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BRITTA UND DER BELGISCHE SCHWINDLER Port d’Andratx

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Britta kennt die Nummer auf ihrem Display nicht.

Sie fängt mit 0043 an. Ist das nicht eine Nummer in Österreich? Sie überlegt kurz, wen sie in Österreich kennt. Ihr fällt niemand ein. Trotzdem nimmt sie ab, ihre Neugier siegt. Sie kann ja nicht wissen, dass nach diesem Anruf nichts mehr so sein wird wie zuvor. Dass gleich ihre komplette Welt zusammenbrechen wird.

»Hallo?«

»Grüß Gott.« Eine Frau ist am anderen Ende der Leitung. Sie spricht hochdeutsch, Britta kann keinen österreichischen Akzent hören.

»Ja bitte?«

»Sind Sie die Frau von Tim Mertens?«

»Wer will das wissen?«

»Mein Name ist Sophia. Das ist hier für mich kein einfacher Anruf, wissen Sie. Ich muss ihnen etwas erklären …«

Britta schaut aus dem Fenster auf die Bucht von Andratx. Im Hafen unten schaukeln die Boote. Sie kann aus der Ferne sehen, dass die Terrassen der Restaurants und Bars am Hafen voller Menschen sind. Sie zündet sich eine Zigarette an und geht mit dem Telefon auf die große Terrasse, stellt sich ans Geländer und blickt aufs Meer hinaus.

»Also gut. Ja, ich bin die Frau von Tim Mertens.«

Am anderen Ende der Leitung ist alles still.

»Hallo?«

»Entschulden Sie bitte«, sagt die Frau jetzt. »Ich muss wirklich mit Ihnen reden. Dringend.«

Sie macht erneut eine Pause, atmet tief durch. Britta kann es ganz deutlich hören.

Die Frau erzählt, warum sie unbedingt anrufen musste, und Britta lässt sich in den großen Korbstuhl sinken.

»Sind Sie sicher, dass wir den gleichen Tim meinen?«

Britta zweifelt. Wie kann das sein? Ihr Tim? Hätte sie das nicht bemerken müssen? Hätte ihr das nicht auffallen müssen? Bestimmt ist das alles nur ein Missverständnis. Bestimmt! Bestimmt! Bestimmt! Vielleicht nur eine Verwechslung – wegen eines gleichen Namens.

»Vielleicht meinen wir gar nicht den gleichen Mann!«, sagt sie jetzt zu der Frau.

»Ich fürchte zwar, dass Sie sich da falsche Hoffnungen machen, aber ich könnte Ihnen ja einfach ein Foto schicken.«

Britta gibt der anderen Frau ihre spanische Handynummer. Als kurz darauf ihr Handy den WhatsApp-Ton spielt, zittert sie. Noch einmal schaut sie von der Terrasse auf die Hafenmole rüber – so, als wolle sie sich mit diesem lebendigen und vertrauten Anblick selbst versichern, dass sie nicht träumt. Dass das real ist, was sie gerade erlebt.

Sie zieht besonders lange an ihrer Zigarette und nimmt dann ihr Handy.

Kein Zweifel! Das ist ihr Tim. Leider. Neben ihm auf dem Foto steht eine Frau, kurze Haare, brünett, etwa Mitte vierzig.

»Sind Sie das?«

»Ja. Das war vor drei Jahren. Etwa.«

»Sie haben völlig recht. Wir müssen sprechen. Aber nicht am Telefon. Ich komme natürlich zu Ihnen. Wenn das okay ist.«

»Gern. Ich wohne in Salzburg.«

Keine Viertelstunde später bucht Britta einen Flug von Palma nach Salzburg und zurück. Gleich am nächsten Tag geht die Maschine, kurz vor Mittag.

Sie ist froh, dass Tim nicht zu Hause ist. Sie wäre sonst bestimmt hysterisch geworden. Wäre vielleicht ausgeflippt im ersten Moment.

Tim ist für eine Woche in Belgien unterwegs. Geschäftlich. Hat er zumindest behauptet. Britta weiß nicht mehr, ob sie ihm das noch glauben kann. Ob sie ihm überhaupt noch etwas glauben kann. Ob sie überhaupt weiß, wer das ist: dieser Tim, den sie vor elf Monaten geheiratet hat.

Auf der Anrichte liegt eine neue Packung Marlboro. Sie zieht das Zellophan ab, schenkt sich ein großes Glas Weißwein ein und geht hinaus auf die Terrasse.

»Das kommt davon, wenn man sich mit einem Urlauber einlässt«, murmelt sie vor sich hin.

Dann nimmt sie einen großen Schluck.

Als dieser »Urlauber« im Juli vorigen Jahres in ihr Leben kam, da war sie bereits 57. Und seit einem guten halben Jahr geschieden. Zwei Jahre zuvor schon hatten sie und Ernesto sich getrennt. Nach zwölf Jahren Ehe. Die Kinder hatten alles recht gut verkraftet. Maite war zehn Jahre alt, ihr Bruder Rafael acht, als Tim zum ersten Mal in der Villa in Port d’Andratx auftauchte.

»Geschäftsmann aus Belgien sucht kultivierte Residentin über fünfzig, die ihm die Insel zeigt. Spreche deutsch, spanisch, englisch, französisch und flämisch. Mag gutes Essen und erlesene Weine.« Diesen Post hatte Tim in einem Mallorca-Forum auf Facebook abgesetzt. Er war ihr damals sofort ins Auge gesprungen. Tim antwortete auf ihre Nachricht nach nicht einmal einer halben Stunde und schickte ein Foto, das sie auf der Stelle beeindruckte.

Seine grauen Haare und der Dreitagebart, dazu ein sympathisches Lächeln. Gepflegt, seriös. In Brittas Augen wirkte Tim auf diesem Bild wie der nette Millionär von nebenan.

