eben später«, hatte Karl-Dieter gesagt und sich zu ihm aufs Sofa gesetzt. »Komm, Thomas, lass uns einfach mal anfangen.«

Es war doch nicht normal, dass ein Mann Mitte 40 allein durchs Leben lief. Und nach drei Jahren konnte man auch nicht mehr von Trauerarbeit sprechen, dann lief man nur Gefahr, ein Hagestolz zu werden. Thomas hatte vergeblich versucht, ihm zu erklären, warum die Beziehung zu Sylvia in die Brüche gegangen war. Wie hätte er das auch anstellen können, verstand er es doch selber nicht. Und so hatte es auch Karl-Dieter nicht verstehen können, musste er ja auch nicht. Was er aber verstand, war, dass Thomas dringend eine neue Freundin brauchte. Manche Dinge durfte man einfach nicht auf die lange Bank schieben, man verhärtete innerlich und alles wurde nur umso schwieriger. Auch begann man, sich gewisse Macken zuzulegen, man wurde unflexibler im Umgang mit anderen, vielleicht auch unwilliger, Kompromisse einzugehen, eine gefährliche Entwicklung, weil sie sich schleichend vollzog, sodass der Betroffene sie leicht übersehen konnte.

Rasch stand Karl-Dieter auf und entschuldigte sich. Es wäre ihm peinlich, Thomas im Morgenmantel zu begrüßen. So ging er in die Ankleide, um sich etwas Vernünftiges überzuziehen. Auf seine Ankleide würde er niemals mehr verzichten. In Erfurt hatten sie sich zum ersten Mal den Luxus eines begehbaren Kleiderschranks gegönnt, das heißt, natürlich war es Karl-Dieters Idee gewesen, Mütze zog seine sieben Sachen weiter aus der alten Kommode, einem Erbstück von Tante Dörte. Seit einiger Zeit war es Karl-Dieter lieber, wenn ihm niemand beim Anziehen zusah. Ob das eine Frage des Alters war? »Auch Tiere gehen zum Sterben gerne in die Einsamkeit«, hatte Mütze trocken bemerkt. Manchmal konnte man ihn glatt gegen die Wand donnern!

Vom Dom war es nicht weit zu ihrer Wohnung im Brühl. Nichts war wirklich weit in Erfurt. Im Grunde kam man prima ohne Auto aus. Aber klar, ein Kommissar konnte schlecht zu Fuß durch die Stadt schlurfen. Erstens musste er immer damit rechnen, einen Ganoven verfolgen zu müssen, und zweitens und überhaupt: Wie sah denn das aus? Braunkärsch stellte seinen Moskwitsch 412, »das robusteste Auto der Welt«, wie er gerne behauptete, mitten in die schönste Anwohnerparkzone. Das waren die kleinen Vorteile eines Bullenlebens, zumindest brauchte man sich nie wieder Parkplatzsorgen zu machen.

Als Braunkärsch klingelte, stand ein drittes Gedeck schon bereit. Braunkärsch behauptete zwar, bereits gefrühstückt zu haben, bediente sich aber kräftig am Rührei, das Karl-Dieter noch auf die Schnelle gezaubert hatte. Der Kollege behauptete, es sei das beste Rührei, das er je gegessen habe, ein Kompliment, das Karl-Dieter natürlich freute. Er gab immer einen Schuss frische Milch hinzu und auch eine kleine Prise Puderzucker, so wie er es beim Erlanger Hausfrauenbund gelernt hatte. Und, klar, etwas frischer Schnittlauch gehörte auch darüber gestreut, Brunnenkresse hätte er in diesem Fall noch lieber genommen, nur hatte er leider gerade keine im Gemüsefach.

»Nun aber raus mit der Sprache, Braunkärsch, wer vermisst seinen Schlüssel?« Mütze konnte seine Neugier nicht länger verbergen.

»Monsignore van Ackeren.«

»Wer, zum Teufel?«

»Mütze!« Karl-Dieter legte tadelnd die Stirn in Falten.

