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II

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Gegen Mittag des nächsten Tages kam Leutnant Wagner mit seinem Bericht. Inzwischen hatte Neuburger zweimal bei Bergfeld nachgefragt, doch der konnte ihm nichts Neues sagen; die Vermisstenmeldungen aus Berlin und den umliegenden Kreisen waren negativ. Ähnlich ergebnislos waren die Befragungen verlaufen, denn die nächsten Einfamilienhäuser standen mehr als dreihundert Meter entfernt. Daran schlossen sich die von russischen Offizieren und ihren Familien bewohnten Häuser, und diese wiederum waren ebenso wie die Kasernen von einer Mauer umgeben. Ihre einzige Hoffnung ruhte nun auf der nahen Waldgaststätte „Eichkater“, allerdings kam der Pächter erst gegen Mittag. Kriminalhauptmeister Windisch war also noch einmal hingefahren.

„Hast du Neuburger auch schon einen Bericht gebracht?“ fragte Bergfeld. „Der hat zweimal bei mir angerufen.“

Wagner grinste. „Sonst trampelt der mir immer direkt auf den Füßen rum“, erwiderte er, „doch irgendwie scheint er sich nun plötzlich an die Regeln halten zu wollen: zuerst immer der Untersuchungsleiter.“ Er hielt die zweite Mappe hoch und betrachtete die Funkwagen auf dem Hinterhof. „Sind die Dinger endlich wieder in Ordnung?“

„Weiß ich nicht.“ Bergfeld klappte die Akte auf und begann zu lesen. Wer von den Kriminalisten den Toten am Fundort gesehen hatte, für den deuteten Wagners indirekte Schlussfolgerungen auf einen sowjetischen Soldaten. Ansonsten hatte er weder Papiere, Körperanomalien, Herstellungshinweise oder Etiketten in der Kleidung noch besondere Merkmale gefunden bis auf einen großen, nicht allzu gründlich ausgewaschenen Ölfleck am linken und den eingenähten Schlüssel im rechten Hosenbein. Es waren Starter- und Kofferraumschlüssel für das russische Automodell Lada.

„Sieht wirklich nach einem Soldaten aus“, sagte Bergfeld. „Armer Teufel, was hat der bisher vom Leben gehabt.“

Wagner zuckte die Achseln. „Stimmt, das ist traurig. Aber ich möchte wetten, dass die Kugeln aus einer sowjetischen Makarow stammen und wir die Sache wahrscheinlich nie ganz aufklären.“

„Und warum knien wir uns dann überhaupt so rein?“

Wagner beobachtete immer noch den Hof und murmelte leise, dass man nun einen Funkwagen anscheinend repariert habe. Dann drehte er sich Bergfeld zu. „Warum wir uns in den Fall reinknien? Schon aus Prinzip. Übrigens, kennst du den Witz von den großen DDR-Wäldern?“ Er fuhr fort, ohne Bergfelds Antwort abzuwarten. „Bush, Gorbatschow und Honecker treffen sich bei einer UN-Sitzung in New York, wo es um den Schutz der Wälder geht. Bush jammert: dafür haben wir kein Geld, wir haben so große Wälder, da braucht man fünf Tage, um sie mit einem schnellen Auto zu umrunden.“ Wagner blinzelte ihn an um zu prüfen, ob er zuhörte. „Darauf sagt Gorbatschow: bei uns sind die Wälder so groß, da braucht man drei Stunden, um sie von einem zum anderen Ende mit einem Flugzeug zu überfliegen. Meldet sich Honecker zu Wort: Und wir in der Deutschen Demokratischen Republik haben so gewaltige Wälder, da sind die Russen 1945 rein marschiert und haben nach fünfundvierzig Jahren immer noch nicht raus gefunden.“ Gegen seinen Willen musste Bergfeld lachen. „Ja, und deshalb geben wir den Fall erst mal nicht aus der Hand. Ein bisschen Souveränität außerhalb dieser Wälder sollten wir uns bewahren.“

Als Wagner gehen wollte, kam Hauptmeister Windisch, ein dunkelhaariger junger Mann, der trotz größter Mühe seinen sächsischen Dialekt nicht ganz unterdrücken konnte. Niemand wusste, warum er nach dreijähriger Dienstzeit beim Wachregiment des Staatssicherheits-Ministeriums Feliks Dzierszynski im Alter von dreiundzwanzig Jahren zur Polizei gekommen war; vielleicht war er auch abkommandiert worden. Jedenfalls folgte die ältere Gruppe der Kriminalisten Wagners Überlegungen, dass es bei Windisch kein politischer Fehltritt sein konnte. Wäre er sonst sofort Hauptmeister geworden und hätte man ihn gleichzeitig für die Offizierslaufbahn bei der Kriminalpolizei vorgesehen? Bergfeld hatte sich in den zwei Jahren seiner Kripozugehörigkeit meist aus solchen Gesprächen und den hin und wieder kritischen politischen Diskussionen heraus gehalten. Natürlich ärgerte er sich über das Verbot, in der Zeitung von Gewaltverbrechen zu berichten oder Fahndungsmeldungen zu veröffentlichen. So hatte ein Serientäter im Laufe von vier Wochen drei Pilzsucher ermorden können, weil die Menschen mit keinem Wort auf die Gefahr hingewiesen worden waren und dem Täter ahnungslos vertraut hatten. Oder er ärgerte sich zum Beispiel darüber, dass ein junger Mann aus Marienwerder nach achtzehn Einbrüchen in Wochenendgrundstücken schon nach einem Jahr wieder entlassen wurde und die nächste Serie von zwanzig Einbrüchen begehen konnte, während ein betrunkener Bernauer Jugendlicher, der im Vorjahr zum Republiksgeburtstag eine Fahne abgerissen hatte, zu drei Jahren Haft verurteilt worden war und immer noch einsaß. Überhaupt war Politik nicht seine Sache, und wäre seine Frau nicht Parteisekretärin im Möbelwerk und hätte ihn bei häuslichen Diskussionen nicht immer wieder auf sozialistischen Kurs gebracht, wäre er wahrscheinlich trotz seines Wunsches, zur Kripo zu wechseln, nicht einmal in die SED eingetreten. Ihre Tochter Sylvia war da ohne Ambitionen und hatte sich nichts vorschreiben lassen.

