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4 Taira Plus

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Elfter Maerz 2011, Uhrzeit 14:46, ich komme nicht mehr drumherum. „Heisei 23“ in japanischer Rechnung, 23 Jahre seit Antritt des gegenwaertigen Kaisers Akihito! Ein sonniger Tag, fruehlingshaft: wobei ich mich jetzt nicht mehr absolut konkret an den Vormittag erinnere. Es ist mir aber als sei er so wie der Schwanentag zwei Tage vorher gewesen, es ist mir als stehe ich noch in der langsam steigenden Sonne draussen vor der Kuechentuer, Mariko in der Naehe mit Pflanzen im Garten beschaftigt, wie jeden Morgen. Wir leben ja eine regelrechte Idylle: bewohnen ein fast hundert Jahre altes Haus! Das damals fuer den Vizechef des grossen Zementwerks hier gebaut wurde, komplett mit Dienstmaedchenzimmer, zur Zeit „Corporate Headquarters“ fuer unsere winzige Firma „Kleines Deutschland GmbH“, Spielwarenimport. Wunderbare Artikel fuehren wir: die Figuren der Margarete Ostheimer in japanischer Vertretung. Hauptsaechlich die Figuren. Von Fuchs, Igel und Hase ueber Schneewittchen mit den sieben Zwergen bis zu Maria und Josef mit dem Heiland: diese zum Glueck noch in der originalen, genialen Form – und Farbgebung der Gruenderin Margarete selbst! Genie kann keiner verbessern.

Bewohnen also dies Haus mit seinen 75 Tueren und fuenf Fenstern, die kleinen Klofenster nicht eingerechnet schon eine halbe Ewigkeit und zwei Kinder-Leben lang, obwohl unsere Tochter May ihre ersten zehn Monate in unserer vorherigen Wohnung in Hirakubo verbrachte. Meist schlafend allerdings; die ersten Schritte tat sie hier. Leon verbrachte sein ganzes Leben hier und so ist unser Haus voller Erinnerungen an Kinderlachen, an schnelle Fuesschen und kleine Strolchereien aller Art. Darueber hinaus voll von den Werken kleiner Haende, immer noch. Trotzdem vieles halb vergessen schlaeft, in Kaesten und Kisten, und viel in der grossen Kiste landete: dem Muell. Auch voll von Marikos Textilarbeiten, ihren guten Webereien aus selbstgesponnenen, selbstgefaerbten Garnen und seit zwei Jahren auch voll von auf der neunzig Jahre alten Singer genaehten Sachen, voll von Fotos und Buechern, alten LPs und viel zu vielen schoenen alten Moebeln. Voll Leben. Voll lieber Geheimnisse eben. Voll Erinnerungen!

Jeder mag dies Haus, jeder ist gern hier, sogar die Leute vom deutschen TV neulich erklaerten, sie koennten verstehen dass wir hier bleiben wollten… wobei Mariko erst solche Bedenken hatte unsere Huette in aller Oeffentlichkeit zu zeigen. Kam aber doch gut an. Mir waer‘s sowieso egal gewesen! Sie versprachen aber „schoene“ Aufnahmen, und hielten ihr Versprechen, so weit sie konnten. Merci. Es ist einfach gut bei uns – was nicht unbedingt mein Verdienst ist. Eher noch – das unserer (gegenwaertig) fuenf Katzen.

Ein Garten geht ganz um das Haus herum, mit vierzehn Ecken wie ich einmal bei einer Flasche Rotwein zaehlte; das war im Mai. Die ganze Einfahrt war von wildwuchernden Margariten zugewachsen, und bei betoerend milder Luft zaehlten die Katze Happy und ich die Sterne wie die Gartenecken einer lauen Fruehsommernacht. Ein Teil des Gartens, etwa 50 m² hinterm Haus, ist Marikos Gemuesebeet, und da war sie mit Sicherheit an DEM Morgen auch beschaeftigt. Sie ist wie alle guten Hausfrauen, im Gegensatz zu mir, Fruehaufsteherin! Ging morgens als Erstes mal kurz raus zu ihren Radieschen und Zwiebeln.

Anfang Maerz – fuer meine schoene Gaertnerin eine Jahreszeit voll Hoffnungen, voller kleiner Einkaeufe im Markt „Komeri“, der an diesem Morgen auch nur noch ein paar Stunden Frist hatte ohne dass es einer ahnte.