»Einer der Domgeistlichen«, sagte Braunkärsch rasch. »Ich bin noch vor der Frühmesse in die Sakristei, der Monsignore war gerade dabei, sich sein Messgewand überzustreifen, da hab ich ihn nach seinem Turmschlüssel gefragt. Verblüfft hat er in seine Manteltasche gegriffen, seinen Schlüsselbund herausgezogen und nachgesehen. Dann wurde er ganz blass. Es ist seiner, sein Turmschlüssel fehlt!«

»Wann hat er ihn denn zum letzten Mal benutzt?«

»Das hab ich ihn natürlich auch gefragt, das wusste er nicht mehr genau. Ewig lang sei er nicht mehr auf den Türmen gewesen, wegen seines Rheumas meide er jede Anstrengung. Wann er den Schlüssel denn zuletzt an seinem Schlüsselbund bemerkt hat, hab ich ihn gefragt, auch das konnte er mir nicht beantworten. Jemand muss ihn gestohlen haben.«

»Und dieser Jemand ist …«

»Der Täter!«

Karl-Dieter sah ihnen aus dem Fenster hinterher, beobachtete, wie sie zusammen in Mützes Manta stiegen. Vielleicht sollte er selbst mal jemanden einladen, jemand aus dem Theater am besten. Wie wäre es mit Eduardo, dem begabten Tänzer? Er könnte ja gerne auch eine Freundin mitbringen oder einen Freund, wenngleich nichts danach aussah, dass der junge Spanier verpartnert war. Nach den Proben, wenn die anderen noch gemeinsam loszogen, um etwas in der Stadt zu erleben, ging Eduardo stets allein nach Haus. Vielleicht war er einsam. Ein besonderes Talent konnte leicht in die Einsamkeit führen. Der Junge brauchte jemanden, der sich um ihn kümmerte. Karl-Dieter spürte das.

Ronny Kapsack war kein Mann der großen Worte. Auf Mützes Bitte hatte er die ganze Mannschaft zusammengetrommelt, Feiertag hin oder her. Schließlich galt es, der Polizei dabei zu helfen, den Tod von Adam aufzuklären. Man traf sich oben auf dem Petersberg, im hinteren Teil der Defensionskaserne, eine der Hauptbauten aus Erfurts preußischer Zeit. Der Raum diente als Sozialraum für die Gärtner vor und während der Bundesgartenschau.

»Der Schurke gehört für immer weggesperrt«, begrüßte der Chef der Gartenbrigade die Kriminalkommissare, »legen Sie los mit Ihren Fragen, meine Mannschaft steht zu Ihrer Verfügung!«

An der Biertischgarnitur saßen fünf Männer und drei Frauen unterschiedlichen Alters. Alle trugen sie grüne Arbeitslatzhosen und Gummistiefel, auch wenn heute nur wenige im Einsatz sein konnten. Offensichtlich hatte ihr Chef ihnen das professionelle Outfit befohlen. Auch Kevin Wieland war mit dabei. Mütze hatte ausdrücklich darauf bestanden. Der junge Mann saß ganz außen, neben einer hennaroten Kollegin mit jeder Menge Piercings in den Ohren. Mütze nahm Wieland immer wieder in den Blick. Täuschte er sich oder wirkte es nur so, dass er nicht ganz dazugehörte?

Ronny Kapsack, der Obergärtner, hatte sich in einen Plastikstuhl fallen lassen. Mütze überließ Braunkärsch das Wort. Etwas Thüringisch konnte nicht schaden, das lockerte die sichtlich angespannte Atmosphäre vielleicht etwas auf.

»Nun, ich will mich kurzfassen«, begann Braunkärsch, der kein großer Redner war, »wie ihr wisst, ermitteln wir in Sachen Tod von Adam Sternberg. Wer von euch hat eine verdächtige Beobachtung gemacht?«

Schweigen. Die versammelte Gärtnermannschaft sah Braunkärsch nur regungslos an.

»Hat Adam Sternberg vielleicht jemandem erzählt, was er Ostern vorhatte? Es gibt Hinweise, dass er zu einem Rendezvous unterwegs war.«

Einige der Gärtner schauten Richtung Kevin Wieland, was diesem offensichtlich unangenehm war.

»Was glotzt ihr mich denn so an? Ich hab den Herren Kommissaren schon erzählt, dass ich nichts weiß.«

»Okay«, sagte Braunkärsch, der sich zusehends unwohler in seiner Haut fühlte, »ich verteile jetzt unsere Autogrammkarten. Wem noch ein sachdienlicher Hinweis einfällt, der möge sich bitte an uns wenden.«

Ronny Kapsack entließ seine Mannschaft mit knappen Worten.

»Tja, tut mir leid, die Herren.«

»Kein Thema«, sagte Mütze, »Ihre Meinung würde mich noch interessieren. Was war Adam Sternberg für ein Mensch?«

»Für ein Mensch?« Die Frage schien Kapsack zu verblüffen. »Nun, Adam war ein guter Arbeiter, fleißiger Mann, vielleicht nicht mehr ganz so leistungsfähig wie früher, aber wer von uns ist das schon, nicht wahr, Herr Kommissar? Entschuldigung, verstehen Sie mich nicht falsch, ich meine, über Tote nur Gutes.«

»Über Tote nur die Wahrheit.«

»Wie bitte?«

»So lautet die tiefergründende Übersetzung des lateinischen Zitats. De mortuis nil nisi bene – Über Tote nichts als die Wahrheit, und das in fairer Weise.« In Latein machte Mütze so schnell keiner was vor.