Windisch grüßte fröhlich und warf sein Notizbuch auf den Schreibtisch. „Was erreicht?“ fragte Bergfeld. Wagner blieb erwartungsvoll stehen.

„Ja, ein bisschen vage zwar, doch etwas mehr, als heute Morgen.“ Bergfeld hatte enttäuscht festgestellt, dass es bisher nicht einen einzigen konkreten Hinweis auf die Tat gab. Was ihn besonders ärgerte, war wieder ihr demütigendes Abklappern der russischen Offiziershäuser. Entweder hatten die Frauen ihnen die Tür vor der Nase zu gemacht, hatten angeblich „nix deutsch“ verstanden und dann – schließlich hatte er vier Jahre Russisch in der Schule – auf seine russische Frage geantwortet: Holen Sie Genehmigung vom sowjetischen Kommandeur. Nur eine jüngere Frau meinte, in der Nacht in der Nähe einen Streit in russischer Sprache gehört zu haben.

„Na, los, spann uns nicht auf die Folter“, sagte Wagner.

Windisch setzte sich, nahm sein Notizbuch und las die biographischen Angaben des Pächters vor, die eine Pächterin war. Sie wohnte in Basdorf, war achtundvierzig Jahre, vorher Kellnerin in Schönwalde gewesen und seit drei Jahren nun selbständige Gastwirtin. Die Gaststätte, einsam an der Chaussee nach Wandlitz gelegen, war jährlich nur vom 15. März bis 5. November geöffnet. Nach einem Urlaub kellnere sie wieder, bis sie am 5. März die Gaststätte für die nächste Saison öffne.

„Ist ja ganz interessant“, sagte Bergfeld ungeduldig, „aber was hast du konkret ermittelt?“

„Sie hatte vorgestern Abend zwölf Gäste ...“

„Und davon kann sie leben?“ wunderte sich Wagner.

Windisch zuckte die Schultern. „Wenn die genug saufen. Jedenfalls kannte sie alle bis auf einen etwa fünfzigjährigen Mann und eine hübsche, junge Frau, so um die fünfundzwanzig. Sie fuhren ein Auto mit Berliner Kennzeichen, offenbar ein Pärchen, das fremd ging und das irgend wo in der Nähe eine Datsche hat.“

Wagner wollte wissen, wie er zu dieser Schlussfolgerung käme. „Die Wirtin, diese Frau Brigitte Diekmann, hat den Mann zwei-, dreimal im Sommer gesehen, allerdings mit einer anderen, älteren Frau.“

Wagner nickte. „Hört sich logisch an.“

„Die anderen zehn kannte sie namentlich, wenn meist auch nur die Vornamen.“ Windisch las sie vor.

Als der Name Müller fiel, fragte Bergfeld: „Und sein Vorname ?“

„Kurt. Also Kurt Müller.“

„Doch nicht der Dicke Kurt aus Wandlitz?“ fragte Wagner. Der Lebensmittel- und Feinkosthändler aus Bonzendorf – so wurde Wandlitz in den umliegenden Orten oft abschätzig wegen der Siedlung mit den Politbüromitgliedern genannt -- war bis Berlin bekannt. Hier gab es immer Halbliterflaschen Pils aus mehreren bekannten Brauereien, hier gab es Brause und Selters sogar an den heißesten Sommertagen. Außerdem bot er auch Import-Süßigkeiten und Delikatessen an, wie sie sonst nur in den sogenannten Deli- oder Hortexläden der Großstädte verkauft werden durften. Das verdankte er nicht nur seiner händlerischen Umtriebigkeit. Man munkelte, er sollte auch deshalb bevorzugt beliefert werden, weil sich der sowjetische Botschafter Kotschemassow bei Honecker einmal heftig beschwert hatte, als dem dicken Kurt die Warenlieferungen gekürzt wurden. Kotschemassow wohnte in einer schönen Villa am Wandlitzer See und seine Frau kaufte oft beim dicken Kurt ein.

„Nein, der andere, der Moor-Kutte aus Bernau“, sagte Windisch. „Der stellvertretende Vorsitzende vom Meliorationsbetrieb.“

Bergfeld schüttelte staunend den Kopf. „Mit dem habe ich gestern Abend noch gesprochen. Wenn ich das gewusst hätte.“

„Sie konnten drei Männer dem Wachregiment im Walddorf zuordnen, dazu eine jüngere Frau. Die anderen kamen aus der Umgebung.“

„Gab es irgend welchen Ärger?“ fragte Bergfeld.

„Ich weiß nicht, drei Mann haben sich wohl gestritten, aber nur verbal, mit Worten. Es ging um Geld, irgend eine Abrechnung. Dann hat ein Jens Holbrecht sich eingemischt, hat wohl geschlichtet, also das Normale in einer Kneipe.“

„Holbrecht“, sagte Wagner leise. „Das arme Schwein.“

Bergfeld nickte und Windisch sah sie fragend an. Er kam aus Diedersdorf in Sachsen und kannte im Gegensatz zu seinen beiden Kollegen weder die Geschichte des Barnim noch die vielen Geschichten aus der Umgebung. „Jens Holbrecht ist so schwer verletzt worden, dass er nur knapp überlebte und eine Menge Narben zurückbehalten hat. Vor allem im Gesicht...“

Wagner ergänzte: „Bis vor einem Jahr war er verheiratet, mit einer fetten, wirklich hässlichen Frau. Aber die hat ihn dann auch sitzen lassen. Seitdem säuft er -- immer still, unauffällig“

Vom Hof drang das Aufjaulen eines Wartburgs hoch, die beiden Mechaniker bastelten immer noch am Funkwagen. „Wie ist es passiert, ein Brand im Haus?“ fragte Windisch.