»Ein richtiges Zückerchen!«, befand auch ihre beste Freundin Michaela, der sie das Foto sofort weitergeschickt hatte.

»Ein Urlauber, der etwas erleben will«, antwortete Britta.

»Na und? Wenn zwei das Gleiche erleben wollen, ist doch alles in Ordnung.« Michaela ist auch in zwischenmenschlichen Fragen eher praktisch veranlagt.

Mallorca ist kein gutes Pflaster für alleinstehende Frauen, die auf der Suche nach einem Mann sind. Britta musste feststellen, dass die besten Männer bereits vergeben sind. Und der Rest, der halbwegs akzeptabel ist, hat irgendeinen Spleen. Sie hatte seit der Trennung von Ernesto in den üblichen Foren und mit Tinder nach neuen Kontakten gesucht. Etwa ein Dutzend Männer hatte sie in den beiden Jahren kennengelernt. Bei manchen war ihr bereits nach dem ersten Telefonat klar, dass es nicht passt. Mit einigen hatte sie sich zum Essen verabredet – und mit zweien war sie im Bett gelandet. Kein einziger Mann aber hatte sie wirklich so berührt, dass sie sich eine längere Beziehung hätte vorstellen können.

Deshalb hatte sie sich anfangs auch bei Tim keine großen Hoffnungen gemacht.

Es ist bereits neunzehn Uhr, und die Sonne steht direkt über dem Mirador de Cap Andritxol. Das ist der Aussichtspunkt auf der gegenüberliegenden Landzunge, den Britta von ihrer Terrasse aus sehen kann, wenn sie quer über den Hafen schaut. Der Mirador, das ist ihr direkter Nachbar auf der anderen Seite. Denn zwischen ihrer Villa und dem Cap Andritxol steht kein Haus mehr. Es gibt unter ihr nur den Fels und das Meer.

Britta schenkt sich nach. In ziemlich genau einer Stunde wird die Sonne verschwinden. Sie hat das Schauspiel schon abertausendmal gesehen, und doch fasziniert es sie immer wieder.

Sie liebt es, mit Tim um diese Zeit hier zu sitzen. Er schaltet Lounge-Musik an. Sie mixt zwei Gin Tonic. Und dann lehnen sie sich in ihren Korbstühlen zurück – und irgendwer von ihnen beiden sagt, sobald die Sonne untergegangen ist: »Mannomann, war das wieder kitschig heute!«

Dann antwortet der andere immer: »Ja, schlimm dieses Mallorca!«

Das ist ihr Ritual. Jeden Abend, wenn es das Wetter zulässt. Seit mehr als einem Jahr.

Je länger Britta darüber nachdenkt, desto sicherer ist sie, dass die Frau aus Österreich wirklich recht haben könnte mit dem, was sie vorhin am Telefon behauptet hat. Tims viele geschäftliche Termine. Seine regelmäßigen Reisen. Seine finanziellen Engpässe. Alles fügt sich plötzlich wie bei einem Puzzle zu einem Bild zusammen, wenn sie ihre gemeinsamen Monate aus diesem neuen Blickwinkel betrachtet. Auch ihr Ritual in der Abendsonne kommt ihr nun verlogen und falsch vor.

Britta stellt sich vor, wie Tim zusammen mit der Sonne hinter dem Mirador de Cap Andritxol im Meer verschwindet. Für immer und ewig.

Zeit für eine weitere Marlboro.

»Tut mir leid, wenn ich gleich so direkt bin. Aber ich bin sehr beeindruckt.«

Das waren die ersten Sätze gewesen, die Tim zu ihr gesagt hatte.

Sie führten ihr erstes Gespräch über Facetime. Telefonieren mit Bild.

Und Britta gab offenbar ein Bild ab, das er nicht erwartet hatte von einer Frau mit 57 Jahren. Sie ist groß, 1,82. Sie hat rotes Haar, das sich ziemlich wild bis zu ihren Schultern ergießt. Und sie hat große Augen. Große grüne Augen.

Tim machte einen unsagbar eleganten Eindruck auf Britta. Er gab sich höflich, wohlerzogen, ganz Mann von Welt. Am meisten gefiel Britta seine Stimme. Tief, mit einem leicht französischen Akzent.

Sie sprachen fast eine Stunde lang über alles Mögliche. Sie erzählte ihm, dass sie bereits mehr als zwanzig Jahre auf Mallorca lebt, geschieden ist und völlig unabhängig. Sie erfuhr von ihm, dass er seit einem halben Jahr getrennt ist und sich derzeit in die Arbeit stürzt. Er ist Geschäftsmann, pendelt durch ganz Europa, verkauft große Anlagen für Industriemaschinen. Drei Jahre hatte er in Barcelona gelebt, damals noch als leitender Angestellter eines schwedischen Chemieunternehmens. Deshalb spricht er recht passabel spanisch – nach wie vor.

»Ich würde mich sehr, sehr freuen, wenn das klappen würde mit unserem Treffen in zwei Wochen«, sagte er zum Schluss.

»Ich bin mir absolut sicher, dass wir uns in 14 Tagen sehen. Ich werde dafür sorgen, dass nichts dazwischenkommt.«

Dann legten sie auf.

»Du hattest so was von recht«, erklärte sie Michaela, die darauf bestanden hatte, dass Britta sie sofort anruft, sobald sie mit Tim gesprochen hat.

»Mit was?«

»Mit dem Zückerchen. Der ist sogar noch mehr als ein Zückerchen. Das ist ’ne ganze Zuckertüte.«

Und dann schilderte sie ihrer Freundin in allen Einzelheiten, was sie alles von Tim erfahren hatte.

»Und wo ist der Haken?«, wollte Michaela dann wissen.

»Kein Haken.«

»Quatsch. Das gibt’s nicht. So ein Typ ohne Haken muss erst noch erfunden werden. Aber du kannst es ja dann rausfinden. In aller Ruhe und ausgiebig.«

»Das werde ich auch tun. Und ich freue mich drauf.«

Britta war fast ein wenig beleidigt, weil Michaela ihren Überschwang nicht teilte.