Immer neue Blumen und Stauden schleppte sie an, pflanzte Baeumchen an den unmoeglichsten Stellen: „Die sind doch so klein!“ und ueberliess mir dann die undankbare Aufgabe mit dem zu gross gewordenen Wuchs irgendwie fertig zu werden… Sie hatte an jenem Morgen aber auch eine Verabredung in der Galerie „Komorebi“, die fast eine Stunde Autofahrt von hier bergwaerts an einer herrlichen Flussbiegung mitten in unberuehrter Natur liegt. Es gibt hier so schoene Stellen! Im „Komorebi“ gab es eine kleine Ausstellung von Malern aus der Gegend, unter Anderem ihrer Freundin Yasuko. Die ist aufs Meer spezialisiert. Eine mutige aeltere Dame mit interessanter Vergangenheit: folgte vor langer Zeit ganz ohne einen Pfennig jemandem nach Amerika, mit einem kleinen Kind auch noch, schlug sich da irgendwie durch, kam nach langen Jahren zurueck und malte dann sehr schoene Seelandschaften.

Ihr war also erspart, weglaufen zu muessen… denn natuerlich lebt sie am Wasser, uebrigens ganz in der Naehe meines bayrischen Leidenssgenossen. Ihr Haus blieb verschont: die Strahlung trieb sie dann aber sehr weit fort, von hier bis nach Shikoku, Westjapan. Ob sie wohl immer noch das Meer malen mag?

Ihr Onkel muetterlicherseits war uebrigens der ehemalige Praefektur-Oberst Kimura: der in den 60er Jahren die Atomkraft zu uns holte! Und, selbstverstaendlich nicht zu seinem Schaden. „Wie gewonnen – so zerronnen“ kommentiert meine Frau die Tatsache, dass der leichtsinnige Sohn dann alles wieder verspielte. Fast alles – denn uns blieb das glueckliche Atom.

Nach dem Ausstellungsbesuch assen die beiden zusammen etwas Sushi in so einem Revolvershop; also aufs Fliessband wird serviert und vom Fliessband nimmt man sich Tellerchen und geniesst. Ein zweifelhafter Genuss eigentlich, aber diese Restaurants sind ein absoluter Hit weltweit scheint es. Nun also. Mariko kam vor Mittag noch zurueck, die perfekte Hausfrau und Gattin, die sie ist, rechtzeitig bevor ich zur Arbeit musste.

Ich las derweilen auf meinem Lieblingsplatz in der Kueche und weiss sogar noch was: „The Revenge of Gaia“ von James Lovelock, dem Englaender. Er wird ja immer als der Erfinder des „Gaia-Konzepts“ dargestellt, was sicher eine gewisse Berechtigung hat, wenn auch Gustav Theodor Fechner vor hundertfuenfzig Jahren das gleiche viel besser beschrieb; aber die Erde als lebendes Wesen verstehen – kann jeder der ein bisschen Grips im Kopf und ein Herz in der Brust schlagen hat.

Muesste eigentlich jeder koennen…

Ich aergerte mich ueber seine Blauaeugigkeit was die Gefahren der Atomkraft angeht! Er haette nichts dagegen einen Reaktor bei sich im Garten stehen zu haben! schrieb er tatsaechlich. Das stiess mir uebel auf; „so ein Quatsch!“ dachte ich. Uns hier mit den Scheiss AKWs in der Naehe so was sagen zu wollen! dachte ich empoert – einen halben Tag bevor uns alles um die Ohren flog!

Hatte ich hier Vorahnungen? Ich weiss, warum er die Atomkraft fuer das kleinere Uebel haelt: aber wie kann man den Teufel mit Beelzebub austreiben wollen?

Ich las gleichzeitig, unsere staedtische Bibliothek ist erstaunlicherweise sehr gut ausgestattet mit englischen Buechern, George Monbiot: „Heat. How to Stop the Planet from Burning“. Es muss schnell etwas gemacht werden! war und ist mir glasklar. Jeder muss JETZT anfangen; die kleinsten Tropfen hoehlen auf Dauer den haertesten Stein. Jeder kann versuchen etwas einfacher zu leben, etwas bescheidener zu leben: sich nicht mehr verdummen zu lassen vom „Kauf, kauf, kauf!“.

Das ist der erste Schritt; und jeder kann ihn tun. Nicht verschwenden. Achtsam leben! Freund Adrian, als guter Buddhist, lehrt dies nicht: er lebt es vor! Meine persoenliche grosse Suende ist aber leider nicht leicht abzustellen – wie soll ich nach Deutschland kommen wenn nicht mit dem Flugzeug?

