Читать книгу Die magische Schwelle - Kai Pannen - Страница 9

ZU VIEL FANTASIE

Оглавление

»Flohooo, Schnurzelchen. Aufwachen.«

Flo war noch hundemüde. Er hatte wirr geträumt und schlecht geschlafen.

»Mama, nenn mich nicht so«, knurrte er.

»Wenn du jetzt nicht aufstehst, kommst du zu spät in die Schule, mein Schnurzelchen.«

Tanjas Taktik funktionierte. Nach dem zweiten »Schnurzelchen« war Flo wach. Er hasste es, wenn sie ihn so nannte. Verschlafen sackte er am Küchentresen auf seinen Stuhl und trank ein Glas Milch in einem Zug aus.

»So schnell trinken ist ungesund, lass dir das von einer erfahrenen Ärztin gesagt sein«, erklärte ihm seine Mutter.

»Ich hab totalen Durst«, erklärte Flo.

»Milch ist aber nicht zum Durstlöschen. Milch ist ein Nahrungsmittel. Ursprünglich mal für Kälber gedacht, damit die groß und stark werden«, dozierte Tanja.

»Eines Tages wirst du anfangen zu muhen, bei so viel Milch, wie du in dich hineinschüttest«, bemerkte Heidi.

»Dann sprechen wir endlich die gleiche Sprache«, murmelte er und starrte gedankenversunken in sein leeres Glas.

»Träumst du schon wieder? Schmier dein Pausenbrot, du musst gleich los!«, ermahnte ihn seine Mutter.

»Stellt euch mal vor, wir wären alle miniklein. Wie viele Menschen von so einem Glas trinken könnten. Eine Kuh würde für ganz Rendsburg ausreichen.«

»Dann möchte ich aber mal wissen, wie deine Minimenschen so eine Kuh melken wollten. Die kämen ja nicht mal an das Euter ran«, bemerkte Heidi.

»Man könnte bestimmt eine Maschine bauen, die das erledigt. Mit einer Herde Kühe könnte man dann die ganze Menschheit versorgen.«

»Bevor du jetzt Melkmaschinen für gigantische Kühe erfindest, mach dir lieber dein Pausenbrot.«

Lustlos strich Flo Butter auf eine Scheibe. »Und damit könnte man alle Schüler der Welt durchfüttern«, überlegte er laut und versank wieder in seinen Gedanken.

»Nicht einschlafen, schmieren«, drängelte Tanja.

»Kannst du das nicht machen?«

»Flo, du bist kein kleines Kind mehr.«

»Sag ich doch! Wenn das so ist, will ich auch ein Handy haben, wie Heidi.«

»Und wovon träumst du nachts? Ich habe meins auch erst mit 13 gekriegt«, belehrte ihn seine Schwester.

»Misch du dich da nicht ein«, zischte Flo.

»Du bist erst zwölf!«

»Zwölfeinhalb!«

»Streitet euch nicht schon am frühen Morgen. Ich muss los in die Praxis«, sagte ihre Mutter. »Habt ihr eure Hausaufgaben fertig?«

»Klar, Mama«, stöhnten Heidi und Flo im Chor.

»Also dann, bis heute Abend. Und Flo, mach was Gesundes auf dein Pausenbrot.«

»Geht klar, Mama«, stöhnte Flo erneut und tauchte sein Messer in das Glas mit Schokocreme.

»Wow, wahnsinnig gesund«, kommentierte Heidi.

»Ein Meer aus brauner Schokolade, auf dessen Wogen auch die stolzesten Schiffe wie kleine Nussschalen schaukeln …«, sagte Flo und meinte die Schokocreme auf seinem Brot.

»Geht das schon wieder los mit deinen komischen Fantasien? Eines Tages wirst du noch darin hängen bleiben.«

Womöglich hatte sie damit sogar recht! War er nicht gestern in seine eigenen Fantasien geraten? Hatte er nicht das zu sehen geglaubt, was er zuvor auf der Eisenbahnanlage gespielt hatte?

Bevor er zur Schule fuhr, rannte er in die Kleine Freiheit, da er nicht mehr genau wusste, ob er den Chevi zurück ins Regal gestellt hatte.

Unverändert stand der auf der Viehweide neben dem Bauern. Immer noch melkte der seine Kühe. Nichts hatte sich seit gestern verändert. Wie auch? Es waren schließlich alles unbelebte Plastikfiguren. Vielleicht wäre es besser, erst einmal einen großen Bogen um die Anlage zu machen, bis Flo wieder etwas Abstand zu seinen Fantasiewelten gewonnen hätte. Er stellte den kleinen Chevi zurück ins Regal und machte sich auf den Weg zur Schule.