Wagner schüttelte den Kopf. „Man fand ihn neben einem Feuer. Offensichtlich war er vorher an einen Baum gefesselt worden, wie beim Indianerspielen. Aber im Alter von siebzehn Jahren...“ Wagner schüttelte den Kopf. „Über dreißig Prozent der Haut verbrannt, angeblich hatte er die Täter nicht erkannt, sie waren vermummt.“

Die Tür öffnete sich und Major Neuburger kam herein. „Wie sieht’s aus? Ich warte auf Ihren Bericht.“ Er blickte Wagner an und seine Nervosität war unverkennbar.

„Hier, Genosse Major“, sagte Wagner betont dienstlich. Er reichte ihm die zweite Mappe und fuhr fort: „Wir haben mal zusammengetragen, was wir wissen. Viel ist es nicht.“

Neuburger öffnete den dünnen Ordner, schloss ihn aber sofort wieder und musterte Bergfeld. „Hinweise auf die Identität des Opfers?“

„Nein. Auch unsere Befragung der Anwohner hat nichts ergeben, die sowjetischen Familien haben sich dabei sehr zurück gehalten.“ Er sah betont unschuldig auf seine Notizen. „Nur eine jüngere Frau, ihren Namen wollte sie -- wie üblich bei den Freunden -- nicht sagen, hat draußen gegen Mitternacht erregte Stimmen gehört. In russischer Sprache. Sie wohnt Haus achtzehn.“

Neuburger schluckte die Erklärung ohne Kommentar. Er gehörte zu den Offizieren im Kreisamt, die sofort jede Andeutung von Kritik an dienstlichen Anordnungen oder ironische Bemerkungen zum Verhalten der sowjetischen Militärs, die von ständiger Furcht vor Verrat oder imperialistischer Spionage geprägt waren, rigoros unterbanden. Die anderen beiden waren ein dicker Hauptmann, den man sowieso nicht ernst nahm, und ein verknöcherter alter Kommunist, der so dumm war, dass sogar sein Dienstgrad Unterleutnant nach dreißig Dienstjahren eine Überbewertung war. Dafür war er der gefährlichste, denn jeder wusste, dass er die kleinste kritische Äußerung als Diffamierung oder Hetze gegen die DDR der örtlichen Stasi-Dienststelle hintertrug. Er machte nicht einmal einen Hehl daraus, sondern brüstete sich, damit treu und ergeben seiner Partei zu dienen.

„Unsere einzige Hoffnung sind die Gäste aus dem Eichkater“, sagte Windisch. „Wir müssen alle befragen, die zwischen einundzwanzig Uhr und Schankschluss um dreiundzwanzig Uhr gegangen sind. Die Wirtin jedenfalls hat außerhalb ihrer Gaststätte weder Fremde bemerkt noch eine Auseinandersetzung oder Schüsse gehört.“

Neuburger nickte. „Ich sehe mir Ihren Bericht gleich an, Genosse Wagner. Der Obduktionsbericht ist noch nicht da?“

„Nein“, erwiderte Bergfeld. „Ich werde nachher mal anrufen.“

„Scheint ein komplizierter Fall zu werden“, sagte Neuburger und es war nicht zu übersehen, dass ihn irgendetwas bedrückte. „Aber zur Not haben wir ja immer noch eine Variante offen, oder?“ Er warf Wagner einen undefinierbaren Blick zu.

„Aber wirklich nur zur Not“, erwiderte der. „Jetzt gehe ich erst mal essen, das wird heute noch ein langer Tag. Vorhin haben sie einen Einbruch in ein Wochenendhaus in Biesenthal gemeldet.“

Manche Wochenendhäuser waren auch im Winter gemütlich, sobald sie durchwärmt waren. Der Journalist Lothar Engwart wohnte in einer sogenannten Arbeiter- und Wohnungsbau-Genossenschafts-Wohnung, für die er Eigenleistungen erbracht und einen Bauzuschuss gezahlt hatte.

Dieses Kapital wurde beim Umzug zwar zurück gezahlt, doch der Vorteil in der AWG war der Mietpreis; er betrug für zweiundsechzig Quadratmeter einundfünfzig Mark. Nach dem Auszug seines inzwischen 25jährigen Sohnes bewohnte er mit seiner Frau Christa allein die drei Zimmer – ein ungewohntes Privileg, denn es gab trotz strenger Wohnraumbewirtschaftung kaum gute Neubauwohnungen auf dem normalen Wohnungsmarkt. Der Nachteil seiner Anfang der sechziger Jahre fertiggestellten Wohnung war die Ofenheizung. Gasheizungen gab es nur gegen Devisen, also durch Geschenke irgend einer Tante oder eines Onkels aus dem Westen.

Insofern bedeutete es für ihn kein Problem, auch hier im Wochenendhaus den Ofen zu heizen. Nachts schalteten sie einen alten S-Bahn-Heizkörper an, den sie im An- und Verkauf erworben hatten, neue Heizlüfter oder Radialheizungen gab es wegen der Energieprobleme kaum einmal zu kaufen. Darüber hinaus hatte er aus dem bis zum Moor reichenden Wald schon so viel Bruchholz heran geschleppt, dass es neben den billigen Braunkohlebriketts selbst bei strengem Winter für die nächsten zwei Jahre reichte.

Sie hatten lange geschlafen, dann in dem gemütlich warmen Verandazimmer gefrühstückt und nun blickte Lothar Engwart in den Garten. Die Bäume hatten ihre letzten Blätter abgeschüttelt und am Himmel zogen dicke, dunkle Wolken dahin. „Das war’s dann wohl für dieses Jahr“, sagte er.

„Ich denke, das war’s noch lange nicht“, meinte seine Frau. „Es wird noch ein stürmischer Herbst.“

„Du meinst am Sonnabend die große Demonstration – und was dann vielleicht noch folgt?“

Er half ihr beim Abräumen und sie unterhielten sich darüber, was die Demonstration der Geistesschaffenden, der Schriftsteller und Journalisten auf dem Berliner Alexanderplatz wohl bringen würde. „Am liebsten wäre mir, du würdest zu Hause bleiben – in deinem Alter.“ Es klang ein wenig halbherzig. Obwohl sie sich ständig Sorge machte um ihren Mann, der als freischaffender Sportjournalist gegenüber einigen regimetreuen Redakteuren mit der Meinung nicht hinter dem Berg hielt, teilte sie seine kritische Haltung.