»Gut, gut, Herr Kommissar, ich habe verstanden, also, ich will fair sein, an Adam Sternberg lässt sich nichts aussetzen.«

»Was wissen Sie über sein Privatleben?«

»Nichts, er war Single.«

»Auch ein Single hat ein Privatleben, gerade ein Single! Herr Kapsack, denken Sie noch mal nach. Adam Sternberg ist doch ein attraktiver Mann gewesen, da lief doch sicher mal was. Vielleicht mal eine Affäre mit einer Kollegin? Vielleicht mit der Rothaarigen?«

»Mit Rita? Nie im Leben! Rita ist lesbisch.«

»Okay, ich meine ja nur. Und was ist mit dem jungen Wieland, wie hat er sich mit dem verstanden?«

»Mit Kevin? Gut, sehr gut sogar. Die beiden waren befreundet.«

»Na also, Herr Kapsack, so was interessiert uns. Müssen wir Ihnen denn jeden Krümel aus der Nase kratzen?«

»Herr Kommissar!«

»Entschuldigung, aber ist doch wahr. Also gut, Wieland und Sternberg sind also eng befreundet gewesen. Auch Freunde können sich mal streiten. Hatten Kevin Wieland und Adam Sternberg vielleicht mal Stress miteinander?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Und Sie? Hatten Sie vielleicht mal Stress mit Herrn Sternberg gehabt?«

»Ganz im Gegenteil. Wir haben uns immer blendend verstanden.«

Mützes Handy jodelte los. Es war Professor Hahnemann, der Rechtsmediziner.

»Mütze? Haben Sie Zeit vorbeizukommen? Ja, jetzt gleich. Es gibt interessante Neuigkeiten!«

Theaterleute sind abergläubischer als Hintervorarlberger Sennerinnen. Ein jeder hat seinen speziellen Tick vor einer Premiere. Bevor er das Theater betrat, drehte Karl-Dieter immer dreimal an seinem Verlobungsring, den ihm Mütze vor vielen Jahren einmal während eines Bodenseeurlaubs geschenkt hatte. Eigentlich ist es nur ein Freundschaftsring gewesen, Karl-Dieter aber betrachtete ihn gerne als Verlobungsring. Freundschaftsring oder Verlobungsring war ja im Grunde egal, der Ring jedenfalls war ein Zeichen ihrer Liebe, und darauf allein kam es doch an. Was hätte er darum gegeben, wenn Mütze heute im Publikum sitzen würde! Aber klar, Mordermittlungen gingen natürlich vor. Was würden die Leute auch denken, wenn sich der neue Kriminalhauptkommissar entspannt eine Ballettaufführung ansehen würde, noch dazu im Schatten des Domes, in dessen Glockenstube vor einem Tag eine grausam verstümmelte Leiche gebaumelt hatte.

Karl-Dieter betrat die Oper durch das Foyer. Es erfüllte ihn mit nicht geringem Stolz, für dieses schöne Haus arbeiten zu dürfen. Welche Transparenz, welche Leichtigkeit, welche Eleganz! Glas und schlanke Betonsäulen strahlten lichte Offenheit aus, wie eine Kapsel schien der Publikumsraum in dem klar strukturierten Gebäude zu schweben. Das Markgrafentheater in Erlangen war ebenfalls ein besonderes Haus, doch das Theater Erfurt öffnete sich mit seiner Schauseite zur Stadt und verströmte dadurch einen geradezu urbanen Glanz.

Karl-Dieter grüßte eine quirlige Garderobenfrau. Sie stammte aus Berlin, war aber schon ewig beim Erfurter Theater angestellt. Als sie den Bühnenbildner sah, kam sie eilig auf ihn zugestürmt.

»Sagen Sie, Karl-Dieter, Ihr Freund ist doch bei der Kripo, nicht wahr?«

»Ja, wieso?«

»Den Toten aus dem Dom, den kenne ik, glob ik.«

»Tatsächlich?«, fragte Karl-Dieter erstaunt.

»Bin mir ziemlich sicher, hab sein Foto auf der Polizeiseite gesehen. Der war öfters bei uns zu Gast. Ist immer alleene gekommen, gegangen aber ist er stets in Begleitung.«

Ohne etwas zu verraten, eilte Professor Hahnemann den Kommissaren voraus die Treppen hinunter zum Keller seines Instituts, öffnete eine Stahltür und ließ die Neonröhren des Sektionssaals aufflammen.

