Читать книгу Helle und der falsche Prophet - Judith Arendt - Страница 5

Irgendwo in Dänemark

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Anfangs hatte sie starr neben ihm gesessen, hatte ausdrucklos durch die Windschutzscheibe gestarrt und kein Wort mit ihm geredet. Aber nun, wo sie ein paar Stunden und viele Kilometer weitergefahren waren, taute sie auf. Rutschte auf dem Beifahrersitz hin und her und stellte ihm Fragen. Was ist das? Ein Supermarkt. Und das? Ein Fast-Food-Restaurant. Wo fahren all die Menschen hin? Zur Arbeit. Besitzt jeder hier ein Auto? Sehr viele. Wo geht die Straße hin? In die Freiheit.

Sie kannte nichts. Es war eigentlich unvorstellbar. Dass ein Mensch, der seit neunzehn Jahren mitten in Dänemark lebte, all das nicht kannte.

Er war immerhin schon neun Jahre alt gewesen, als seine Eltern sich entschieden, nach Dänemark zu kommen. Ins Königreich.

Neun Jahre und das Leben war vorüber.

Er hatte Handys gekannt, Computerspiele, Playstation, Nintendo, er und sein Bruder hatten stundenlang bei den Nachbarskindern gesessen und Mario Kart gezockt. Und dann war von einem auf den anderen Tag alles vorbei. Er hasste seine Eltern dafür, und er hasste seinen Bruder, der ihn mit der Scheiße allein gelassen hatte. War einfach nicht mitgekommen, abgehauen. Und das Größte? Dass seine Eltern behaupteten, sein Bruder wäre tot. Einfach tot, weil er sich ihnen widersetzt hatte.

Im Königreich hätte es dafür satte Strafen gegeben, und das hatte sein Bruder geahnt. Oder er hatte es gewusst und ihm nicht gesagt.

Sein kluger Bruder. Es verging kein Tag, an dem er sich nicht fragte, was aus ihm geworden war. Er legte sich immer eine andere Geschichte zurecht. In einer war sein Bruder unter die Räder gekommen, klar. Vierzehn Jahre und ohne Eltern in Deutschland unterwegs? Das konnte nicht gut gehen. Auf der Straße leben, betteln, Crack rauchen, auf den Strich gehen, sterben.

In einer anderen Version aber hatte sein Bruder großes Glück gehabt. Er war in ein Heim gekommen, einer der Erzieher hatte sich besonders um ihn gekümmert, ihn schließlich adoptiert, ihm eine Lehre vermittelt, jetzt lebte sein Bruder als Schreiner oder Dachdecker irgendwo mit seiner Freundin. Die vielleicht schwanger war.

Oder aber er hatte sich auf der Straße durchgeschlagen, war ein gerissener Kleinkrimineller geworden, ein Boss war auf ihn aufmerksam geworden, hatte ihm kleinere Aufträge verschafft, dann hatte er sich hochgearbeitet, von Autos knacken über Drogen verticken und Mädchen für sich arbeiten lassen, zur rechten Hand vom Boss. Jetzt hatte er Kohle und dicke Autos und eine heiße Braut.

Ein toller Bruder, Stoff für viele Geschichten.

Ein schrecklicher Bruder, der einfach verschwand.

Ihn zurückließ mit den Gebeten, den Schlägen, der Arbeit, den Spinnern, der Flamme.

Andererseits: Wäre er nicht in der Hölle gelandet, hätte er sie niemals kennengelernt. Jemi.

