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Kapitel 2

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Neujahr und vor wenigen Jahren,

Borelien

Auch in Borelien blieb es am ersten Tag des neuen Jahres dunkel. Robinia lag in ihrem Bett und gähnte laut und streckte alle Gliedmaßen weit von sich. Danach stapfte das fünfzehnjährige Mädchen mit ihren Füßen in die Latschen und machte sich auf den Weg in die große Wohnraumküche.

Dort rannte ihre Großmutter hektisch mit dem Telefon am Ohr durch das Zimmer, wobei die Telefonschnur ihr nur einen kleinen Bewegungsradius zuließ.

Jenes Telefon hatte sie einst von ihrem findigen Bruder aus Eisland geschenkt bekommen, sodass sie sich über die weite Distanz verständigen konnten. Das führte natürlich auch dazu, dass immer wieder Leute aus dem Dorf zu ihnen ins Haus kamen um ebenfalls mit weit entfernt lebenden Verwandten telefonieren zu wollen. Doch verstanden sie oft nicht, dass ihr Verwandter ebenfalls so einen Apparat Zuhause haben musste, damit ein Gespräch Zustande kommen konnte. Was hilft ein Telefon, wenn man der einzige ist, der eins besitzt?

„Was ist denn los?“ Wollte sie von ihrer Oma, mehr schlafend als wach, wissen.

„Kind, hast du es denn noch nicht mitbekommen?“ Schaute ihre Oma sie entsetzt an.

„Was denn?“ Robinia guckte sich um. Schließlich fiel ihr Blick zum Fenster. Es war stockfinster. „Wie spät ist es denn?“

„Es ist kurz nach Mittag. Also auf alle Fälle nicht die Zeit um dunkel zu sein.“

Beide schauten sich mit großen, fragenden Augen an und schwiegen für einen Moment.

Robinia lebte mit ihrem älteren Bruder bei ihrer Großmutter in einem rotweißen Holzhaus mitten in Borelien. Sie besaßen einen kleinen Acker und einen mittelgroßen Garten, wo sie Getreide, Obst und Gemüse anbauten. Das Getreide verkauften sie an Bäckereien, Obst und Gemüse selbst auf dem Markt des kleinen Städtchens Grim oder an die regionalen Verkaufsläden.

Robinias älterer Bruder war ein feiner, arbeitsamer Kerl, doch in der Schule hatte er jeher schon seine Probleme gehabt. Das Prädikat „sonderlich schlau“ hatte er nie erhalten. Das konnte ihn allerdings nicht davon abhalten das beste Getreide und die besten Kartoffeln in der Region herzustellen. Er hatte ein natürliches Gespür dafür, wann er mit seinem Pflug rausfahren musste um die Saat in den Boden zu tun, welche Pflege er dem Getreide und den Kartoffeln zukommen lassen musste damit sie die beste Qualität bekamen und wann der richtige Zeitpunkt war um sie zu ernten.

Robinias Großmutter war der Boss im rotweißgestrichenen Holzhaus. Die Kinder erzog sie mit Strenge, aber auch mit ganz viel Liebe. In der Kleinstadt war sie wie ein bunter Hund bekannt. Und da sie auch noch beliebt und angesehen war, kauften die Kunden gern bei ihr Getreide, Kartoffeln, Obst und Gemüse. Eine wahre Geschäftsfrau.

Robinia selbst hatte viel von der Spitzfindigkeit und Finesse ihrer Großmutter geerbt. Neue Dinge erlernte sie schnell und Wissen konnte sie sich fix aneignen. Doch so richtig Lust hatte sie darauf nicht. Sie schnitzte sich lieber einen Bogen und ging damit auf Hasen- und Vogeljagd. Sie fühlte sich wie in den Geschichten von Robin Hood im Sherwood Forest. Dennoch gab es ihre Oma nicht auf, sie in den Themen wie Wirtschaft und Verkauf zu unterrichten. Schließlich sollte sie einst die Nachfolgerin der Großmutter werden und das Geschäft weiterführen.

Doch es sollten andere Zeiten kommen.

Jahrelang lebte die kleine Familie in guten Verhältnissen. Sie waren nicht sonderlich reich, aber eben auch nicht arm. Zum Leben hatten sie ihr gutes Auskommen. Doch genau zwei Jahre bevor es zum Neujahrstag dunkel blieb, veränderte sich alles.

Robinia und ihr älterer Bruder streiften durch den kleinen Getreideacker neben dem Haus. „Irgendetwas stimmt nicht.“ Hatte ihr Bruder damals gesagt. Das Getreide war in Wuchs und Üppigkeit viel schlechter als all die Jahre zuvor. Die kurzen Binsen des Roggen waren nicht glatt, sondern kraus und Körner, die so wichtig für den Verkauf waren, hatte es auch fast keine. Als ihr Bruder einige Kartoffeln zum Begutachten ausgrub, waren diese klein und schrumpelig – alles andere als normal.