»Nachschub?«, fragte Mütze und deutete auf den Untersuchungstisch. Auch Braunkärsch trat näher und zog die Stirn kraus. Ein merkwürdiger Anblick bot sich den Kommissaren. Auf dem nackten Körper einer älteren Frau standen lauter umgestülpte Gläser, in denen zahlreiche Fliegen herumbrummten. Viele krabbelten auch an den Innenseiten der Gefäße herum oder auf der Haut der Toten, ein makabres Gewusel.

Professor Hahnemann grinste. »Kein Fall für Sie. Wir wollen uns nur den Vermehrungszyklus von gewöhnlichen Stubenfliegen anschauen, die ihre Eier auf frischen Leichen ablegen. Damit hoffen wir, den Todeszeitpunkt künftig noch genauer bestimmen zu können. Die Dame hat sich der Wissenschaft zur Verfügung gestellt.«

»Sehr ehrenhaft«, sagte Mütze und räusperte sich, während Braunkärsch seinen Blick rasch abwandte.

»Kommen Sie«, sagte der Professor und ging zum Kopf des Saales, wo sich ein tiefer Schrank mit zahlreichen Schubladen befand. Lächelnd zeigte der Professor auf das angebrachte Logo, einen Eskimo mit einer Eiskristallfahne in der Hand.

»Kennen Sie die Firma? VEB DKK-Scharfenstein, unverwüstliche Spezialanfertigung aus dem Erzgebirge. Eine Top-Kühlanlage aus DDR-Produktion. Nicht ganz FCKW-frei, verraten Sie mich bitte nicht, dafür aber absolut zuverlässig.«

Darauf zog der Professor die rechte untere Schublade auf, Adam Sternberg glitt ans Licht.

Neben seinem zerschmetterten Schädel stand ein Einmachglas, in dem es trübe schwappte. Der Rechtsmediziner nahm das Glas heraus und hielt es gegen das Licht.

»Im Körper haben wir sie nicht nachweisen können, wohl aber im Rotkäppchensekt.«

»Rotkäppchensekt?«

»Der Mageninhalt. Adam Sternberg hat kurz vor seinem Tod noch Rotkäppchensekt getrunken. Der Sekt wird ihn nicht umgehauen haben, wohl aber die Gamma-Hydroxybuttersäure, mit der der Sekt gewürzt worden ist.«

»Gamma-Hydroxybuttersäure? K.-o.-Tropfen? Sind Sie sicher?«

»Hundertprozentig.«

»Das heißt, Sternberg wurde betäubt und dann aufgehängt?«

»Sieht alles danach aus.«

»Aber die Abwehrreaktionen an den Händen, die Wunden durch den Klöppel?«

»Das Opfer wird durch den ersten Glockenschlag aufgeweckt worden sein. Bedauerlicherweise jedoch zu spät.«

Es war schon nach elf, Mütze und Braunkärsch saßen immer noch am Küchentisch von Karl-Dieters und Mützes loftartiger Wohnung. Sechs geleerte Fläschchen Köstritzer standen stumm Parade, zwei weitere befanden sich im fortgeschrittenen Entleerungszustand. Die beiden Kommissare waren über die Tischplatte gebeugt, auf der etliche vollgekritzelte und nummerierte Zettel lagen. Braunkärsch klopfte mit dem stumpfen Bleistiftende energisch auf der Nummer drei herum.

»Assistierter Suizid. Meiner Meinung nach könnte es sich durchaus um einen assistierten Suizid handeln.«

»Aber Braunkärsch, für einen assistierten Suizid solch ein Aufwand?«

»Wir kennen die Hintergründe eben zu wenig. Adam Sternberg muss eine besondere Beziehung zum Dom gehabt haben, wollte dort sterben, und nur dort. Da hat er einen Freund gebeten, ihm dabei zu helfen.«

»Muss ein ziemlich guter Freund gewesen sein.«

»Dieser Wieland zum Beispiel.«

»Und der Anzug, die Nelke?«

»Eben! Sterben mit Stil. Wir hatten mal einen Bauern in Ilmenau, der hat sich extra einen Smoking schneidern lassen, nur um sich darin aufzuhängen.«

»Aber warum hat es Sternberg nicht allein gemacht? Assistierte Suizide gibt’s doch in der Regel nur bei Schwerkranken, bei Menschen, die zu schwach sind, um eigenhändig Schluss zu machen. Adam Sternberg war ein kräftiger Gärtner.«