Die beiden Buecher uebrigens fand ich fast zwei Monate spaeter wieder und brachte sie zurueck in die Bibliothek: niemand beschwerte sich ueber die lange Ausleihdauer!

Wir assen Mittag, Mariko zauberte mir in Minutenschnelle eine kleine Nudelsuppe, mit entweder braunem Buchweizen, „Soba“ oder weissem „Udon“, welche von beiden weiss ich nicht mehr – nur eine kleine Portion, und dann war es schon Zeit fuer mich loszufahren. Zur Arbeit.

Kurz vor zwei los, knapp zwanzig Minuten Fahrt die grosse Strasse, ehemals von Tokyo zur Metropole des Nordens, Sendai, also die Nationalstrasse 6, runter nach Taira. Taira ist der Hauptort der Stadt Iwaki. „Iwaki“ ist eine kuenstliche Schoepfung (wie Salzgitter etwa) aus vierzehn kleineren Orten, die neulich ihr 40-jaehriges Jubilaeum feierte. Erster Oktober 1966 ist das Gruendungsdatum. Kohle-Bergbau in ganz grossem Stil wurde hier betrieben bis in die sechziger Jahre. Dann war’s ploetztlich aus, alles geht hier viel schneller als bei uns wenn es denn so weit ist! Wie es das Sumo als Nationalsport Japans zeigt. Nach scheinbar endlosem Positionieren der Kolosse, nach langem Schieben und doch Nicht-vom-Fleck-Weichen gewinnt eine Seite einen fast nicht wahrnehmbaren Vorteil: und der unglueckliche Gegner taumelt, oder fliegt gleich im hohen Bogen aus dem heiligen Strohring…

Ploetzlich war es also vorbei mit der Kohle. Heute bleiben aus der Bergbau-Zeit neben etwas rauheren Manieren im Strassenverkehr nur ein kleines Museum und eine ueberdurchschnittliche Zahl von Laeden mit Alkohollizenzen uebrig; und ein Filmchen: „Hula-Girl“, das die erstaunliche Wandlung der „Joban Mines“ zum „Spa Resort Hawaiians“ in bewegten Bildern in etwas dick aufgetragenem Dialekt wiedergibt. Irgendein Vizechef, ein Verrueckter, ein Visionaer sagt man ja im Erfolgsfall, hatte die sicher von Bier oder Sake befluegelte Phantasie: HIER muss ein Hawaii auf dem Dorfe hin!

Ganz im Gegensatz zu einer anderen grossen Anlage vor den Toren der deutschen Hauptstadt gelang dies Wahnsinnsprojekt ueber alle Massen und der Film erzaehlt sehr interessant davon.

Marikos Cousine Keiko erscheint kurz darin; traegt als Trauergast bei der Beerdigung des verunglueckten Vaters der Heldin ein Foto des Verstorbenen einen gewundenen Pfad entlang der inzwischen verschwundenen riesigen Abraumhalden. Hula-Taenzerin zu werden – was fuer ein Traum! Fuer einige oertliche Maedchen, die haertesten, begabtesten, unerschrockensten sicherlich, erfuellte er sich. Und fuer die erfreuten Iwakianer war es moeglich, auch ohne die total unerschwingliche Flugreise ein bisschen Ferngefuehl zu empfinden. Man muss wohl an Freddy Quinn auf dem Weg ins Glueck Italiens denken wenn man dies verstehen will! (uebrigens spricht Freddy als Meier II in einer Szene mit falschen Japanern nicht unuebel japanisch!) Wie es die Leute hingekriegt haben, den hiesigen Bergbau in so ein riesiges Spassbad, angehaengt mehrere grosse Hotels und ein Golfplatz fuer das Praktikum unserer Tochter zu verwandeln, begreife ich zwar trotz des „Hula Girls“ nicht ganz: aber das „Hawaiians“ steht und ist ein Riesenerfolg, mehr und mehr dank der Besucher aus Tokyo.

Die Hula Girls tourten nach dem elften Maerz durch ganz Japan – aus der Not eine Tugend zu machen – und tanzen inzwischen wieder zu Haus. Das Bad ist offen!

Kohle wird jetzt importiert aus Port Hedland, Australien. Glitzerschwarze Berge von Kohle liegen im Hafen Iwakis, in Onahama, und werden mit LKWs zum nahgelegenen E-Werk in Ueda gekarrt. Wieviel Kraftwerke wir nicht haben! Kohle in Ueda, Gas aus dem Meer in Hirono: Atom 1, Atom 2 leider nicht mehr, haha.