Pünktlich.

Britta ist in Salzburg gelandet und steht nun am Avis-Schalter. Sie ist nervös. In der Nacht hat sie kaum geschlafen. Stundenlang grübelte sie im Bett, was sie jetzt tun soll, wie es weitergehen soll mit ihr und Tim. Ob es überhaupt weitergehen kann.

Die Frau trägt das brünette Haar noch immer so kurz wie auf dem Foto mit Tim. Sie ist schlank und kann sich den knappen Rock absolut leisten, den sie zum Treffen mit Britta in einem Café in der Salzburger Innenstadt angezogen hat. Sophia ist 47.

»Ich bin seit sechs Jahren mit Tim verheiratet.«

Britta bleibt bei diesem Satz für einen kurzen Moment die Luft weg, aber dann fängt sie sich wieder.

»Kinder?«

»Nein.«

»Wann habt ihr euch denn zuletzt gesehen?«

»Vorgestern. Alles war wie immer.«

Britta schaut die Frau fragend an, die mit dem gleichen Mann wie sie verheiratet ist.

»Mir hat er gesagt, dass er geschäftlich unterwegs ist. Und ziemlichen Stress hat.«

»Das sagt er mir auch, wenn er vermutlich bei dir auf Mallorca ist.«

»Warum macht er so was?«

»Ich weiß es nicht.« Sophia hebt die Schultern. »Ich habe jetzt zwei Nächte lang wach gelegen und mir darüber Gedanken gemacht. Aber ich weiß es nicht.«

»Wie hast du das rausbekommen, das mit Tim und mir?«

Sophia erzählt von dem Anruf ihres alten Schulfreundes Paul, der schon lange auf Mallorca lebt. Er hat Tim und Britta in einem Restaurant in Palma gesehen. Sie hatten Händchen gehalten und sich geküsst. Er hat vorgestern ein Foto gemacht und es an Sophia geschickt.

»Und woher weißt du, dass wir verheiratet sind?«

»Paul kennt dich vom Sehen, sein Boot liegt in dem Hafen, an dem du wohnst. Und er hatte gehört, dass du einen Belgier geheiratet hast. Da musste er nur zwei und zwei zusammenzählen.«

Britta ist nun doch fassungslos. Sie war auf alles vorbereitet, doch jetzt, wo sie so konkret alles erfährt, trifft es sie erneut wie ein Schlag. Sie erfährt, dass Tim zudem bei Weitem nicht so vermögend ist, wie er tut. Er hat zwar schon eine Menge Geld verdient in seinem Leben, aber er hat auch etliche Geschäfte in den Sand gesetzt. In Belgien hat er Schulden, in Deutschland ebenfalls. Aus irgendeiner Quelle sprudeln noch immer regelmäßig Gelder, aber Sophia hat nicht herausfinden können, woher das Geld stammt.

»Ich vermute, von irgendeinem Schwarzkonto im Ausland«, erklärt sie. Sie hatte sich ebenso wie Britta bislang nie sonderlich für Tims Einkünfte interessiert. Auch sie ist finanziell unabhängig, seit sie die Firma ihres Vaters verkauft hat. Beide Frauen haben Tim immer wieder finanziell unter die Arme gegriffen, stellen sie nun fest. Niemals ganz große Beträge, mal zweitausend, mal dreitausend Euro. Er hatte immer eine gute Begründung, warum er das Geld brauchte. Mal hatte sein Wagen eine Panne, und die Kreditkarte funktionierte nicht. Ein anderes Mal musste er angeblich eine große Rechnung bezahlen, konnte aber auf die Schnelle nichts von seinem Festgeldkonto abheben.

»Was machen wir jetzt?«

»Schluss mit ihm machen wir. Am besten wir beide. Doppelte Ehe. Doppelte Scheidung. Also, ich kann das natürlich nur für mich sagen.« Sophia lässt keinen Zweifel daran, wie entschlossen sie ist.

»Aber wir machen doch nicht so einfach Schluss, oder? Es soll ihm doch auch wehtun, wenn er uns schon wehtut.« Auch Britta wirkt entschlossen.

»Selbstverständlich! Richtig wehtun muss es ihm.«

»Mir ist aber noch nichts eingefallen …«

Jetzt lächelt Sophia zum ersten Mal: »Ich hätte da eine Idee.«

In der Abendmaschine nach Palma nickt Britta kurz weg. Ihr fehlt einfach der Schlaf. Sie bestellt einen Kaffee und denkt weiter nach. Über Tim. Darüber, wie schnell alles ging. Und wann sie hätte merken können, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmt.

Tatsächlich hatte er sie bei ihrer ersten Begegnung noch viel mehr beeindruckt als bei den Anrufen. Er war größer, als sie dachte. Eine Erscheinung war er. Eine höfliche Erscheinung.

Sie hatten sich zum Abendessen in der Villa Italia getroffen, nur wenige Schritte vom Hafen in Port d’Andratx entfernt. Tim überraschte sie mit einem Strauß Blumen. Sie redeten den ganzen Abend, lachten und verstanden sich so gut, dass Britta gar nicht glauben konnte, dass sie diesem Mann erst vor wenigen Stunden zum ersten Mal begegnet war.

»Komisch, mir kommt es vor, als ob wir uns schon ewig kennen«, sagte sie, als sie zum Absacker nach dem Abendessen in Romeo’s Bar saßen und in der lauen Julinacht auf die Lichter der Segelboote schauten.