»Er wollte eben in der Glocke sterben und ohne Schmerzen. Wie sollte er das alleine anstellen?«

»Ohne Schmerzen? Hast du gesehen, wie er sich gegen die Glocke gewehrt hat? Hast du seine Hände vergessen, den ganzen Todeskampf?«

»War nicht eingeplant. Die K.-o.-Tropfen sind zu schwach gewesen.«

»Ich weiß nicht.« Mütze ploppte eine weitere Flasche Köstritzer auf. »Magst du auch noch ein Fläschchen?«

In diesem Augenblick klopfte es. Noch bevor Mütze aufstehen konnte, wurde die Wohnungstür geöffnet. Es war Karl-Dieter. Er war nicht allein. Neben ihm stand eine kleine energische Frau.

»Noch mal langsam zum Mitschreiben«, sagte Mütze, »Sie sagen, Sie hätten Adam Sternberg des Öfteren im Theater gesehen.«

»Janz jenau, Herr Kommissar.«

»Und er ist immer alleine gekommen.«

»Genau. Immer alleene, immer im Anzug, oft mit ’ner Blume im Knopfloch, elegante Erscheinung, so einer von der alten Schule, wenn Sie verstehen, wat ik meene.«

»Er wäre aber nach der Vorstellung nie allein aus dem Theater gegangen.«

»Dat hab ik nüscht jesagt, Herr Kommissar, nur, datt er oft mit ’ner Dame am Arm davon is.«

»Immer mal mit ’ner anderen.«

»Janz jenau. Ik hab’s beobachten können, in der Pause ist er uff sein Zielobjekt los, hat es angesprochen und hat die Dame dann zu einem Sekt eingeladen.«

»Kannten Sie vielleicht eine der Damen?«

»Iwo, Herr Kommissar. Wo denken Sie hin? Ik bin doch nur ’ne einfache Garderobenfrau, ik kenn doch die feine Gesellschaft nicht, nur deren Mäntel.«

*

Alles glaubte ich schon erlebt zu haben und ich sage Ihnen, in fünfhundert Jahren erlebt man eine Menge. Sie können sich nicht vorstellen, was für ein erhebender Moment es gewesen ist, als man mich mit Feuer getauft hat. Ganz Erfurt kam zusammengelaufen, im Juli 1497. Auf dem Hof von St. Severi hatte mein Meister die Form errichtet, Gerhard van Wou aus Kampen. Ein unglaubliches Feuer schmolz das Metall, um zehn Uhr abends war die Speise flüssig, die perfekte Mischung aus Bronze und Zinn. In einer feierlichen Prozession zogen die Stiftsherren nun zum Gussort. Wie die meisten Menschenkinder, so sollte auch ich in tiefer Nacht das Licht der Welt erblicken. Um 1.00 Uhr in der Früh schlug Meister Gerhard den ersten Zapfen aus, gleich darauf den zweiten. Glühend heiß strömte es in die Form hinein, um 2.00 Uhr war der Guss vollendet und man stimmte dankbar das Tedeum an. Doch noch fast zwei Jahre sollte es dauern, bis man mich zum Klingen brachte. Im Frühling 1499 zog man mich endlich in den Turm hinauf, alle Zwischengeschosse hatte man aufbrechen müssen, anders wäre es nicht gegangen. Dann kam der 19. Mai. Am 19. Mai 1499 ließ ich zum ersten Mal meine Stimme ertönen und ganz Erfurt hielt den Atem an. Mancher mochte dabei meiner Vorgängerinnen gedacht haben, ich bin bereits die sechste Glocke mit dem Namen Gloriosa. Einigen meiner Ahninnen ist wegen handwerklicher Mängel kein langes Leben gegönnt worden, zwei sind Bränden zum Opfer gefallen. Auch mich hätte dieses Schicksal fast ereilt, im Jahr 1717, ein furchtbarer Tag. Der Himmel hatte Blitz und Donner hinabgesandt, hatte den Glockenturm getroffen und in Brand gesetzt. Hilflos musste ich zusehen, wie alle meine Schwestern zerstört wurden. Mich haben die Gewölbe gerettet, die man eigens zu meinem Schutz eingezogen hat. Blitz und Feuer habe ich überstanden, alles glaubte ich, schon erlebt zu haben, alle Schrecknisse der Welt. Und nun das. Ich weiß, wer an dem Verbrechen die Schuld trägt, ich hab schließlich alles mitbekommen. Ich habe nicht nur den Schädel des Mannes zertrümmert, ich bin auch die einzige Zeugin der Tat gewesen, eine Zeugin jedoch, deren Stimme niemand versteht.

Der Fall Gloriosa

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