Absalom oder Niklas, wie er eigentlich hieß und wie es ab sofort auch wieder sein Name sein sollte, oder noch viel besser: Nick, sah zu ihr hinüber. Das Gesicht sah er nur angeschnitten, sie blickte aus dem Fenster. Die Knie hatte sie auf den Sitz gezogen, umschlang sie mit den Armen. Sie war wunderschön. Das Schönste, was er je gesehen hatte. Im Königreich war sie Schneewittchen gewesen, das junge Mädchen, das von allen diesen armen, verhärmten grauen Frauen um seine Schönheit beneidet wurde. Dabei war sie sich selbst ihrer Schönheit nicht bewusst. Eitelkeit war eine Sünde, und Jemi war gottesfürchtig erzogen. Sie sah nicht in den Spiegel, sie schminkte sich nicht – mit was auch? –, und sie konnte sich nicht vergleichen. Frauen in ihrem Alter gab es dort nicht. Es gab die Mütter und es gab die Kinder. Von den Kindern war das älteste fünfzehn. Von den Frauen die jüngste vielleicht Mitte, Ende zwanzig. Dazwischen hatte es nur sie beide gegeben: Absalom und Jemima. Die zwei Königskinder.

Jetzt waren sie Nick und Jemi. Für immer.

»Können wir anhalten?«

Jemi sah ihn an. Königsaugen. Blau wie das Meer. Das Mittelmeer, wie er es aus Italien in Erinnerung hatte. Der einzige Urlaub, den er außerhalb Deutschlands gemacht hatte. Natürlich nicht mit seinen Eltern, sondern mit einem Klassenkameraden. Es hatte viel Überzeugungskraft gekostet, seine Eltern so weit zu bringen, dass er mitfahren durfte. Nach Italien!

Hier in Dänemark hatte das Meer eine andere Farbe. Grau, fast schwarz. Mit viel Wohlwollen war es bierflaschengrün. Schmutzig weißer Schaum obendrauf.

Er wusste das, weil er einmal mitkommen durfte. Sein Vater und ein anderer Jünger waren nach Helsingør geschickt worden, eine Familie abholen. Und er hatte sie begleiten dürfen. Als Lockvogel, das wusste er heute. Es war ihnen normalerweise streng untersagt, das Königreich zu verlassen. Aber die Familie hatte Söhne, jünger als er. Wenn er mitkam, war die Chance, dass sie ihren Eltern bereitwillig folgten, größer. Wenn die Söhne Vertrauen zu ihm fassten, dann würden sie keine Angst haben, in das Königreich zu ziehen. In die Wälder. Dorthin, wo die Zeit angehalten worden war.

»Abs… Nick? Können wir anhalten?«

Jemi legte ihre Hand auf seine, die auf der Gangschaltung ruhte, lässig, als hätte er nie etwas anderes gemacht, als Auto zu fahren. Dabei hatte er nicht einmal einen Führerschein. Er hatte das Fahren von den Männern auf der Farm gelernt, die Traktoren und Bulldozer, aber auch die Pick-ups und Hiobs alten Jeep hatte er fahren dürfen. Das Königreich war groß und weitläufig, sie hatten die Wälder bewirtschaftet und damit Geld verdient. Dazu mussten sie Maschinen bedienen können, gerade die Jungen und Kräftigen unter ihnen. Den Acker bestellten die Weiber mit dem Pflug.

Nick blinkte und fuhr bei der Tankstelle raus. Er hielt an einer der Zapfsäulen. Jemi sah ihn an.

»Und jetzt?«

»Ich tanke. Währenddessen kannst du aufs Klo.« Er zeigte ihr das kleine beleuchtete Schild an der Seite des Häuschens. »Wenn ich fertig bin, gehst du rein und zahlst.«

Jemi verzog das Gesicht. »Kannst du das nicht machen? Ich bin … zu unsicher. Das fällt bestimmt auf.«

»Das hier fällt auch auf.« Er zeigte auf die frische Narbe quer über seinem Gesicht. »Mehr als ein unsicheres Mädchen. Glaub mir.«

Sie nickte und glitt aus dem Wagen.

Nick – das war so viel besser als Niklas und schon gleich dreimal besser als beschissener Absalom – stieg ebenfalls aus. Er zog die Kapuze seines Pullis tief ins Gesicht, damit niemand auf den Überwachungskameras sein Gesicht sehen konnte. Er wusste, dass es so etwas gab. Natürlich noch immer geben musste und wahrscheinlich sehr viel ausgefuchster als zu seiner Zeit.