»Ich glaube, das liegt daran, dass wir den gleichen Humor haben.«

Das war der Augenblick, in dem sie Tim am liebsten geküsst, an die Hand genommen und zu sich nach Hause in ihr Schlafzimmer gezogen hätte. Er musste ihr das angesehen haben. Anders konnte sie sich nicht erklären, warum er wortlos aufstand, zahlte und dann zu ihr sagte: »Ich bringe dich gern zu deinem Haus, dann werde ich aber weiterfahren. In mein Hotel.«

»Okay. Sehen wir uns denn morgen?«

»Ich bestehe darauf. Und freue mich.«

Sie küsste ihn und ging dann doch zu Fuß in die Villa hoch, die frische Luft tat ihr gut.

Im Bett landeten sie an ihrem zweiten Abend. Nicht in ihrer Villa, sondern in seinem Hotel. Maite und Rafael schliefen im Haus, die wollte sie nicht mit einem wildfremden Mann überraschen.

»Und?«, fragte Michaela am Vormittag danach, als sie beide im Café Cappuccino saßen, »auch das war okay?«

»Granate war das. So schön wie schon ganz lange nicht mehr.«

»Also. Wo ist denn jetzt der Haken? Der Sonnyboy muss doch ’ne dunkle Stelle haben.«

»Er ist kein Sonnyboy. Er ist ein Gentleman. Und wenn er eine dunkle Stelle hat, dann hat er sie bisher sehr gut vor mir versteckt.«

Michaela nahm ihre Tasse Kaffee, lehnte sich zurück und zog an der Zigarette: »Du wirst sie schon noch finden.«

»Sie ist eine unverbesserliche Pessimistin«, denkt Britta kurz vor der Landung in Palma. Aber sie hat doch meistens den richtigen Riecher. Auch wenn es lange gedauert hat, bis die dunkle Stelle des Gentlemans zum Vorschein kam.

Die Sonne geht gerade unter, als Britta vom Flughafen nach Hause fährt. Eine gute halbe Stunde braucht sie gewöhnlich für die Strecke nach Port d’Andratx. Auf der Fahrt denkt sie darüber nach, wie rasend schnell alles mit Tim gegangen ist.

Der »Gentleman« war bereits nach wenigen Wochen zum Liebling ihres Freundeskreises avanciert. Tim war perfekt im Small Talk. Er hielt ihren Freundinnen die Wagentür auf. Er konnte wahnsinnig gut Geschichten erzählen von seinen vielen Reisen.

»Kannst du mir den nicht mal leihen?«, fragte sogar Dana. Und die hatte eigentlich nur Augen für Harold, einen schwerreichen Engländer, den sie vor gut zehn Jahren in der Segelschule kennengelernt hatte. In diesem Augenblick war Britta zum ersten Mal richtig stolz auf ihren Tim.

Auch die Männer im Golfklub und in den anderen Runden nahmen Tim sofort in ihre Mitte auf. Britta musste ihn nur kurz vorstellen und konnte dann mit ihrem Glas Sekt zu einer Freundin weiterziehen: Tim und die Jungs kamen ganz fix ins Gespräch, sprachen über Sport oder Geschäfte oder Mallorca oder das Segeln. Er konnte immer mitreden. Und er hatte auch immer etwas zu sagen.

Britta muss an diesen Abend Ende August denken.

Sie hatten eine Runde Golf gespielt, und Britta beobachtete aus ein paar Metern Entfernung, wie er mit den Männern ihrer Freundinnen im Klubhaus an der Theke saß und einen Weißwein trank. Wie er so dasaß, in einer Hand das Glas, in der anderen eine Zigarre, wie er lachte, redete, diskutierte, wie er gestikulierte – in diesem Moment hatte Britta so eine wahnsinnige Vertrautheit gespürt – so, als sei er schon immer der Mann an ihrer Seite gewesen.

Das war der Abend, an dem sie ihn später auf der Terrasse fragte, ob sie nicht heiraten sollten.

»Aber wir kennen uns doch gerade mal zwei Monate …«, hatte er geantwortet.

»Aber ich bin 57, und du wirst nächsten Monat 59. Auf was sollen wir noch warten?«

Einen ganz kurzen Moment dachte Tim nach.

»Also – ich bin dabei!«, sagte er dann.

»Wäre ja auch doof, wenn nicht. Bei deiner eigenen Hochzeit.«

Also haben sie keine zwei Monate später geheiratet. Am 15. Oktober im Rathaus in Andratx. Nur mit den allerengsten Freunden und den beiden Kindern. Michaela war Brittas Trauzeugin. Tim hatte sich Harold als Trauzeugen ausgesucht.

Kurz hinter dem Santa-Ponsa-Kreisel ruft Britta aus dem Wagen ihre beste Freundin an. Nur zweimal klingelt es, dann nimmt Michaela ab.

»Schatz, wo hast du dich denn heute rumgetrieben? Ich habe am Mittag bei dir geklingelt, als ich mit den Hunden unterwegs war. Aber die Kinder sagten, du würdest erst spät zurückkommen.«

»Ich komme gerade aus Salzburg zurück.«

»Was hast du denn da gemacht?«

»Die dunkle Stelle ist aufgetaucht.«

»Oha! Sehr dunkel, die Stelle?«

»Noch viel dunkler.«

Es ist erst kurz nach elf am nächsten Morgen, und Michaela bestellt bereits einen Cava. Sie kann ihn gut gebrauchen.

»Bist du dabei?«, fragt Britta.

»Was ist das denn für eine Frage? Selbstverständlich bin ich dabei!«

»Und was hältst du von dem Plan?«

»Ein sehr guter Plan. Der wird sich anschließend wünschen, niemals sechzig geworden zu sein!« Michaela hat eine ungewöhnlich tiefe Stimme. Ihr Lachen wirkt laut und schmutzig.

Die beiden sitzen auf der Terrasse des Café Cappuccino zwischen Urlaubern und rauchen Kette. Michaela muss immer noch verdauen, was Britta ihr am Abend zuvor bereits am Telefon erzählt hat. Von Sophia, der anderen Ehefrau in Salzburg. Von den Spielchen, die er jetzt seit mehr als einem Jahr mit beiden Frauen treibt. Von dem Geld, das er sich mal von der einen, mal von der anderen hat geben lassen.