Flaechenmaessig war Iwaki Top in ganz Japan – war, denn es gibt seit Neuestem andere Kreationen, die groesser sind als wir: haben aber nicht so viel Sonne!

„Sunshine Iwaki“ ist unser Spruch, im Mittel 2035 Sonnenstunden pro Jahr haben wir bei einer geographischen Lage von 37-38 Grad Nord, dem Peloponnes, oder Malaga vergleichbar, ideal fuer Solarpaneele auf jedem Dach. Leider muss man die mit der Lupe suchen – und wuerde immer noch nicht viele finden. Gegen Null.

Als ich vor langen Jahren hier ankam gab es einen kleinen Boom mit heissem Wasser vom Dach – das schlief dann ein und von Photovoltaik hatte hier bis nach dem Beben und seinen Konsequenzen noch nie jemand gehoert. Es wurde zu wenig gefoerdert; bis sich eine private Anlage amortisierte dauerte es mindestens fuenzehn Jahre. Man hatte eben Atomstrom reichlich! Und auch jetzt noch sind die Einspeiseverguetungen furchtbar mickerig.

Private Initiative ist nicht gefragt, die Grossindustrie hat die Zuegel nach wie vor fest in der Hand: und setzt leider auf andere Pferde. Regierung und Medien sind fest vor den Karren gespannt, Hueh! die Schindmaehren begreifen nicht, dass sie mit dem rasselnden Karren auf dem Weg zum Muellplatz der Geschichte sind.

Auf der geographischen Hoehe von Naxos liegen wir: und zwar exakt, sah ich vor ein paar Tagen! Der Insel, auf der unsere komplette kleine Familie eine Woche im Schlafsack am Strand lag, windgeschuetzt in einer Mulde unter einem Baum, an Marmorklippen, in unserem schoensten Urlaub je. Der andere war in Kroatien. Und Benasque in Spanien? Das war kein Urlaub. Das war ein Besuch bei Freunden! Schneckensammeln am Rio Esera. Am naechsten Morgen waren die Viecher ziemlich gleichmaessig ueber Sitze, Scheiben und Armaturenbrett von Ramiros R5 verteilt: wir hatten die Tuete mit den Schnecken im Auto vergessen… Wie schoen es bei ihm in den Pyrenaeen war!

Wie armselig doch muss ich jetzt denken. Zweieinhalb Familienurlaube in 25 Jahren wenn man die Deutschlandreisen nicht mitrechnet. Pendler waren wir eben. Unsere Kinder mussten auf so vieles verzichten! Leben in zwei Laendern, auf zwei Kontinenten, in zwei Welten: ist nicht leicht. Viele beneiden sie – wenn sie wuessten wie hart es ist.

Iwaki also. Eine neue „Stadt“ mit einem alten Namen. Iwaki bedeutet eigentlich so etwas wie Felsenschloss und wurde zum ersten Mal 708 urkundlich erwaehnt: als Grenzbarriere! Halb so gross wie das Land Luxemburg, etwas dichter besiedelt – wenn auch laengst nicht so wohlhabend. Und leider nicht unabhaengig! Immer nur fuer Tokyo da, erst als Kohlelieferant – bis vor kurzem dann als Stromversorger. Gegenwaertig liefern wir unsere Kinder: die jungen Familien verlassen die Gegend.

Wir liegen am hier unglaublich fischreichen Pazifik, genau vor Iwaki treffen sich zwei grosse Meeresstroemungen und versorgen uns mit Meeresfruechten aller Art, auf sechzig Kilometer Kuestenlinie gab es fast ein Dutzend kleine Haefen, es gab die sieben Straende von Iwaki: die werden sicher irgendwann wieder aufmachen, was bei den Haefen nicht sicher ist. Die Kuestenfischerei war eh schon auf dem absteigenden Ast – jetzt wurde ihr der Todesstoss versetzt.

Das Meer… ohne das Meer, ohne seinen Atem von Freiheit haette ich es niemals so lange in der japanischen Enge ausgehalten! Wenn auch die Straende allesamt durch Beton noch und noch verschandelt sind – man vergisst nicht so schnell wo man verliebt im Sand gelegen hat und etwas spaeter die Kinder gespielt haben: man vergisst das nicht.

Leider ist das Wasser bis Ende Juli sehr kalt – erst dann kippt’s und laesst die suedliche Stroemung warmes Wasser bringen bis in den Oktober. Die Japaner lieben die Berge; das Meer ernaehrt sie aber inspiriert sie nicht. Wenige Leute gehen schwimmen. Sie sind so eine Art Schweizer. Geboren im Zeichen der Jungfrau.