„Was soll passieren, sogar die meisten der fest angestellten Kollegen sind Sonnabend dabei.“

„Und wenn die Polizei ...“

„Christa, soll ich in diesen Zeiten zu Hause sitzen? Du willst doch auch, dass sich etwas ändert. Oder?“

Als sie zaghaft nickte, lachte er. Ehe sie etwas erwidern konnte, ging er ins Schlafzimmer, zog sich einen tarnfarbenen Anorak über und setzte den Jagdhut auf. „Jetzt gehe ich erst mal auf die Pirsch.“ Er hatte früher mal Förster werden wollen und verwendete gern Begriffe aus der Jagd. Er nahm den gleichen Weg wie gestern Abend in der Dunkelheit. Rechts auf dem Feld befanden sich frische Wühlspuren der Wildschweine, die sein Hund eifrig beschnüffelte. Er lächelte, als er an die Gänsehaut dachte, die ihm in der Dunkelheit über den Rücken gekrochen war.

Als er um die kleine Wegbiegung kam und zwischen den kahlen Holunderbüschen, Trauerweiden und Birken das Holzhaus sah, wunderte er sich und schaute auf die Uhr. Es war zehn Uhr zwanzig. Der rote Lada stand immer noch an der Einfahrt zum Grundstück, die Fenster waren geschlossen und die Vorhänge zugezogen. Einen Schornstein besaß das Haus nicht, wahrscheinlich heizte man elektrisch. Die Boxerhündin schnüffelte am Auto herum, lief dann ein Stück neben dem versumpften Bach entlang und kam wieder zurück. Engwart überlegte, ob er klopfen und fragen sollte, ob Müller verschlafen habe. Nach kurzem Überlegen ging er weiter.

Auf dem Rückweg eine halbe Stunde später schien alles unverändert und er setzte seinen Weg fort. Kurz darauf wurde er unruhig und fragte sich, ob vielleicht etwas passiert sei. Dann müsste er sich später Vorwürfe machen, dass er nichts unternommen hatte. Engwart lief zurück. Boxerhündin Paula schnüffelte am Auto herum, zeigte aber keine Anzeichen von Unruhe. Er öffnete das Gartentor und wollte die Klinke anfassen. Einen kurzen Moment überlegte er, ob er die Klinke nur vorsichtig mit einem Taschentuch berühren sollte, um keine Fingerspuren zu verwischen. Vielleicht hatten ihn Einbrecher überfallen. Genug Krimis hatte er ja gelesen und er wusste, wie wichtig manchmal solche Kleinigkeiten waren. Aber hier? Er holte trotzdem ein Taschentuch heraus. Auch wenn es vielleicht albern war, aber wer sah ihn denn dabei?

Er befahl Paula, sich vor den Eingang zu setzen. Ihr Sohn Dennis hatte mit ihr die Schutzhundprüfung 1 abgelegt, danach war er ausgezogen und hatte ihnen die weitere Abrichtung überlassen. Paula gehorchte sofort und blickte ihn aufmerksam an, sicherlich fand sie alles sehr aufregend.

Die Eingangstür war unverschlossen, im kleinen Vorraum stand kühle, dumpfe Luft. Engwart ging in den Wohnraum, in dem sie gestern Abend bis gegen einundzwanzig Uhr gesessen hatten. Das Licht brannte immer noch und kämpfte vergeblich gegen die von draußen durch die Vorhänge sickernde Helligkeit an. Eine leere Flasche Kognak lag am Boden, während drei benutzte Gläser auf einem kleinen Beistelltisch standen. Eine zweite Flasche stand halb gefüllt auf dem großen Tisch in der Mitte des Raumes, daneben zwei weitere Gläser, eines leer, das andere offensichtlich ausgekippt, wie ein brauner, halb getrockneter Fleck vermuten ließ.

Einen Moment erfasste Engwart der Drang, die Vorhänge aufzuziehen, doch er ließ es. Er ging wieder zum Ausgang, sah Paula aufmerksam davor hocken und lobte sie: „Brav, Paula, so ist gut. Mach Sitz!“ Der Hund schien vor Freude über dieses Lob sogar im Sitzen mit dem Hinterteil zu wackeln.

Vom Vorraum gingen zwei weitere Türen ab. Die eine führte zu einer Miniküche und stand halb offen. Alles leer, bis auf zwei in weißes Papier gewickelte Päckchen. Offensichtlich waren es nicht ausgepackte Lebensmittel, denn auf dem einem Paket sah er einige mit Kugelschreiber addierte Zahlen, wie es in Fleischereien beim Aufrechnen der Wurst üblich war.

Engwart war sich fast sicher, dass Müller im Schlafraum lag. Er atmete tief durch, warf noch einmal einen Blick zu seinem Hund und drückte die Klinke herunter. Vor Aufregung hatte er vergessen, das Taschentuch zu benutzen. Und das, wenn gerade hier etwas passiert sein sollte, wenn ein Mörder die Tür zugezogen hatte. Neben drei benutzten Gläsern standen ja noch zwei auf dem Tisch – also musste irgendjemand mit Müller weiter getrunken haben. Der Mörder?

Im Zimmer herrschte Halbdämmer, auch hier die Vorhänge zugezogen. Zwei einfache Betten, ein Schiebeschrank und kleine, dunkle Nachtschränke. Doch die Betten waren unberührt, Verstecke gab es in dem kleinen Raum nicht. Engwart atmete erleichtert auf, blickte aber sicherheitshalber noch in den Schrank. Nichts. Die Betten standen so flach, da passte der dicke Müller nicht drunter. Engwart fühlte sich erleichtert -- was einem die Fantasie so vorgaukeln konnte. Wahrscheinlich war Müller morgens spät erwacht und der Wagen nicht angesprungen. Vielleicht hatte er einen wichtigen Termin gehabt und war ins Dorf gelaufen, um zu telefonieren.