Zu seiner Zeit. So sagte er es, wenn er an sich zurückdachte. An sein Leben in Freiheit. In relativer Freiheit. Gemeinsam mit seinem Bruder Jan. Allerdings waren die Eltern schon immer streng gewesen, strenger als andere. Gläubiger. Sonst wären sie auch nicht in die Fänge Hiobs geraten. Aber sein Bruder, fünf Jahre älter, der hatte immer wieder Schlupflöcher gefunden. Hatte ihn mitgenommen zu seinen Beutezügen, Kaugummi klauen an der Tankstelle. Hubba Bubbas, die füllten den ganzen Mund aus. Das Wissen seines Bruders musste ihm jetzt auch weiterhelfen. Zwar hatte er Geld mitgenommen, Bargeld, aber weit würden sie damit nicht kommen. Den Pick-up hatten sie geklaut, aber Nick machte sich nichts vor: nicht hinter dem Wagen würden sie her sein.

Nervös sah er sich um. Die anderen Leute an der Tankstelle waren Normalos. Keine Auffälligkeiten, niemand, der sie vielleicht verfolgte. Eine vierköpfige Familie im Kombi, ein Geschäftsmann, eine Tramperin mit Surfboard.

Die Zapfsäule war ihm für einen kurzen Moment ein Rätsel, er hob die Zapfpistole ab, öffnete den Tankdeckel und wusste nicht weiter. Im Königreich hatten sie die Autos mit Kanistern befüllt, da schüttete man das Benzin in den Tank, fertig. Hier lief es anders. Er warf einen Blick auf den Familienvater an der Zapfsäule neben ihm. Der hatte die Augen fest auf die Anzeige geheftet und eine Hand an der Pistole. Es klickte. Dann klickte es noch mal. Der Familienvater schien noch nicht zufrieden, kniff die Augen zusammen, klickte, erst dann zog er die Zapfpistole aus dem Tank.

Nick begriff: Man musste den Hebel am Griff gedrückt halten. Ein bisschen dauerte es, aber dann hatte er den Dreh raus. Und machte es dem Mann nach: die Anzeige überprüfen und den Hebel drücken. Woher wusste man, dass der Tank voll war? 50 Liter gingen in den Pick-up, das wusste er, aber sie hatten immer so lange nachgeschüttet, bis das Benzin oben aus dem Loch gluckerte. Das würde man hier kaum so machen. Er stoppte bei 30 Litern, um sicherzugehen. Kein Aufsehen erregen. Mittlerweile kam auch Jemi von der Toilette zurück. Ihre Wangen waren gerötet.

»Es gibt keine Spülung und keinen normalen Wasserhahn«, flüsterte sie ihm zu. »Ich habe alles abgesucht, aber erst als ich aus dem Klo bin, hat es hinter mir gespült. Wie unheimlich.«

Er grinste. »Da hatte Hiob mal recht: Die Maschinen haben die Macht übernommen.« Es sollte ein Scherz sein, aber Jemi starrte ihn erschrocken an.

»Und wenn es stimmt? Wenn wir gar nicht klarkommen hier draußen?« Sie sah sich um. »Wenn es ein Fehler war?«

Er beendete den Tankvorgang und steckte ihr die Scheine zu. »Quatsch. Schau dich um, sehen die Leute geknechtet aus? Die sind doch alle ganz zufrieden. Das ist eben die Zukunft, Jemi. Ist doch cool, wenn du nicht mehr spülen musst.« Er lachte, aber Jemi knabberte an ihren Haarspitzen.

»Ich weiß nicht. Mir macht das Angst.«

»Jetzt geh rein und zahl. Sonst schauen die komisch, weil wir hier so lange rumstehen.«

Sie nickte und ging zurück zur Tankstelle, seine Blicke folgten ihr. Bestimmt war sie nervös, noch niemals war sie in einem Laden gewesen, hatte sich mit fremden Menschen unterhalten, geschweige denn irgendetwas bezahlt. Aber wenn sie sich komisch benahm, dann baute er darauf, dass es genug Menschen gab, die einen kleinen Dachschaden hatten und man wegen Jemi nicht gleich die Polizei holen würde. Er beobachtete, wie Jemi sich an der Kasse hinter die Tramperin stellte, die mit ihrem Board vor ihr stand. Die Tramperin bezahlte, mit Karte. Dann ging sie ein paar Schritte von der Kasse weg und Jemi war an der Reihe. Der Typ hinter der Kasse schien sie etwas zu fragen, sie schüttelte den Kopf und sah sich hilflos um.