»Und das mit der anderen Frau geht schon sechs Jahre?«

Britta nickt.

»Wie hat er das denn organisiert? Auch über die Entfernung hinweg? Ich meine – was für ein Aufwand!«

»Ist das wirklich wichtig? Ich glaube, ich will das gar nicht alles wissen. Ich weiß ja noch nicht mal, ob es nicht noch eine dritte oder eine vierte Frau gibt …«

»Darauf kommt’s jetzt auch nicht mehr an.« Erneut lacht Michaela.

Sie besprechen noch einmal ihren Plan in allen Einzelheiten. Morgen Vormittag kommt Tim zurück. Übermorgen ist sein sechzigster Geburtstag. Britta und Michaela gehen jetzt noch mal durch, wen sie zur Überraschungsparty einladen. Die Jungs vom Golfklub mit ihren Frauen müssen unbedingt dabei sein. Die Namen haben sie schnell zusammen. Aber Tim hat in seinem Jahr auf Mallorca viele Freundschaften geschlossen. Britta versucht, sich an alle zu erinnern, Michaela schreibt die Liste. Am Ende stehen genau vierzig Namen drauf. Sie einigen sich, wer wen anruft.

Britta hat bereits am Morgen mit Stephan aus Manacor telefoniert.

»Da habe ich echt Glück gehabt.« Stephan betreibt einen gut gehenden Partyservice. Sie kennen sich seit vielen Jahren. Eigentlich ist es unmöglich, ihn so kurzfristig zu buchen.

»Ich habe ihm gesagt, es ist eine Art Notfall. Und jetzt wirbelt er mächtig, damit er uns morgen was Ordentliches auf den Teller zaubern kann.«

»Stimmt ja auch«, erwidert Michaela. »Ist ja tatsächlich eine Art Notfall.«

»Der Notfall darf nur nichts von alldem mitbekommen.«

Michaela kramt in ihrer Handtasche und stellt dann ein kleines Fläschchen auf den Tisch.

»Normalerweise genügen zehn Tropfen. Aber wir wollen ja auf Nummer sicher gehen. Klaus hat gesagt, du sollst 25 geben. Dann dauert das zwei bis drei Stunden. ’ne sichere Sache«, erklärt Michaela.

Klaus ist ein Freund von ihr. Er ist Internist in Paguera und schuldet ihr noch einen Gefallen.

»In der Praxis wissen sie auch Bescheid. Du kannst Tim also direkt dort hinfahren – ohne Termin.«

Britta betrachtet die kleine Flasche. »Laxoberal« steht auf dem Etikett.

»Und die schmeckt er nicht?«

Michaela zieht die Augenbrauen hoch und schaut ihre Freundin an.

»Das Zeug ist angeblich völlig geschmacksneutral. Klaus schwört auf die Tropfen. Du machst sie ihm einfach in den Kaffee. Merkt kein Mensch. Und wenn ihr später weg seid, kann Stephan mit seinen Leuten alles aufbauen.«

Britta spult den kompletten Ablauf in ihrem Kopf ab. Die Einladungen gleich, morgen die Ankunft von Tim, die Tropfen am Mittag, dann kommen sie am frühen Abend vom Arzt zurück, die ersten Gäste sind dann bereits auf der Terrasse. Und um Mitternacht, wenn Tim Geburtstag hat, wird sie die Bombe platzen lassen. Wenn wirklich alles klappt.

»Du guckst so. Hast du noch irgendwelche Bedenken?« Michaela beugt sich vor, nimmt Brittas Gesicht in ihre Hände wie eine Mutter. »Du hast doch hoffentlich kein schlechtes Gewissen?«

Britta schweigt.

»Dir ist aber schon nach wie vor klar, dass der Typ dich vom ersten Tag an nur belogen hat? Der führt ein Doppelleben! Dem kannst du kein einziges Wort mehr glauben.«

»Ich weiß ja.«

»Was denn dann? Sag mir nicht, dass du den noch liebst …«

Britta zögert einen kleinen Moment. Sie muss nachdenken, sie weiß selbst nicht genau, was sie fühlt.

»Das weiß ich nicht, ehrlich gesagt. Bis vor zwei Tagen war ich noch im siebten Himmel. Und jetzt ist alles völlig durcheinander. Mein ganzes Leben.«

»Schatz, verstehe ich alles. Aber bevor er dich ausnimmt wie eine Weihnachtsgans, mach dem ein Ende. Und mach es mit ’nem richtigen Wumms!«

Daraufhin bestellt Britta noch zwei Gläser Cava, und sie besiegeln ihren Plan.

Als Tim am nächsten Morgen in Palma landet, steht Britta zur gleichen Zeit mit einem Kaffee auf der Terrasse und schaut auf das Meer herunter. Die Sonne glitzert auf der fast glatten Wasserfläche. Heute soll es ein Traumtag auf Mallorca werden, haben sie gerade im Inselradio versprochen. Keine Wolken, null Prozent Regenwahrscheinlichkeit und am Nachmittag Temperaturen bis 32 Grad. Weil so gut wie kein Wind weht, soll auch der Abend angenehm warm werden.

Maite und Rafael sind längst in der Schule. Ihr Vater wird sie später dort abholen. Sie dürfen heute Nacht bei ihm in Palma schlafen. Britta möchte nicht, dass Tim die Kinder noch mal sieht.

»Na, wie hast du geschlafen?«, fragt Michaela.

Britta klemmt das Handy zwischen Schulter und Ohr, weil sie zwei freie Hände braucht, um sich die erste Marlboro des Tages aus der Packung zu fingern.

»Na ja, geht so.«

»Also, ich freue mich auf den Abend heute«, Michaela lacht.