Ab Ende August, wenn „die Quallen kommen“ habe ich sechzig Kilometer Kueste fuer mich allein wie ich meine Runden drehe. Klar, seit fuenfzehn Jahren etwa gibt’s auch Surfer – die zaehle ich jetzt mal nicht. Ich bin der einzige Schwimmer: die Angler kennen mich schon, denken: ach, der verrueckte Auslaender, na, Auslaender eben…

Auch Berge haben wir, etwa wie das Sauerland, und sehr schoen sind die besonders im Herbst, dem einzigartigen japanischen Herbst. Mitten zwischen Bergen und Meer liegt Taira, der Hauptort, gross wie Goettingen, gross wie Paderborn: und wir jetzt am Rande der bewohnten Welt, zwanzig Autominuten entfernt vom Bretterzaun. Wie man sogar am andern Ende der Welt irgendwie haeusliche Verhaeltnisse vorfindet; plus ca change – plus ca reste le meme! Sogar mit dem Ruecken zur Wand lebe ich jetzt wieder – damals unmittelbar an der innerdeutschen „Zonengrenze“ mit ihrem perversen Minenguertel und den tueckischen Selbstschussanlagen, einen Spaziergang durch das Waeldchen weit weg, heute an der „20-Kilometer-Zone“ mit ihren Barrieren!

Iwaki – eine Stadt, die auf der falschen Seite stand als Japan sich 1854 im Anblick der „schwarzen Schiffe“ des Commodore Perry anschickte, eine seiner periodischen Haeutungen zu machen. „Ehrt den Kaiser! Schmeisst die Barbaren raus!“ war das Motto der Verlierer. Die Barbaren kamen naemlich doch; en masse sogar, kommen immer noch, zwar zur Zeit oft nur mit Schiss in der Hose: aber sind zweifellos nicht so einfach zu vertreiben. Siehe „Yours Truly“!

Im Konflikt um die richtige Vorgehensweise auf dem Weg in die neue Zeit schlugen sich damals also die Altkonservativen mit den Neukonservativen im Bosen-Krieg ausgerechnet auch in unserer Gegend, die doch sonst nicht sehr geschichtstraechtig ist. Das Ende der zivilisierten Welt war hier schon immer. Auch verlaeuft eine Linie durch unser Gebiet die waermeliebende und noerdliche Vegetation trennt, oder anders gesagt, zusammenbringt: im Gaertchen meines ersten Hauses stand eine Fichte eintraechtig neben einer Palme! Am suedlichen Rand Iwakis liegt der Ortsteil Nakoso mit seiner uralten Zollstation. Einige sehr schoene Kirschbaeume gibt es da, und trotzdem lief es mir irgendwie kalt den Ruecken runter; bildete mir ein, Pferdehufe zu hoeren und Schwerter aufblitzen zu sehen als ich da einmal von rosa Blueten umwoben und umschwebt in der Abenddaemmerung spazierenging. Nicht einmal der wandernde Moench und Dichter Basho fand auf seinem langen, engen Weg in den Norden unsere Kueste besuchenswert! Nur der Daemon der Zerstoerung liess sich nicht beirren.

Die damaligen Herren von Iwaki, die Familie Ando, waren 1860 verbuendet mit Aizu und wurden mit dem Aizu-Clan gemeinsam niedergemacht. Das Schloss in Aizu brannte, 36 blutjunge „Krieger“ sahen das aus einiger Ferne oder glaubten es zu sehen und toeteten sich daraufhin bis auf den letzten Jungen. Ihre Fotos sind zum Andenken geblieben und man kann ihre Gesichter nicht anschauen ohne tief bewegt zu sein von einem Schicksal, das unseren Sechzehnjaehrigen erspart blieb. Die Schlossburg von Taira brannte allerdings auch, die Reste wurden geschleift und heute ist nur noch der alte Schlossgraben uebrig, wo unsere Freunde Emi und Nobu-san wohnen. Ihr altes Haus direkt am Rand des Wassers hat das Erdbeben nicht ueberstanden: so faellt selbst das Buergerliche, wenn vielleicht auch nicht so lange zurueckleuchtend wie echter Adel. Thank you for the memories aber!