»Komm schon, Jemi, du schaffst das«, presste Nick leise hervor. Jemi sah zu ihm hin, vermutlich konnte sie nicht viel erkennen, aber er nickte ihr zu.

Sie deutete schließlich zu ihm hinaus, der Typ nickte auch und nahm Jemis Geld.

Die Tramperin war ein paar Schritte von der Tür entfernt stehen geblieben und sah sich um.

»Verpiss dich«, dachte Nick. Sie schien allerdings auf seine Freundin zu warten, und als Jemi zum Ausgang strebte, sprach sie sie an.

Nick stöhnte. Verdammt, lass uns in Ruhe.

Aber die beiden jungen Frauen kamen Schulter an Schulter aus dem Kassenhäuschen und liefen gemeinsam auf den Pick-up zu.

»Hej«, sagte die Tramperin und grinste ihn an. »Ich bin Merle. Deine Freundin hier hat gesagt, ihr könnt mich ein Stück mitnehmen?« Und warf, ohne zu fragen, ihr Board hinten auf die Ladefläche.

»Hast du gesagt?« Er warf Jemi einen strafenden Blick zu, und sie schlug augenblicklich die Augen nieder. Verdammt, er wollte kein Arschloch sein, sie war seine Frau, er wollte sie mit Respekt behandeln, aber jetzt war er echt sauer. Sie konnten das Mädchen nicht mitnehmen. Sie waren auf der Flucht.

»Kein Platz mehr«, murmelte er, aber das Mädchen warf einen Blick auf die Beifahrerbank.

»Ach komm schon, wir rücken zusammen.«

Jemi nickte. »Das geht schon. Oder? Nick?«

Ein flehender Blick. Wenn sie bloß nicht immer so unterwürfig wäre, es fiel ihm schwer, ihr irgendetwas abzuschlagen. Das hatte Hiob geschafft – sie hatte überhaupt keinen eigenen Willen.

War sie ihm deshalb gefolgt?, schoss es ihm durch den Kopf, aber dann schob er den Gedanken weg, holte tief Luft und sagte: »Also okay. Wohin willst du?«

»In den Norden. Je weiter, desto besser. Richtung Frederikshavn. Fahrt ihr da hin?«

Das Mädchen hatte schon die Beifahrertür geöffnet, Jemi räumte ihren Kram zusammen und rutschte zuerst auf den Sitz, dann das Mädchen.

»Wie heißt ihr?«, fragte sie und grinste.

»Ich bin Nick und das ist Jemi.«

»Jemi? Lustiger Name. Noch nie gehört.«

»Eigentlich Jemim…«, wollte Jemi antworten, aber er ging dazwischen.

»Woher kommst du?«, fragte er und fädelte sich wieder in die Schnellstraße ein. Und ärgerte sich im gleichen Moment, denn wenn er das Mädchen fragte, woher sie kam, würde sie zurückfragen. »Wir sind gerade auf dem Weg zurück von Kolding«, schob er deshalb nach.

»Ich komme eigentlich aus Frederikshavn«, antwortete Merle munter. »Aber ich hab gerade meinen Bruder in Aalborg besucht, wegen der Demo, und mein Board abgeholt. Jetzt will ich wieder zurück. An den Strand.«

»An den Strand?« Jemis Augen leuchteten. »Da möchte ich auch hin. Ans Meer. Ich war noch nie dort. Ich sehne mich danach, einmal das Meer zu sehen.«

Merle zog die Brauen zusammen und sah Jemi belustigt an. »Ist das ein Zitat? Aus einem Film oder so?«

Jemi verstand nicht, aber bevor sie etwas entgegnen konnte, ging Nick dazwischen.