»So richtig hast du ihn nie leiden können, oder?«

»Doch, das habe ich. Aber ich bin halt ein misstrauischer Mensch. Und wenn mir ein angeblicher Mr Perfect meine beste Freundin wegnimmt, dann darf man doch mal ein bisschen eifersüchtig sein.«

»Ich hatte aber eine richtig schöne Zeit mit Tim. Vom ersten Tag an.«

»Das weiß ich, und das habe ich dir auch immer gegönnt. Aber jetzt ist Schluss damit. Jetzt freue ich mich erst mal auf unseren Spaß heute Abend.«

Kurz darauf hört Britta, wie Tim unten seinen Wagen einparkt.

»Ich habe für heute Abend einen Tisch bei Fosh reserviert, damit wir in deinen Geburtstag reinfeiern können.« Britta wundert sich selbst, wie glatt ihr diese Lüge über die Lippen geht. Marc Fosh ist Tims Lieblingskoch. Er ist der einzige Brite in ganz Spanien, der sich einen Michelin-Stern erkocht hat.

»Wow. Das ist ja eine tolle Idee! Ich hatte das auch schon überlegt.«

Er sieht wirklich gut aus. Sehr, sehr gut sogar. Britta schaut aus der Küche zu Tim rüber, der auf der Terrasse sitzt. Sie stellt Schinken und Käse in den Kühlschrank und die Teller in die Spülmaschine. Dann drückt sie den Knopf des Kaffeeautomaten.

»Für einen Mann, der morgen sechzig wird, sieht er sogar herausragend gut aus«, denkt sie, und für einen kleinen Moment bedauert sie, dass dieser herausragend gut aussehende Mann ab morgen aus ihrem Leben verschwinden wird.

Anschließend macht sie 25 Tropfen Laxoberal in seinen Espresso. Sie überlegt kurz und schickt noch mal fünf Tropfen hinterher. Sicher ist sicher.

»Zur Feier des Tages: einen Carajillo!«

Sie stellt ihm die Tasse auf den Terrassentisch. Ein Carajillo ist der typische mallorquinische Espresso mit einem Schuss Rum »Amazonas«. Britta hofft, dass der Rum die Tropfen überdeckt, falls sie doch nach irgendetwas schmecken sollten.

»Oh, da hast du es aber gut gemeint«, sagt Tim nach dem ersten Schluck. Er meint die ordentliche Portion Rum im Kaffee.

Dann trinkt er die Tasse aus und legt sich für eine Siesta ins Schlafzimmer.

Es ist kurz vor sechzehn Uhr, und es hat tatsächlich keine drei Stunden gedauert.

»Britta!«, ruft Tim aus dem Schlafzimmer, und sie hört seinem Tonfall an, dass gerade die erste Stufe ihres Planes gezündet hat.

Er liegt auf dem Bett und krümmt sich vor Schmerzen.

»Was hast du?«

»Bauchschmerzen, wahnsinnige Bauchschmerzen! Und Durchfall!«

Britta setzt sich auf seine Bettkante und fühlt seine Stirn.

»Fieber hast du keines.«

»Aber ich drehe noch durch, so weh tut das. Richtige Krämpfe.«

Waren dreißig Tropfen vielleicht doch zu viel? Er sollte doch nur für ein paar Stunden außer Gefecht gesetzt werden. Britta muss sich dazu zwingen, die Ruhe zu bewahren. Als Tim sich umdreht, sieht sie, dass sein Gesicht aschfahl ist.

»Komm, ich fahre dich zum Arzt!«

»Das geht nicht.« Tims Stimme jammert.

»Wieso nicht?«

»Wegen dem Durchfall. Das schaffe ich nicht bis Palma.«

»Dann fahren wir nur nach Paguera. Zu Dr. Krüger. Das sind nur zehn Minuten. Ich ruf eben schnell an. Zieh dir schon mal was über.«

Im Wohnzimmer nimmt sie ihr Handy vom Tisch.

»Hallo? Ist Dr. Krüger da? Ich habe einen Notfall. Mein Mann hat ganz entsetzliche Krämpfe. Und Durchfall.«

»Das hat er sich mehr als verdient«, sagt Michaela am anderen Ende. »Lasst euch Zeit. Sobald ihr weg seid, fahre ich zu deinem Haus und sage Stephan Bescheid, dass seine Leute hier alles aufbauen können.«

»Ja, ist gut. Vielen Dank. Wir fahren sofort los.«

Keine zehn Minuten später sitzt Tim wie ein Häufchen Elend auf dem Stuhl im Behandlungszimmer. Er war eben zuerst auf die Toilette in der Praxis gerannt, dann konnten sie direkt durchgehen.

»Haben Sie etwas Außergewöhnliches gegessen?«, fragt der Arzt, während er Tims Blutdruck misst.

»Nicht, dass ich wüsste …«

»Also, wir zwei haben heute Mittag genau das Gleiche gegessen, Schinken, ein paar Oliven, Käse, nichts Besonderes«, ergänzt Britta.

»Und Sie spüren gar nichts? Auch kein Magengrummeln?« Britta schüttelt den Kopf und wundert sich über die schauspielerische Leistung von Dr. Krüger.

Er gibt Tim eine Spritze und nimmt ihm Blut ab.

»Nur zur Kontrolle. Ich vermute, Sie haben sich irgendwo den Magen verdorben. Mehr nicht. Vielleicht schon heute früh im Flieger. Ich will mir nur einmal ihr Blutbild etwas genauer anschauen, um irgendwelche unschönen Diagnosen auszuschließen. Sie können draußen warten.«

Tim dämmert auf dem Stuhl im Wartezimmer vor sich hin. Er ist noch immer angeschlagen, aber Magenschmerzen und Durchfall haben nachgelassen. Die Spritze wirkt schnell. Britta nutzt die Gelegenheit, um vor der Tür der Praxis eine zu rauchen und Michaela anzurufen.