Als er noch einmal ins Wohnzimmer ging, sah er Müllers Aktentasche. Einen Moment zögerte er, dann nahm er wieder sein Taschentuch und öffnete sie vorsichtig. Er fand mehrere Aktenordner, darunter auch den dünnen mit seinem Artikel und mehreren Blättern. Er schlug den Ordner auf, dem Müller den sinnigen Titel „Feldweg“ gegeben hatte, und blätterte die Schreiben durch: eines von der SED-Kreisleitung, in dem Müller aufgefordert wurde, die Kampagne für hohe Ernteergebnisse nicht zu sabotieren und den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zu helfen in ihrem schweren Kampf zu immer besserer Versorgung der Bevölkerung und damit Stärkung des sozialistischen Lagers; dann der Durchschlag von Müllers Brief an die Redaktion, Engwarts Antwortschreiben und einige Notizen Müllers zu diesem Vorgang.

Neugierig zog er auch die anderen Akten heraus: Aufträge, Gutachten, Bodenanalysen von Bohrproben und verschiedene Personalpläne. In einem mit Reißverschluss abgetrennten Fach fand er eine dickere Akte im kleinen Format DIN A 5. Dort waren Automarken aufgelistet, Literzahlen mit der Bezeichnung Su und Nor, Ziffern vor der Abkürzung Wo und Anfangsbuchstaben, offensichtlich von Namen. Paula knurrte draußen. Erschrocken wischte Engwart die Mappe mit dem Taschentuch ab, steckte sie wieder in die Tasche und stellte diese schnell in die Ecke.

Vor dem Haus stand sein Gartennachbar Gumsch, der jetzt fast das ganze Jahr auf dem Grundstück verbrachte. Er lehnte an seinem Fahrrad und sprach mit dem Hund. „Ich habe mich schon gewundert, dass dein Hund hier sitzt, Lothar.“

Engwart zog die Tür zu und erzählte ihm von dem gestrigen Gespräch und dass ihn nun das Auto und die unverschlossenen Türen neugierig gemacht hätten. Er versuchte die Türen des Lada zu öffnen, doch einschließlich der Kofferklappe war alles verschlossen. „Wenn du ihn im Dorf triffst“, sagte Engwart, „dann sag ihm mal, dass er sein Haus lieber abschließen soll.“

„Wie sieht er denn aus?“ fragte Gumsch.

„So ein Dicker, Anfang fünfzig.“

„Ist ja eine gute Beschreibung, dick sind hier doch fast alle. Na, vielleicht erkenn’ ich ihn daran, dass einige Leute um ihn rumstehen und sich wundern. So nach dem Motto von diesem ostpreußischen Witz – kennst du den?“

Engwart lachte. „Den hast du mir schon fünfmal erzählt: Hier im Dorf is eener, den kennt keener ...“

Als Bergfeld nach dem Essen ins Zimmer trat, klingelte das Telefon. Er meldete sich, machte sich Notizen und fragte, wann der Bericht komme. Dann informierte er Windisch: „Die Pathologie. Keine neuen Erkenntnisse. Der Mann starb durch die Schüsse in den Rücken, alles Kugeln aus einer sowjetischen Makarow, acht Komma fünfundsechzig Millimeter. Zuerst die Schüsse von hinten, davon war der zweite ein Herzschuss und schon tödlich, danach noch der Kopfschuss. Wie eine Hinrichtung. Als wolle man sicher gehen, dass der Mann auch wirklich tot war.“ Er überlegte.

Windisch sah ihn aufmerksam an, fragte jedoch nicht. „Todeszeit war vorgestern Nacht zwischen dreiundzwanzig und ein Uhr. Der Tote ist etwa zweiundzwanzig Jahre alt. Zweiundzwanzig“, wiederholte er leise. „Er hatte zwei Komma vier Pro Mille Alkohol im Blut – vorher hat er Vollkornbrot, Mettwurst und reichlich Speck sowie Salzgurken gegessen. Sieht nach den Freunden aus...“

Bergfeld starrte auf seine Notizen und fuhr fort: „Eigenartig ist die Tätowierung am inneren Handgelenk, dort wo das Uhrarmband sitzt. Das hatte Wagner ja schon gesehen: die Zahl vierzehn. Und der junge Mann hatte sich vor etwa drei Jahren den linken Unterschenkel gebrochen. Alles gut verheilt. Unter seinen Fingernägeln keine Haut- oder Blutspuren, keine Spuren einer Schlägerei oder von Misshandlung. Man muss ihn ganz überraschend niedergeschossen haben. Ziemlich mysteriös, die Sache.“

Windisch blätterte in der Akte „Herbstmord - unbekannte männliche Leiche“, die schon leicht angeschwollen war: Der ausgefüllte Anzeigenvordruck KP 81, die Protokolle vom Telefonanruf, vom Fundort, Wagners KT-Bericht, die Einleitung des Ermittlungsverfahrens und die Befragungsprotokolle. Alle mit der Schreibmaschine und drei Durchschlägen. Sie hatten es so gelernt und waren es so gewohnt. Nun sollten sie bald moderne Computer erhalten, jedenfalls wurde davon gesprochen. Bekannt war allgemein, dass die Dienststelle mit dem kleinen Schild „Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit“ schon mit der neuen Technik arbeitete.

Windisch reichte ihm eine Namensliste. „Teilen wir uns die Befragung der Gäste auf?“