Auf der Bank, die an die Hauswand gelehnt war, saß Robinia grübelnd und schaute über das kleine Feld gen Himmel. Ihr fiel auf, dass an jenem Tag viele fadenartige Wolkenstreifen zu sehen waren. Und schon wieder flog das kleine Flugzeug tuckernd über ihr Grundstück und hinterließ ein schmales Wolkenband. Das war ungewöhnlich, da es kaum Flugzeuge in der Region gab und so etwas früher eigentlich nie geschah.

Robinia packte ihr Kinn auf die Handinnenflächen und grübelte weiter. Gab es da etwa einen Zusammenhang zwischen dem schlechten Getreide und dem Flugzeug? Sprühte das Flugzeug gar etwas auf ihren kleinen Acker ab? Wie vom Blitz getroffen, sprang Robinia auf, schnappte sich ihren Bogen und den Köcher mit den Pfeilen. Sie lief schnurstracks zum Feld des Nachbarn.

Auch dort war das Getreide mickrig und hatte nur wenig Körner. Sie lief zum nächsten Nachbarn und auch dort zeigte sich dasselbe Bild. Und beim nächsten und übernächsten auch. Jedes Mal als sie ein neues Feld betrat, schaute Robinia zum Himmel und geradewegs in die Wolkenstreifen.

Die Ernte jenes Jahres fiel schlecht aus, bei Robinias Familie aber auch bei ihren Nachbarn. Nur bei Bauer Johansson, der nicht gerade für seinen grünen Daumen bekannt war, sprossen Getreide und Kartoffeln in Überschwung und er verdiente sich in jenem Herbst ein goldenes Näschen.

Als Robinia ihrer Großmutter von ihrer Vermutung erzählte, dass das Flugzeug für die schlechte Ernte verantwortlich sein könnte, antwortete diese nur, dass Robinia eine glühende Fantasie besaß, dass sie die Eigenschaft an ihrer Enkelin schon immer schätzte, dafür aber kein Platz in der rauen Welt der Wirtschaft war. Jetzt mussten sie ihre Gedanken auf das Überleben im harten Winter richten und diese nicht an solche Geschichten verschwenden. Also hörte Robinia auf das, was ihre Großmutter sagte.

Die Familie kam über den Winter. Aber mehr schlecht als recht. Das gesparte Geld von den Vorjahren reichte gerade für Holz zum Heizen und die Nahrung zum Essen. Robinias Fähigkeiten in der Hasen- und Vogeljagd gewannen nun an Bedeutung. Sie wurde stetig besser und brachte immer öfter Beute mit nach Hause, wovon die Oma dann immer einen leckeren Schmaus zubereitete. All ihre Hoffnungen steckte die Familie in das folgende Jahr.

Aber auch im folgenden Jahr wuchs das Getreide kaum und wenn nur runzlig. Robinia fing nun wieder an den Himmel zu beobachten. Das Flugzeug flog noch öfter als im Vorjahr über ihr Grundstück und auch die Wolkenstreifen nahmen zu. Wieder lief sie durch die Felder der Nachbarn. Und wieder sah das Getreide wie das eigene aus, mickrig und runzelig. Dann kam ihr eine Idee. Sie rannte zum Stall und sattelte den Esel, sprang auf seinen Rücken und gab ihm die Sporen. Bis zum Acker des Bauern Johansson war es ein einstündiger Ritt.

Das Getreide des Bauern Johansson wuchs prächtig, war glänzend und vital. Robinia erblickte kein Flugzeug und keine Wolkenstreifen am Himmel. Sie band den Esel an einem Baum am Feldrand fest und schlich rennend durch das Getreide bis hin zum blassgelben Holzhaus vom Bauer Johansson.

Robinia lugte durch das geöffnete Küchenfenster. Dort stand Bauer Johansson über den Tisch gebeugt und schaute auf irgendwelche Dokumente. Schließlich schnappte er sich das Telefon und wählte eine Nummer. Woher hatte er auf einem Mal ein Telefon her? Es dauerte nicht lange bis jemand am anderen Ende der Leitung abnahm.

„Hier Johansson. Guten Tag.“ Eine kleine Pause damit der Gegenüber seine Begrüßungsfloskel loswerden konnte. „Alles läuft bestens, Nero. Das Getreide sieht wunderbar aus. Die Ernte wird ertragreich, ebenso unsere Einnahmen aus dem Verkauf. Ich denke, es fehlt nicht mehr viel und wir können endlich den anderen Bauern ihre Felder abkaufen. Für n Appel und ein Ei. Und dann hätten wir das Getreidemonopol in der Region.“ Johansson lachte, während sein dicker Bauch dabei auf und ab wippte. Wieder eine kurze Pause und der Bauer horchte gespannt hin. „Ja, ein Viertel der Goldmarkmünzen für mich und der Rest für Sie und Sie kümmern sich weiterhin darum, dass das Flugzeuge fliegt. Abgemacht.“ Dann legte er auf, rieb sich die vom Lachen angestrengten Bauchmuskeln und legte sich erschöpft und grinsend auf das Sofa im Wohnzimmer. Nicht lange und ein lautes Schnarchen drang durch den Raum.