»Wie sieht’s aus?«

»Läuft wie am Schnürchen.« Man hört Michaelas Stimme an, wie sie sich freut. »Und bei euch?«

»Läuft auch. Wir warten noch auf die Ergebnisse des Bluttests. Denke aber mal, dass es jetzt nicht mehr lange dauert.«

»Macht nix. Wir sind so weit.«

»Super, beste Freundin!«

Als Britta nach der Marlboro zurückkommt, ist das Wartezimmer leer.

»Ihr Mann ist drin«, erklärt die Sprechstundenhilfe, »Sie sollen bitte hier warten.«

War das so abgesprochen? Warum soll sie nicht hören, was der Arzt zu Tim sagt? Hat er wirklich das Blut untersucht? Und was gefunden? Britta rutscht nervös auf dem Plastikstuhl hin und her. Sie hat das Gefühl, als würde in genau diesem Augenblick alles aus dem Ruder laufen.

»Was ist denn los?« Britta spring von ihrem Stuhl auf, als Tim aus dem Behandlungszimmer kommt. Er sieht nicht gut aus. Sein Gesicht ist zwar nicht mehr so blass wie vorhin, aber seine Augen sind trübe.

»Lass uns erst mal fahren.«

Im Wagen schweigt Tim weiter.

»Jetzt sag schon, was ist denn?«

»Gar nichts. Durchfall ist auch besser. Deutlich besser.«

»Aber du hast doch was! Jetzt sag schon!« Sie sieht ihm an, dass er etwas verschweigt.

»Es ist gar nichts. Ich schwöre«, sagt er, beugt sich dann zu ihr rüber und küsst sie.

Zu Hause wartet Tims große Überraschung.

In der Straße stehen zwei Lieferwagen von »Top-Catering«, dahinter parken etliche Autos von Freunden. Michaela winkt ihnen bereits vom Tor aus zu.

»Was ist denn hier los?«, fragt Tim, kaum dass er ausgestiegen ist.

»Ist alles okay?« Michaela küsst Tim zur Begrüßung.

»Nichts ist okay«, antwortet er in patzigem Tonfall.

»Tim hat Durchfall.«

»Oh? Und jetzt? Was ist mit der Party?«

»Welche Party?«

Michaela schaut Tim streng an.

»Na, welche Party wohl? Wer wird heute um Mitternacht denn sechzig?«

Nun schaut Tim Britta streng an.

»Sagtest du nicht, du hast einen Tisch bei Fosh reserviert?«

Den folgenden Blick hat Britta tatsächlich gestern Abend vor dem Spiegel geübt. Mitleidig soll er sein, unschuldig soll er wirken. Und ein bisschen flehend. Zu ihrer eigenen Überraschung funktioniert der Blick ganz wunderbar. Tim nimmt sie in den Arm, drückt sie und küsst sie.

»Ich wollte dich doch nur überraschen … Ich konnte ja nicht ahnen, dass du Durchfall bekommst.«

Einen kurzen Augenblick denkt Tim nach.

»Okay. Ich gehe duschen, und dann komme ich. Ich weiß aber nicht, ob ich viel länger als bis um zwölf durchhalte.«

»Das wirst du garantiert nicht«, denkt Michaela.

Tim hält sich tapfer.

Dr. Krügers Spritze zeigt nun ganze Wirkung, der Durchfall ist wirklich weg. Er prostet allen zu, steht mal bei dieser Gruppe von Gästen, mal bei jener. Er erzählt, hört zu, spricht von seinen Geschäften und über Zukunftspläne. Britta merkt ihm jedoch an, dass er nicht gut drauf ist. Müde wirkt er, angeschlagen, unglücklich. Als ob ihn irgendetwas belasten würde.

Bei den Gästen ist die Stimmung prächtig. Mehr als dreißig sind gekommen – und das, obwohl Britta und Michaela sie erst gestern eingeladen haben. Es wird viel gelacht, und alle genießen das herrliche Panorama, das man von Brittas Terrasse bewundern kann. Unten im Hafen schaukeln die Boote nur ganz leicht, ihre Lampen schwanken sanft hin und her. Es geht kaum ein Lüftchen, und selbst jetzt – kurz vor Mitternacht – zeigt das beleuchtete Thermometer im Rosenbeet 26 Grad.

Michaela steht an der Terrassentür und hält den Daumen hoch. Britta nickt.

»Liebe Freunde«, ruft sie jetzt und klopft mit einem Löffel ans Glas, »und natürlich lieber Tim!«

Er stellt sich neben sie, und alle schauen nun aufmerksam zu ihnen rüber.

»Oh, eine Rede!« Tim lächelt.

»Keine Angst, das wird keine richtige Rede. Ich will nur ganz kurz etwas sagen. Und etwas verkünden.«

Ein leichtes Raunen geht um.

»Ihr seid alle gekommen, um Tims Sechzigsten zu feiern und ihm zu gratulieren. In genau einer Minute ist es so weit. Deshalb beeile ich mich auch. Ihr wisst, wie schnell das im vorigen Jahr gegangen ist, mit Tim und mir. Kennenlernen, verlieben – und dann haben wir gesagt, warum sollen wir länger warten, und haben geheiratet. Morgen vor elf Monaten war das. Heute kann ich euch verkünden, dass unsere gemeinsame Familie, Tim und meine, Zuwachs bekommen wird.«

Tim schaut ungläubig zu ihr rüber. Die Freunde machen erstaunte Gesichter, zaghaft klatschen einige.

»Nicht, was ihr vielleicht denkt. Der Zuwachs ist bereits 47.«

Sie nickt Michaela am anderen Ende der Terrasse zu, und die schickt nun eine Frau mit kurzen brünetten Haaren nach draußen.