Bergfeld nickte. Seine Gedanken schweiften ab. Seit er den Brief mit der Erbbestätigung des Staatlichen Notariats sowie den Einheits- und Steuermessbescheid für das Haus und das Land seiner Tante erhalten hatte, war er noch nicht in dem Gebäude gewesen. Dabei sollte er sich so schnell wie möglich einen Überblick verschaffen, was in den fünf Zimmern, der Küche und dem Plumpsklo zu reparieren und modernisieren war. Vielleicht konnte er im Winter erst einmal ausräumen, alte Leitungen abreißen und die Zimmerwände von den teilweise dreißig Jahre alten Tapeten säubern. Dann musste er Elektriker und Klempner finden, die ihm neue Leitungen einzogen und gleichzeitig das Material besorgten. Er wusste, dass sie wahrscheinlich die verzinkten Wasserleitungsrohre, Armaturen ebenso wie Elektrokabel in ihren Betrieben klauen und die Arbeiten nach Feierabend schwarz machten würden. Doch das war so üblich auf dem Land. Nur die LPG, Konsum, HO oder staatliche Betriebe wie das Möbelwerk erhielten Baumaterial oder Handwerkerleistungen nach Plan zugeteilt. Die wenigen wirklich wichtigen Baumaterialien wie Steine oder Zement, die es als sogenannten Bevölkerungsbedarf über die Bäuerliche Handelsgenossenschaft gab, waren schon an Freunde und Verwandte der dort Angestellten verkauft, bevor sie im Bauhof abgeladen wurden. Dass er bei der Polizei war wusste man, doch wehe, er würde gegen diese Methoden strafrechtlich vorgehen; zumindest in Klosterwalde würde er nicht mal mehr ein Glas Sauerkirschen bekommen, falls mal eine Lieferung den Weg zum Konsum fand. Allerdings betraf das noch mehr seine Frau Marion, die manchmal sogar in der Einkaufsschlange die Wirtschaftsmängel verteidigte und von unsinnigen Hamsterkäufen sprach, wenn im Sommer Erdbeeren geliefert wurden und jeder gleich zwei, drei Stiegen kaufte. Mit ihr würde er sowieso noch Ärger haben -- sie lehnte es stur ab, in das Haus zu ziehen, nicht einmal ansehen wollte sie es sich. Gesprochen hatten sie die letzten beiden Tage sowieso nicht, da sie sich nur kurz gesehen hatten. Und heute Morgen im Auto, als er sie ärgerlich gefragt hatte, was sie eigentlich so spät noch immer im Betrieb mache, war sie ihn giftig angefahren...

„Michael, träumst du? Ich will wissen, wen du übernimmt.“ Die Stimme des Hauptmeisters drang wie aus einer anderen Welt in seine Gedanken und er lächelte schuldbewusst.

„Ich hab’ doch das Haus geerbt“, sagte er, als wäre damit alles erklärt. „Also, dann zeig mal her.“

Auf dem Blatt standen sechs Namen und Bergfeld stellte zufrieden fest, dass Windisch die drei Stasi-Wachsoldaten und die junge Frau in ihrer Begleitung übernahm. Er hatte wenig Hoffnung, dass sie etwas neues herausfinden würden. An die Sowjets wollte er nicht denken, er war inzwischen zu dem gleichen Entschluss gekommen wie Wagner: Wenn die sich nicht meldeten, gab es keinen Grund, sie zu informieren.

Sein Telefon läutete. Engwart aus der Klosterwalder Siedlung. Je länger der sprach, um so aufmerksamer lauschte Bergfeld. Langsam erfasste ihn Aufregung, hier deutete sich die erste heiße Spur an. „Können wir uns vor dem Bungalow treffen?“ Engwart erklärte, er sei mit seiner Frau auf dem Heimweg und habe abends Redaktionsdienst. Jetzt rufe er von der Post Klosterwalde an, weil ihn die offenen Türen und die ganzen Umstände beunruhigten. Bergfeld überlegte, ob er den Journalisten unbedingt brauchte, doch das musste nicht unbedingt sein. Er notierte Engwarts Telefonnummer.

Danach informierte er Windisch und entschied, Müller selbst zu übernehmen. „Ich fahre nach Klosterwalde, wir treffen uns dann abends wieder hier.“ Aus einem spontanen Gefühl heraus ging er bei Wagner vorbei und überredete ihn, mitzukommen. Zuerst fuhren sie zu Müllers Wohnung. Unterwegs informierte er den Kriminaltechniker, dass Müller seit drei Jahren geschieden und kurz darauf in eines der unter Denkmalschutz stehenden niedrigen Häuser gezogen war, in die man trotz des Wohnungsmangels keine junge Familie hinein bekam. Nun standen sie vor dem idyllisch wirkenden, windschiefen Gebäude, das sich neben der Stadtmauer in der Nähe des historischen Tores befand. Nur einen Steinwurf weiter machte die vor einigen Jahren mit großem Aufwand erbaute Festhalle mit Gaststätte den Gegensatz zu diesen Hutzelbauten noch deutlicher: Hier die kleinen Fenster und die uralte hölzerne Eingangstür in der mittelalterlich wirkenden Gasse, dort die zur Hauptstraße funkelnden riesigen Scheiben der modernen, zweistöckigen Halle.

Sie gingen durch den dunklen Hausflur die schmale Stiege hinauf und Bergfeld fragte sich, ob die Bewohner hier überhaupt fließend Wasser und Innentoilette hatten. Er würde selbst für nur zehn Mark Miete nicht in einem solchen Haus wohnen wollen. Trotz der schrillen Klingel reagierte niemand in der Wohnung. Er sah Wagner an. Der ahnte seinen Wunsch und fragte: „Ist denn Gefahr im Verzug?“

„Eigentlich nicht – nur so ein mulmiges Gefühl.“

„Das ist ein bisschen wenig.“

Bergfeld klopfte an die Nebentür. Schließlich kam eine kleine Hutzelfrau heraus, die den Eindruck machte, als wohne sie hier schon seit dem Bau der Häuser vor dreihundert Jahren. Sie erzählte, sie habe Müller seit drei Tagen nicht gesehen. Bergfeld steckte einen Zettel durch den Briefschlitz, Müller möge sich sofort bei ihm melden. Dann holperten sie mit Bergfelds hart gefedertem Trabant-Kombi durch zwei fürchterliche Kopfsteinpflaster-Gassen, ehe sie auf die Ausfallstraße nach Wandlitz kamen. Als sie an der langen Mauer vor dem sowjetischen Panzerregiment vorbeifuhren, sagte Wagner plötzlich: „Ich bin gespannt, wie lange die noch in Deutschland bleiben wollen.“

„Was, wen meinst du?“ fragte Bergfeld zurück. Er war in Gedanken schon wieder beim Verhalten seiner Frau. Er sah Wagner fragend an. „Du meinst die Freunde?“

Wagner nickte, ging aber nicht darauf ein. „Hast du Probleme?“ fragte er dann. „Ich meine privat?“