Wie viele schoene Parties haben die beiden im Zeichen privater Voelkerverstaendigung nicht gegeben! Und die Erinnerungen an all die Musik da, sowohl im Fruehling als auch im Herbst, wurden von den Gaesten inzwischen in alle Welt getragen – wogegen die Erinnerung an den Schlossberg sich ziemlich auf eine einsame Bueste an unzugaenglicher Lage beschraenken duerfte; das Museum dahinter verschweigt man besser ganz. Dagegen Boyko Stoyanov! Ein professsioneller Musiker, studierter Komponist, und was sein Wesen viel besser beschreibt: einer, der jeden zum Musikmachen bringt. Irgendwas kann jeder! Und wenn dann Sato-san mit seiner Mundharmoka anfing wusste ich schon, dass die Zeit fuer mich und „Lili Marleen“ wieder gekommen war. Was fuer ein schoenes Lied doch auch! Die beiden machten sich einen Spass daraus mich singen zu lassen, und zwar im Marschtempo… Ich machte gute Miene dazu und sang!

Jetzt gibt es keine Parties mehr, Boyko ist schon jahrelang weg. Lebt mit seiner zweiten Frau, einer Brasilianerin, drei kleinen Kindern und seiner herrlichen, bulgarischen Mutter auf der anderen Seite Japans: in den Schneebergen Niigatas. Musik… Boyko gab uns Musik. Und nahm die Musik mit weg in seine weissen Berge. Seine Kinder haben aber Musik in den Knochen: ich sah den dreijaehrigen Michael laessig auf eine Trommel hauen wie er fast noch in Windeln daran vorbeijockelte – das sass! Ganz abgesehen von den beiden grossen Toechtern aus erster Ehe, Julia und Kaya, die ebenfalls Berufsmusikerinnen sind! Ich vermisse Ihn sehr.

„Taira, Taira, hier ist Taira! Endstation, bitte alles aussteigen!“ singsangte die Stimme am 29. Juni 1984, ich verstand natuerlich ausser dem dreimaligen „Taira“ nichts. Ob das irgendwas mit dem „Taira-Clan“ zu tun hat, dessen Untergang in der Seeschlacht von 1085 in Literatur und Legende bis heute zurueckhallt? Wie der „Nibelungen Not und Klage“ bei uns? Ist unwahrscheinlich. Haette mich auch nicht die Bohne interessiert – ich kam voellig unvorbelastet hierher, unbelastet von Wissen um Japan jedenfalls. Hatte ausser einem Merian-Heft nichts Vorbereitendes gelesen, ausser einem Gespraech ueber Hong-Kong nicht das Geringste aus erster Hand ueber Asien erfahren: ich wollte unvorbelastet reisen. Mein kleiner gelber Sprachfuehrer lag ganz unten im Rucksack; ich war nicht ueber das Verb „arimasu“ hinausgekommen, „sein“, „haben“, und nach fast 28 Jahren bin ich im Grunde auch heute nicht sehr viel weiter. Zu meiner Schande, sicher. „Kanji“ heisst das Problem, „chinesische Schriftzeichen“ auf Deutsch; und es gibt nicht nur fast unendlich viele von ihnen, nein sie sind auch noch alle anders!

Und werden darueber hinaus auf viel zu viele Arten wechselnd ausgesprochen, zum Beispiel wird das Zeichen „Taira“ auch „Heike“ ausgesprochen, und damit sind wir beim Nationalepos der Japaner: der „Geschichte der Heike“. Und mittendrin im Dilemma aller Auslaender hier. Keiner kann richtig lesen! Ausser absoluten Spezialisten wie Donald Keene, der jetzt im Alter von 88 Jahren endgueltig von Amerika nach hier uebersiedelte und Japaner wurde um Solidaritaet zum Ausdruck zu bringen! Toll – aber nichts fuer mich.

Von den Heike wenigstens hoerte ich spaeter singen: sehe und hoere noch heute den alten Biwa-Spieler gewaltig in die Saiten greifen, obwohl sein Gesang schon lange Jahre verstummt ist.

Ein Recke wie Volker, der Spielmann: ein alter Mann allein im Wald lebend – mit seinem Instrument, der Laute, und seinem Kummer. Ich verstand kein Wort seines Vortrags. Begriff trotzdem! Wie er in sich gekehrt sang, so als ob er ganz allein unter einer uralten Kiefer saesse. In ihren Zweigen den Wind von tausend Jahren wehen hoerte.

Eine Fliege krabbelte ueber seine Glatze, er bemerkte sie nicht. Er spielte und sang. Selten hat mich ein Vortrag so beeindruckt wie der!