»Ich freue mich, euch Sophia vorzustellen. Sie kommt aus Salzburg. Und sie ist auch mit Tim verheiratet. Seit sechs Jahren.«

Alle Augen sind jetzt auf Sophia gerichtet, die zu Britta und Tim geht. Sie schreitet langsam quer über die Terrasse. Die Gespräche sind auf einen Schlag verstummt, niemand sagt etwas. Tims neue Mallorca-Freunde verfallen in Schockstarre.

Auch Tim verfolgt jeden einzelnen Schritt, den Sophia macht.

Als sie vor ihm steht, starrt er sie nur an. Er gibt ihr nicht die Hand. Und er schaut auch nicht zu Britta, die neben ihm steht. Für einen kurzen Moment wirkt es auf die Umstehenden so, als wolle Tim etwas sagen. Als wolle er ein großes Missverständnis aufklären. Oder sich entschuldigen. Aber er bleibt stumm. Keine Reaktion von ihm.

Rainer fängt sich als Erster. Er hat in den vergangenen Monaten sehr viel Zeit mit Tim verbracht. Sie haben nicht nur Golf miteinander gespielt, sondern waren auch häufiger an den Wochenenden ohne die Frauen abends in Palma unterwegs. Auch auf Partys standen die beiden meistens zusammen, mit einem Glas in der Hand, und haben Witze gerissen.

»Tim, stimmt das?«, ruft er und tritt einen Schritt nach vorn, direkt vor die anderen, damit er Tims Gesicht besser sehen kann.

Tim schaut seinen engsten Mallorca-Freund an, kann aber dessen Blick keine Minute standhalten. Er stellt sein Weinglas auf dem Tisch ab und geht ohne ein Wort oder einen weiteren Blick. Er geht einfach an allen Freunden vorbei ins Haus, schaut weder nach links noch nach rechts. Erst als er im Haus verschwunden ist, löst sich die Spannung, und alle auf der Terrasse beginnen, wild durcheinanderzureden.

Nur wenige Augenblicke später wird unten auf der Straße die Tür von Tims Auto zugeschlagen, und der Wagen fährt los. Niemand von den Gästen bekommt im Durcheinander und der Aufregung etwas davon mit. Nur Britta steht am Geländer der Terrasse und schaut Tim nach, bis die Rücklichter hinter der Kurve verschwunden sind.

Nach großem Palaver sind die Gäste jetzt, zwei Stunden später, alle verschwunden. Britta setzt sich zu Michaela und Sophia in einen Korbstuhl auf der Terrasse. Sie haben sich Decken geholt. Die Luft hat sich zwar nur wenig abgekühlt, trotzdem fröstelt es alle drei.

»Schlimm.«

Michaela ist die Erste, die jetzt etwas sagt.

»Was genau?«, will Britta wissen.

»Das mit der Impotenz.«

»Welche Impotenz?«

»Ach, das hat er dir gar nicht erzählt? Klaus, also Dr. Krüger, hat in seinem Blut einen sehr seltenen Keim entdeckt. Tim wird schon bald sehr heftige Schmerzen in seinem Schambereich bekommen. Im schlimmsten Fall müssen sie ihn sogar amputieren, sonst könnte der Keim auf den restlichen Körper übergreifen, und das wäre sein sicherer Tod. Klaus hat ihm dringend geraten, sich sofort von einem Spezialisten untersuchen zu lassen. In Salzburg.«

Beide Frauen schauen jetzt Michaela an.

»Ja, Mädels. So einfach soll er uns doch nicht davonkommen. Natürlich gibt es überhaupt keinen Keim. Aber das weiß er nicht. Das wird ihn sicher noch ’ne Weile beschäftigen. Und ja, ich gebe es ja zu. Das war meine Idee.«


Tim verließ am nächsten Tag Mallorca und meldete sich nie mehr bei seinen neuen Freunden.

Sowohl Brittas Anwältin als auch der Anwalt von Sophia einigten sich mit Tim auf schnelle Scheidungen ohne gegenseitige Forderungen. Im Gegenzug verzichteten die Frauen auf eine Anzeige wegen Bigamie. Die Doppelehe wird in Österreich und Spanien mit Freiheitsentzug bis zu drei Jahren bestraft.

Britta und Sophia sehen sich bis heute regelmäßig. Immer im September, einen Tag vor Tims Geburtstag.

Jenseits vom Ballermann

Der Heiratsmarkt

Mallorquiner verlieben sich gern unter sich. Jemanden zu heiraten, der nicht von der Insel stammt, war zumindest im Inselinnern lange undenkbar. Noch bis in die Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts galt es sogar als ungehörig, eine Frau oder einen Mann aus dem Nachbardorf zu heiraten. Dass die Verlobten manchmal miteinander verwandt waren, wurde großzügig übersehen. Das änderte sich erst mit dem Tourismusboom, als sich vor allem junge mallorquinische Männer häufig in Urlauberinnen aus dem Norden verliebten. Allerdings sind noch heute die Beweise für die strengen Sitten der Vergangenheit an den Briefkästen zu finden. In Felanitx gibt es ausgesprochen viele Menschen, die Oliver oder Obrador heißen. In Manacor tauchen die Namen Riera, Nadal oder Galmés besonders häufig auf. In Sa Pobla sind es Serra und Crespì. Das Gleiche gilt für Coll in Lloseta oder für Sastre in Selva. All das sind typische mallorquinische Nachnamen. Schaut man sich die Einwohnerlisten der ganzen Insel an, Stadt wie Land, sind diese mallorquinischen Nachnamen inzwischen jedoch in der Minderzahl. Der häufigste Nachname ist heute Garcìa.

18.000 Mallorquiner tragen diesen typischen Namen vom Festland. Es folgen Martínez, Fernández, López, Sánchez, Rodríguez und Gonzáles. Auch das sind klassische spanische Namen. Erst auf Rang acht landet ein mallorquinischer Nachname: Pons. Gut neuntausend Menschen tragen ihn auf der Insel.

Endlich ist wieder Mallorca!

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