»Was willst du nachts am Strand? Zu dieser Jahreszeit? Ist ein bisschen zu kalt, um zu surfen, oder?«

Die Tramperin lachte. »Warum denn? Ist doch langweilig. Ich bin schon ein paarmal nachts gesurft. Das ist wenigstens eine challenge. Du gehst an deine Grenzen.«

Sie zuckte mit den Schultern, während Jemi und Nick sich ansahen. Sie hatten keinen Schimmer, was Merle meinte.

»So ein Quatsch«, sagte Nick. Er ärgerte sich über das Mädchen, aber noch mehr ärgerte er sich darüber, dass sie ihm so fremd schien. Ihre Sprache, diese lässige Selbstverständlichkeit, die sie an den Tag legte. Alles an ihr provozierte ihn.

»Du bist sehr mutig. Was sagen deine Eltern?« Jemi legte ihre Hand auf Nicks Oberschenkel und drückte leicht. Sie bat ihn damit, sich zurückzunehmen, er verstand die sanfte Geste.

Merle guckte etwas schräg und lachte dann. »Du sprichst so komisch, du bist nicht aus Dänemark, oder? Woher kommst du?«

Jemi warf Nick einen irritierten Blick zu.

»Doch. Ich bin hier geboren. Aber bei mir zu Hause reden wir alle so.«

»Aha.«

Zum Glück gab Merle sich mit der Antwort zufrieden, sonst hätte er sie bald wieder absetzen müssen, dachte Nick. Sie war gefährlich, ohne es überhaupt zu wissen.

»Ich dachte ja, dass ich mehr Glück habe beim Trampen«, fuhr diese unbekümmert fort. »Ich meine, es sind doch ziemlich viele nach der Demo wieder nach Hause gefahren. Aber weil ich das Board bei meinem Bruder abgeholt habe, habe ich die meisten Mitfahrgelegenheiten verpasst.« Merle warf ihnen einen interessierten Blick zu. »Wart ihr auch da?«

»Wo?«

»Fridays for Future. In Aalborg.«

»Was ist das?«, fragte Jemi.

»Hä? Nicht dein Ernst, oder?« Merle lachte kurz auf, halb belustigt, halb schockiert.

»War ein Scherz«, beeilte sich Nick einzuwerfen. Er wurde immer nervöser. Es war so eine Scheißidee, dieses Mädchen mitzunehmen. Sie mussten versuchen, sie so schnell wie möglich loszuwerden. »Natürlich wissen wir, was das ist. Aber nein, wir waren nicht da. Konnten heute nicht. Wir hatten zu tun.«

Damit gab Merle sich zufrieden, aber Jemi ruckelte schon wieder nervös auf ihrem Sitz herum und kaute auf den Haarspitzen.

»Also, wenn ihr wollt, kommt doch mit an den Strand. Das wird cool. Ich hab auch was zu rauchen dabei.«

»Ich rauche nicht«, meinte Jemi, fast entschuldigend.

»Ich rauche auch nicht.« Merle grinste. »Nur Gras.«

Jemi guckte verständnislos. »Gras? Ehrlich, du rauchst Gras?«

Merle lehnte sich mit einem Ruck gegen die Beifahrertür, sodass sie einen besseren Blick in ihre Gesichter hatte. Nick wandte seines ab. Er hatte noch immer die Kapuze des Hoodies auf, und seine Narbe befand sich zum Glück auf der Merle abgewandten linken Gesichtshälfte.

»Ihr seid ja totale Freaks! Was geht mit euch?«

Nick starrte auf die Straße. Er zog es vor, darauf nicht zu antworten. Jede Antwort war eine zu viel. Andererseits tat es ihm leid. Für Jemi. Er hatte ihr die Freiheit in den tollsten Farben ausgemalt, was sie alles sehen und erleben würde, dass sie endlich Leute kennenlernen würden, Leute in ihrem Alter, junge Leute, ohne Bibel in der Hand. Sie würden ihre Musik hören und die Welt sehen. Und nun war hier ein Mädchen, so alt wie sie, ein junges, freies Mädchen, das sie obendrein einlud, etwas Verrücktes mit ihr zu machen. Und anstatt sich zu freuen, ließen sie sich in die Ecke drängen und empfanden sie vor allem als: Bedrohung.