„Taira“ wird mit einem einzigen Kanji geschrieben und heisst auch „Frieden“, „Eintracht“, wenn es in Kombination steht, und es ergibt auch das schoene Wort „Heeheebonbon“ das mich zu regelrechten Lachkraempfen brachte als Mariko es aussprach um unseren hippyhaften Lebensstil gegen Ende eines schoenen Sommers zu charakterisieren. Braungebrannt wie frischgebackene Broetchen waren wir, und muede und satt vom Schwimmen in der weiten, weiten See. Sie lag lang ausgestreckt auf dem Packtisch in unserem Spielwarenlager waehrend ich mich auf den Tatamis waelzte und mir schier die Seiten zerspringen wollten… und unsere gute Katze „Happy“ dazu schnurrte: was waeren wir ohne Katzen.

Inzwischen heisst der Bahnhof lange nicht mehr Taira sondern Iwaki; zufaellig umbenannt waehrend der Amtszeit eines Buergermeisters der „Iwaki“ heisst, inzwischen Abgeordneter im Unterhaus in Tokyo; voellig unbelastet von den Vorwuerfen, er habe mit dem Bau der neuen Radrennbahn auch sich selbst bzw. seine Parteikasse maechtig gestaerkt… 13 Millionen Euro, hoerte ich, Wahlkaempfe kosten eben so furchtbar viel.

Fuenf Prozent seien frueher der Satz an kickback gewesen, jetzt seien es nur noch drei Prozent. Schlechte Zeiten fuer Politiker auch hier. Die Bauindustrie… „Dogs and Demons“ eben, Alex Kerr, Pflichtlektuere. Jetzt wieder brandaktuell; jetzt wird Geld verdient, Leute, Geld fliesst in Stroemen! Eine kleine Menge davon bleibt in Iwaki haengen, alle Hotels sind ausgebucht, die Kneipen abends voll bis zum Stehkragen; die Maedel in den diversen Clubs haben sicher genug zu tun. Arbeiter und Ingenieure, was weiss ich wer da alles die Strassen abends bevoelkert, ich bin nicht oft in der Stadt. Man sieht aber zu allen Zeiten Busse fahren und erschoepfte Maenner in einer Art Gaensemarsch aussteigen; diszipliniert, von einer Aura der Unnahbarkeit umgeben. Stigmatisiert – wie wir alle in Fukushima, aber die eben richtig. Vor Abfahrt stehen sie dann draussen und warten, jeder steht fuer sich allein, raucht, fummelt was am Handy. Klappe zu. Keine Kameradschaft ist erkennbar, keine Verbindung untereinander und erst recht nicht zu uns Voruebergehenden gibt’s da. Als ob sie sich schaemen muessten: und nicht wir Einkaufenden, Lachenden, Lebenden. Betrogene sind sie, die Gangster haben auch diese Geldquelle sofort angezapft heisst es: schoepfen den Rahm ab. Ob es stimmt? TEPCO zahle tausend Euro pro Mann und Tag – was davon wirklich ankommt beim Malocher seien hundert Euro. Na, dafuer haben die Schlepper natuerlich auch viele Unkosten! In Deutschland waere es wahrscheinlich auch nicht viel anders, siehe Guenter Wallrafs „Ganz unten“, wo er in seiner falschen Identitaet als Ali, der Tuerke, fuer Reinigungsarbeiten im AKW Wuergassen angeheuert werden soll… Ob das viele Geld ausser der Bauindustrie, inklusive Yakuza und Politikern eben, auch sonst noch jemandem helfen wird? Ob es vielleicht sogar etwas Gutes bewirken kann, einen Wandel?! Eine Energiewende? Ich bin sehr skeptisch. Es sieht nichts danach aus, es ist zum Verzweifeln. Nicht einmal in unserem Teil der Insel tut sich was, geschweige denn im Zentrum der Macht und der Dummheit, Tokyo.