Robinia schob das leicht geöffnete Fenster noch ein Stück weiter hoch und kletterte hindurch in die Küche. Sie ging geradewegs auf den Tisch mit den Dokumenten zu. Dort lag eine Landkarte mit all den Feldern in der Nachbarschaft. Der Acker von Robinias Familie war rot umkreist, ebenso wie die Äcker der umliegenden Bauern.

„Nero.“ Sprach Robinia leise.

Doch ehe sie weiter recherchieren konnte, stand Bauer Johansson in der Küchentür und schaute sie schnaufend rot an. Robinia griff zum Brot, welches neben der Landkarte auf dem Tisch lag, damit es so aussah als sei sie in sein Haus eingebrochen um Essen zu stehlen. Sie klemmte sich den Laib unter den Arm, sprang zum Fenster raus und rannte durch den Acker.

„Warte du kleines Gör, wenn ich dich in die Finger bekomme, bist du deines Leben nicht sicher!“ Schrie Johansson dem weglaufenden Mädchen hinterher.

Robinia erwähnte das Gehörte und Gesehene zu niemandem mit keinem Wort. Zu sehr hatte sie Angst davor, dass Bauer Johansson seine Drohung wahrmachen würde. Wenige Wochen nach dem Zwischenfall kaufte Bauer Johansson den Acker von Robinias Familie auf. Sie bestellten nun das Feld im Namen von Johansson und erhielten dafür nur wenig Lohn, durften aber glücklicherweise in ihrem Haus wohnen bleiben.

Das Flugzeug hörte auf ihren Acker zu umkreisen, ebenso verschwanden die Wolkenstreifen am Himmel und das Getreide erholte sich von Tag zu Tag zusehends. Kurz vor der Erntezeit war es fast genauso ertragreich wie die gewohnten Jahre zuvor. Doch von dem Geld, welches ihr Korn brachte, sahen Robinia und ihre Familie nichts.

Robinia und ihre Großmutter schauten sich an jenem Neujahrstag nach der Millenniumsnacht immer noch schweigend an. Das Telefon in der Hand der Oma klingelte. Sie ging ran. „Ach Emil, da bist du ja endlich. Sprich wie geht es dir? Wie sieht es bei euch aus?“

Emil Siegfriedsson aus Eisland berichtete, dass es dort ebenso wie in Borelien dunkel war. Er wollte mit seinem Auto zurück nach Rauchbucht fahren, doch die Mauer, an der die Nacht zuvor noch für das Steinvolk gearbeitet wurde, war nun fertig und ließ niemanden passieren. Es gab kein Tor in ihr und sie war zu hoch um sie zu überklettern. Auf der anderen Seite der Mauer hatte Emil Siegfriedsson jedoch Dämmerlicht wahrgenommen.

Es waren noch einige andere verwunderte Eisländer an der Mauer gewesen. Niemand konnte so recht sagen, was das auf sich hatte. Da zunächst jedoch kein Weg über die Mauer führte, stiegen die meisten kleingewachsenen Eisländer auf ihre kleingewachsenen Pferde und ritten wieder dorthin, wo sie hergekommen waren. Auch Emil Siegfriedsson stieg in sein Auto um erneut zu seinem Ferienhaus zu fahren.

Während ihre Großmutter noch mit Emil Siegfriedsson telefonierte, ging Robinia zur Tür hinaus und wollte schauen was im nahegelegenen Städtchen Grim los war. Als sie dort ankam, war Hektik und Trubel auf dem Marktplatz, wo sonst die Leute drei Mal in der Woche ihre Stände aufbauten um ihre Waren feil zu bieten.

Es herrschte Aufregung und Ahnungslosigkeit über die Dunkelheit. Was mochte das auf sich haben? Wann würde es wieder hell? Und ein weiteres Gerücht machte die Runde, ging von Ohr zu Ohr. Man hätte heute Morgen den Bauer Johansson leblos in seinem Haus aufgefunden. Von einem Herzanfall sei die Rede gewesen, aus Schreck vor der Dunkelheit wahrscheinlich und dick war er ja noch obendrein.

Robinia wollte das natürliche Dahinscheiden des Bauern Johansson nicht so richtig glauben. Sie erinnerte sich wieder an das Telefonat, welches sie vor wenigen Monaten belauscht hatte, an das Flugzeug, das kam und wie aus dem Nichts wieder verschwand. Mit wem hatte Bauer Johansson an jenem Tag nur telefoniert? Und war derjenige nun auch für die Dunkelheit und den Tod von Bauer Johansson verantwortlich?


Sternenstaub

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