Jemi machte einen Versuch der Erklärung. »Wir leben auf einer Farm, weißt du? Wir sehen nicht viel von der Welt.«

Merle lachte auf. »Kein Scheiß – ihr werdet ja wohl Internet haben. Ich mein, ihr lebt doch nicht im Mittelalter.«

Nick konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie Jemi ihre Hände knetete. Sie war nervös, wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Hoffentlich rastete sie nicht aus. Er hatte es oft genug erlebt, wie sie reagierte, wenn sie sich in die Ecke gedrängt fühlte. Sie konnte nicht so gut mit Worten umgehen, natürlich, sie hatte nicht einmal eine Schule besucht, sie lebte nicht unter Gleichaltrigen. In ihrer Welt gab es nur Hiob und die anderen. Die armen Gestalten. Die Diener Hiobs. Sein Volk. Es galt das Wort des Herrn, und der Herr im Königreich war Hiob. Er hatte auf alles eine Antwort. Er beendete jeden Satz, den Jemi nicht rausbrachte, stellte und beantwortete für sie jede Frage, die ihr Geist nicht in Sprache verwandeln konnte. Und manchmal ließ er Jemi einfach in all ihrer Hilflosigkeit stehen. Wenn sie nicht mehr weiterwusste, dann bekam sie diese Anfälle.

Nick wollte sich nicht eingestehen, dass sie ihm in diesen Augenblicken unheimlich war. Es kam eine Jemi zutage, die er lieber nicht kannte. Sie wusste meistens nachher nicht, was geschehen war, war nicht Herr über das, was sie dann tat. Hiob war der Einzige, der sie in diesen Situationen in den Griff bekam. Allerdings war Nick noch nie dabei gewesen, wenn Hiob das regelte. Er wusste nicht, was dann geschah. Schlug er sie? Hypnotisierte sie? Gab ihr Drogen?

Zuzutrauen war ihm alles.

Die anderen sagten über Jemi, dass sie besessen war. Oder krank im Kopf. Aber die glaubten auch an Engel und so einen Scheiß.

»Halt dich von ihr fern, sie ist böse«, hatte seine Mutter ihm gepredigt, aber gerade das hatte ihn so angezogen. Ihre überirdische Schönheit und diese dunkle Seite ihrer Seele.

Aber jetzt, gerade jetzt, konnte er einen Ausraster ihrerseits am allerwenigsten brauchen.

»Wir biegen da vorne ab«, sagte er unvermittelt und zeigte auf den Kreisverkehr in der Verlängerung der Straße. »Ich setz dich da ab.«

»Spinnst du?« Merle schüttelte den Kopf. »Das war nicht abgemacht, wir sind doch gerade erst losgefahren. Ich denke, ihr fahrt mindestens bis Frederikshavn?«

»Davon habe ich nichts gesagt«, antwortete er schroff. »Ich habe gar nichts gesagt. Du hast dich selbst eingeladen.«

Er blinkte und stoppte den Pick-up kurz vor dem Kreisverkehr.

»Ich denk nicht dran.« Merle setzte sich wieder gerade hin und Jemi blickte ihn stirnrunzelnd an.

»Nick, doch nicht hier. Lass uns wenigstens zu einer Tankstelle fahren«, sprang sie Merle zur Seite.

»Ich steig hier nicht aus – in the middle of nowhere«, sagte Merle und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Und ich fahr dich nicht weiter. Raus jetzt.«

»Mann, dein Freund hat vielleicht eine Scheißlaune«, sagte Merle. »Ich hab’s ja gleich gemerkt, dass du keinen Bock auf mich hast, aber mal ehrlich – Nächstenliebe? Never heard?«

»Nick?« Jemi klang ängstlich.

»Ja, ist okay«, gab er klein bei. Wegen Jemi. Nicht wegen der Trulla. Ein Stück noch. Aber er würde zusehen, dass sie die Nervensäge so schnell wie möglich loswurden.

Helle und der falsche Prophet

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