Die Leute sind so phlegmatisch. Die reinen Schafe. Ob sie, ob wir zur Schlachtbank gefuehrt werden sollen? Hoffen wir es nicht, geneigter Leser. Obwohl wir doch wie Schafe sind: die einzige Demonstration gegen den atomaren Wahnsinn, die ich hier in Taira sah war zu beklemmend. In der schwuelen Nachmittagshitze eines Sommertags bewegte sich da ein armseliger Zug von wenigen hundert Maenneken in Richtung Bahnhof, schoen die Ampelphasen beachtend, beaeugt von den vorbeifahrenden „Einheimischen“ wie mir, die wie ich keine Zeit fuer so etwas hatten. Parolen wurden ohne Resonanz skandiert: wer kann schon aus voller Kehle bruellen wenn ueberhaupt kein Echo da ist? Und Transparente mitgefuehrt auf denen Sachen standen wie „Schluss mit der Atomkraft“. Was die Regierung allerdings zweifellos korrekt las, Kanjis haben ja immer mehr als eine Lesart, war wohl eher: „Entwarnung! Es kann in Ruhe so weitergemauschelt werden wie bisher!“

Zwei, dreihundert Maenneken – nicht mehr. Ausser an unseren beiden Kleinwagen, die eine Sonne tragen und „Atomkraft – Sayonara!“ drumherumgeschrieben, habe ich noch kein einziges Auto mit so einem Sticker gesehen. Was sehr Viele angeklebt haben ist der ermunternde Spruch: „Iwaki! Wir schaffen’s!“ Auch nicht schlecht – aber auch nicht gut genug!

Ich habe die Ruinen von Dai-ichi in der Webcamera von TBS/JNN (nicht mehr in der mit dreissig Sekunden Verzoegerung abbildenden Kamera von TEPCO; ein Schelm wer Boeses bei den dreissig Sekunden Puffer denkt…) den ganzen Tag auf dem PC. Auch mit Ton; ausser dem Wind hoert man zum Glueck nichts! Was ist zu sehen? Weisse Gebaeudereste in der Ferne, grosse Kraene die sich selten bewegen. Sonst nichts. Sollte ich froh sein, dass sonst nichts zu sehen ist? Bei Nordwind, wie heute, auf jeden Fall.

Andererseits frage ich mich aber – warum wird da nicht endlich mit einem dem Ernst der Lage angemessenem Einsatz gearbeitet? Glaubt Tepco, ich bin die Grossbuchstaben leid, glauben die Politiker wirklich das Problem erledige sich durch Liegenlassen? In TsTschernobyl schufteten sie, 500.000 Menschen aus dem ganzen Land allein in den ersten sechs Monaten: unter Einsatz ihres Lebens. Heroisch, es kommen einem die Traenen, wenn man Dokumentationen auf „YouTube“ sieht, und es ist gut, dass hier niemand so leiden muss, aber machen es sich die „Liquidatoren“ hier in ihren Bueros nicht doch viel zu einfach? Warum wird nicht endlich die grosse Spundwand gebaut, die das Meer schuetzen soll? Warum versucht man nicht unter die Reaktoren zu kommen, um das Corium, den geschmolzenen 3000 Grad heissen Hoellenbrei, aufzufangen bevor er sich durch die letzten Zentimeter Beton frisst, die laut den neuestenComputersimulationen noch da sind?

Warum nicht? „Es ist zu teuer“ ist die einzig zutreffende Antwort. Die aber niemand offen geben wuerde.

TsTschernobyl wurde sofort untertunnelt – hier schlafen alle! Oder? „Zu teuer“ wie Schutzmassnahmen die nach dem Tsunami vor Sumatra zu Weihnachten 2004 hier empfohlen worden waren, „zu teuer“ wie die Entwicklung besserer Energiequellen.

„Zu teuer“ – bis ploetzlich der Vorhang reisst und man sich die Augen reibt und sich fragt wie blind man eigentlich war.

Ich hoffe also, dass ich keinen dumpfen Knall hoeren werde wie ich hier schreibe: obgleich DAS ja immer noch den Vorzug haette, dass wir sofort ins Auto springen koennten, mit unseren Notfallkoffern, die Katzen, so weit greifbar, in den neuen Transporttaschen fauchend, um ohne nachzudenken in Richtung Westen zu starten. Nur nicht nach Tokyo, nur nicht in die grosse Mausefalle, aus der sich im Falle eines Falles Millionen von Menschen gleichzeitig auf den Weg machen wuerden. Vorsprung brauchten wir, eine Stunde wuerde schon viel ausmachen, und dank der milden Tage jetzt sind die Autobahnen und Strassen ins Landesinnere schneefrei: da haetten wir freie Fahrt ins Glueck… Nach Osaka, 750 Kilometer von hier, ins „Guesthouse Ten“, wo wir im Maerz so freundlich aufgenommen wurden, wuerden wir versuchen zu gelangen; so ist auch unsere Verabredung mit Leon. Aus Tokyo so schnell wie moeglich weg – ins Guesthouse Ten. Das ist unser Fluchtpunkt… Osaka, „Guesthouse Ten“, nicht vergessen!

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