„Nein, wie kommst du darauf“, erwiderte er und lachte gekünstelt. Und nach einiger Zeit: „Naja, ich mach mir ein paar Sorgen. Wegen dem ererbten Haus, weißt du.“

Wagner nickte. „Wem sagst du das. An meinem Haus müsste auch einiges gemacht werden. Die Wasserrohre, die Hauswasseranlage, das Dach müsste gedeckt werden, die Fenster sind verzogen ...“

Sie schwiegen, bis Bergfeld vor seinem Hauseingang hielt. Seine Wohnung war eine von vielen in den acht Blöcken, die man von Mitte der sechziger bis in die siebziger Jahre gebaut hatte; ein- bis dreistöckige Mietshäuser, vor allem für die Angehörigen des großen Möbelwerkes am Bahnhof gedacht. Bergfeld holte seinen Rottweiler aus der Wohnung, und der pinkelte erst einmal gegen einen Laternenpfahl. Es war erstaunlich, wie lange Hunde ihren Urin anhalten konnten, denn obwohl sie Bully seit Sylvias Auszug manchmal bis zu zwölf Stunden allein ließen, hatte er noch nie in die Wohnung gemacht. Bergfeld öffnete die Rückklappe des Kombis, der Rottweiler sprang in den Wagen und grunzte Wagner freundlich an.

„Gute Idee, mit dem Hund“, sagte der Kriminaltechniker.

Sie fuhren am sogenannten Torfhof vorbei, einem etwa fünftausend Quadratmeter großen Gelände mit Hallen und flachen Bürogebäuden. Hier erwartete sie der Klosterwalder Einsatzleiter Hanke, den Bergfeld angerufen hatte. „Ich hab’ noch mal bei uns im Betrieb rumgehört, niemand weiß, wo Müller ist. Hat sich seit gestern nicht gemeldet.“ Er war blass, seine leicht hervorquellenden Augen rollten unruhig herum. Er schloss die Tür seines Büros ab, ging dann noch einmal zurück und holte eine Tasche.

„Wollen Sie Ihr Büro nicht abschließen?“ fragte Wagner. Hanke rannte wieder zurück.

Bergfeld nahm den Waldweg und gab seinem Trabant jedesmal knatternd Schwung, wenn sie sich Pfützen näherten. Hier kannte er jedes Loch und wusste, wie man den aufgeweichten, tiefen Boden nehmen musste; für solche Wald- und Feldwege war die halb spöttisch, halb liebevoll bezeichnete „Rennpappe“ mit ihrem Vorderradantrieb wie geschaffen.

Sie hielten einige Meter entfernt vom Lada. Als Bergfeld die Rückklappe öffnete, hörte er ein Geräusch. Auch Wagner stutzte. Es kam vom Wasser. Der ausgebaggerte See wurde an zwei Seiten von einem aufgeschütteten Wall begrenzt, der mit dichten Wildkirschen und Weißdornbüschen bestanden war. „Das sind wahrscheinlich die Bisamratten“, sagte Hanke. „Die haben sich hier schon seit zwei Jahren angesiedelt, nachdem wir hier mit dem Ausbaggern angefangen haben.“

„Das können wir ja überprüfen“, sagte Bergfeld. Er leinte Bully an und führte ihn an dem Wochenendhaus vorbei bis zum kleinen Steg mit dem angebundenen Holzkahn. Der Rottweiler zitterte vor Aufregung und schnüffelte in Richtung Wall. „Dann such, Bully“, sagte Bergfeld, ließ ihn los und Bully stürmte wie ein Bulldozzer ins Schilf.

Wagner kam heran. Kniete sich vor dem Kahn und musterte ihn. Dann kletterte er hinein, untersuchte ihn mit einer Lupe und schüttelte den Kopf. Im Schilf bellte der Hund. „Haben Sie den Schlüssel für die Kette?“ fragte Bergfeld.

Hanke kramte in seiner Tasche und öffnete das Vorhängeschloss am Kahn. Er holte zwei Ruderblätter aus einem kleinen Geräteschuppen und sie ruderten zu dem Hund, der ein Stück entfernt im Schilf stand und ein Erdloch in dem dicht bewachsenen Wall anbellte. Auch als sie näher kamen, ließ sich nichts erkennen. „Was ist – such, such, Bully“ feuerte Bergfeld den Hund an.

Der wurde noch aufgeregter und kratzte am Hang. Er rief den Hund zurück und stellte enttäuscht fest. „Nur Eingänge zu den Bisamratten.“ Er schüttelte den Kopf und tadelte den Hund: „Also Bully, hast du alles verlernt? Ein Polizeihund verbellt nur Menschen.“

Sie ruderten zurück, der Hund folgte ihnen ohne Begeisterung. Offensichtlich begriff er nicht, warum er seit zwei Jahren pensioniert war, nun endlich wieder etwas suchen und dann auch noch Disziplin wahren sollte, als sei er weiter im Dienst. Bergfeld ließ Bully an der langen Suchleine laufen. „Engwart und sein Hund waren schon hier und wer weiß, wer außerdem“, sagte er. „Ob da noch Spuren zu finden sind ...?“

Sie folgten Bully, der die Spur von jenem, auf dem Müller gesessen hatte. Er zog Bergfeld zu dem versumpften Wassergraben, folgte diesem etwa zwanzig Meter und blieb an einer dicht verwachsenen Stelle zwischen mehreren kleinen Kiefern stehen. Einer der kleinen Bäume war umgeknickt, zwei Zweige angebrochen, auch Gras war niedergedrückt und auf einem Maulwurfshügel ließ sich deutlich ein Reifenabdruck erkennen. Bergfeld lobte seinen Hund und der sah ihn so glücklich an, als wolle er sagen: Siehst du, ich habe doch nichts verlernt.

Hanke verfolgte ihr Tun aus achtungsvollem Abstand. Als Bergfeld ins Haus ging, fragte er: „Meinen Sie, Kutte – ich meine Kurt Müller ist etwas passiert? Hier, am See?“

„Wir wissen noch gar nichts“, erwiderte Bergfeld.

Wagner kroch auf dem Wohnzimmerboden entlang. Er hatte mehrere Lampen aufgestellt, starkes Licht erhellte das Zimmer. Er und untersuchte den Teppich. „Ich möchte wetten, das hier ist Blut“, murmelte er. „Leider nur ein paar Tropfen und eingetrocknet.“

Bergfeld versuchte, von der Tür aus etwas zu erkennen, doch aus dieser Entfernung wirkte der abgewetzte, dunkle Teppich sauber. Er informierte Wagner über die Spur an den kleinen Kiefern, und der Kriminaltechniker murrte, dann müsse er sich die erst mal ansehen, ehe es dunkel würde. „Hier dauert es noch eine Weile, aber hier habe ich ja Licht.“

Bergfeld befragte Hanke zu Müller; ob er Feinde habe, ob er Ärger hatte – und da erzählte Hanke auch von den Vorwürfen der Kreisleitung, die ihn für die Vernichtung wertvollen Ackerlandes verantwortlich machte. Aber man munkle auch von irgendwelchen dunklen Geschäften mit Benzin und Wodka, schließlich saufe Müller ziemlich viel. „Aber ehrlich gesagt, persönlich kenne ich ihn ja kaum – nur wenn er mal herkam und die Arbeit hier vor Ort überprüfte.“

Es war kühl und sie gingen beide an dem ausgebaggerten Seerand entlang, vor ihnen Bully, der herumschnüffelte, hin und wieder herankam und Bergfeld auffordernd ansah, ob denn keine neuen Befehle kamen. „Benzin und Wodka“, sagte Bergfeld und blieb ruckartig stehen. „Müller wohnt in Bernau. Macht er da mit den russischen Soldaten Geschäfte?“

Hanke hob die Schultern. „Keine Ahnung. Aber mit denen machen doch viele Geschäfte. Ich habe, ehrlich gesagt, von ihnen auch schon mal Benzin gekauft. Die stehen doch immer an der Autobahn.“

Vielleicht war das eine Spur. Und wenn es eine heiße war, dann war sie gefährlich.

Langsam kroch die Dunkelheit aus dem Wald und Hanke sah unruhig auf seine Uhr. „Dauert es noch lange?“ fragte er.

„Kann ich nicht sagen, doch wenn Sie gehen wollen, habe ich nichts dagegen.“ Bergfeld überlegte. „Sie haben doch vorhin eine Tasche aus dem Büro mitgenommen. Was haben Sie denn da drin?“

„Die Arbeitsunterlagen für die Ausbaggerung hier im Moor, dann die Aufträge der LPG – die haben doch immer die Erde zur Bodenaufbesserung angefordert, die Rechnungsbelege...“

Auch das konnte eine Richtung sein, in die man ermitteln sollte. Er

wusste nicht, ob bei den Torfboden-Geschäften auch etwas mit Bestechung lief, wie vor einem Jahr im Fall der Kieslieferungen. „Brauchen Sie diese Unterlagen im Moment?“ fragte Bergfeld.

„Nee, im Moment nicht.“

„Gut, ich bringe sie Ihnen so schnell wie möglich zurück. Ja, das wär’s dann. Übrigens: Haben Sie die Bungalow-Schlüssel dabei?“

Hanke reichte ihm eine recht dicke Mappe und die Schlüssel. „Ihm wird doch nichts passiert sein“, sagte er. „Da trinkt man abends noch zusammen und am nächsten Morgen ist einer verschwunden. Einfach so weg.“ Er schüttelte den Kopf und stapfte davon.

Bergfeld schaute in das Wochenendhaus. „Schon was gefunden?“ fragte er, obwohl er die Antwort kannte. Dann fiel ihm etwas ein. „Hast du die Autoschlüssel von dem jungen Mann... dem Erschossenen mit?“

Wagner deutete auf seinen kastenförmigen Koffer, in dem ein Fach als Schlüsseltasche diente. Das Ungetüm ließ sich wie ein kleiner Werkzeugschrank auseinander klappen und Bergfelds Blick fiel auf mindestens fünfzig Schlüssel und Haken, einige dünne Zangen, Drähte und Feilen und einen etwa zigarrengroßen Metallkörper mit Häkchen und Schiebern. Das war offenbar ein komplizierter, verstellbarer Spezialschlüssel. „Bring’ nichts durcheinander“, knurrte Wagner. „Die Autoschlüssel liegen oben in einer Plastetüte.“

„Alles klar“, sagte Bergfeld. Er nahm den Autoschlüssel und ging ohne große Hoffnung zu Müllers rotem Lada. Das war natürlich eine irre Idee, aber versuchen konnte man es ja. Er steckte den Schlüssel in die Fahrertür, drehte ihn und spürte etwas einschnappen. Die Tür ließ sich öffnen. Einen Moment starrte er dümmlich in den leeren Wagen und versuchte, zu begreifen. Fast mechanisch versuchte er es mit der Kofferraumklappe und hob sie an. Bis auf das Reserverad - nichts. Dann ging er zu Wagner ins Haus. Er musste sich räuspern, ehe er fragen konnte: „Sag mal, Siegfried, passen Ladaschlüssel eigentlich für jeden Wagen dieses Typs?“

„Dämliche Frage“, murmelte Wagner. Dann ruckte er hoch und starrte Bergfeld an. „Das kann doch nicht wahr sein.“

Führte Müllers Spur bis hinter die Kasernenmauern? Dann würde sie für die deutsche Polizei im Dunkel verlaufen. Das war ein Staat für sich, und nicht der freundschaftliche, brüderliche, wie es die Propaganda seit Jahrzehnten glauben machen wollte. Nicht mal die fanatischsten Parteimitglieder bei der Polizei wollten etwas mit den Sowjets und ihrer undurchsichtigen, eigenartigen Rechtsauffassung zu tun haben. Sie waren die Sieger und so verhielten sie sich auch -- seit fast fünfzig Jahren.

Wagner hatte vorhin wirklich Recht mit seiner Frage. Jetzt stöhnte er leise und sagte: „Denkst du dasselbe wie ich?“

Der Brandkiller

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