Flo war kein besonders guter Schüler. Im Unterricht träumte er oft, krickelte herum und beteiligte sich kaum. Außerdem war es ihm unangenehm, vor vielen Leuten zu sprechen, und meist wurde er dabei sofort rot im Gesicht. Was die Sache noch unangenehmer machte und seinen Kopf sogar noch röter …

Deutsch war sein Lieblingsfach, am wenigsten mochte er Sport. Er fühlte sich klein und schmächtig neben seinen athletischen Klassenkameraden, die ihn höchstens müde belächelten oder die Augen verdrehten, wenn er beim Fußball mal wieder ins Leere trat. Er war erleichtert, diesen wöchentlichen Termin in den ersten beiden Schulstunden hinter sich gebracht zu haben, zumal Fußball so gar nicht sein Ding war. Abgesehen von Tischfußball, doch den gab es leider nicht im Sportunterricht.

»Gullivers Reisen! Ich hoffe, ihr habt alle die ersten Seiten gelesen«, begann Frau Denkhaus, Flos Deutschlehrerin, mit ihrer etwas zu schrillen Stimme den Unterricht. »Worum geht es in dieser Geschichte? Boris, was meinst du?«

Boris war eine der Sportskanonen und gehörte zur Gruppe der coolen Jungs in der Klasse. Flo hingegen war Vorsitzender im Club der Außenseiter, der nur ein einziges festes Mitglied hatte, nämlich ihn selbst.

»Also? Worum geht es?«, wiederholte Frau Denkhaus.

Boris legte ein charmantes Lächeln auf und sagte voller Überzeugung: »Um einen bösen Riesen, der eine Insel überfällt und dort gegen die Menschen kämpft.«

Die Klasse kicherte über diese etwas eigenwillige Zusammenfassung. Offensichtlich hatte Boris den Text nicht besonders aufmerksam gelesen, wenn überhaupt.

Frau Denkhaus seufzte. Dann blickte sie auf Flo, der gerade kleine Männchen in sein Heft malte. »Florian, was denkst du? Ist Gulliver ein Riese?«

Flo schreckte von seinem Heft auf und sofort schoss ihm das Blut in den Kopf. »Ja … ähm … also, nein. Dieser Gulliver ist überhaupt kein Riese. Der ist ein Seemann, dessen Segelschiff bei einem Sturm untergeht. Er rettet sich auf eine unbekannte Insel, auf der nur kleine Menschen leben. Vielleicht gerade mal um die 15 Zentimeter groß.« Flo warf einen schnellen Blick hinüber zu Boris, der ihn grimmig ansah. »Der ist ein ganz normal großer Mensch und nur für diese kleinen Leute wirkt er so riesig. Ist ja auch eigentlich nur eine Frage des Standpunkts, was groß oder klein ist.«

»Genau die richtige Insel für Flo. Dann wäre er endlich einmal der Größte«, raunte jemand aus Boris’ Richtung. Laut genug, dass alle es hören konnten.

»Sehr witzig«, krächzte Frau Denkhaus. »Wahre Größe lässt sich nicht in Zentimetern messen.« Immerhin war sie selbst eine sehr kleine Person und hatte in ihrer Schulzeit sicher viele Bemerkungen darüber ertragen müssen. »Sehr gut, Flo. Und was glaubt ihr, ist das eine realistische Geschichte?«

»Nee, bestimmt nicht. So kleine Menschen gibt es in Wirklichkeit gar nicht«, meinte Melanie.

›Oder wir haben sie einfach noch nicht entdeckt und es gibt sie doch‹, dachte Flo. ›Oder vielleicht bildet sich Gulliver das alles nur ein und am Ende stellt sich heraus, dass er verrückt geworden ist.‹ Seit seinem Erlebnis im Kofferraum des Chevrolets war sich Flo überhaupt nicht mehr sicher, was die Wirklichkeit anbetraf.

In der Pause hatten Flo und Jakob mit Glück einen Platz an einem der Kicker ergattert. Boris lauerte mit seinen Freunden etwas abseits darauf, dass ein Tisch frei wurde. Und um das zu beschleunigen, lästerten sie über Flo.

»Spielt gar nicht so schlecht, der kleine Klugscheißer«, bemerkte Boris. »Ach was, der große Klugscheißer. Ist schließlich alles nur eine Frage des Standpunkts, stimmts? Eigentlich ist er ein Riese.«

Die drei anderen Jungs um Boris feixten gehässig. Boris ging etwas in die Knie und starrte Flo von der Seite an. Flo tat so, als bemerke er ihn nicht. Doch vergeigte er jetzt fast jeden Ball.

»Von Nahem betrachtet, wird jeder zum Riesen. Sieh an, du hast ja Sommersprossen.« Boris sog die Luft ein und hielt sich dann mit gespieltem Ekel die Nase zu. »Aber vielleicht sind das ja überhaupt keine Sommersprossen. Ich hatte ganz vergessen, dass du unter der Eisenbahnbrücke wohnst. Habt ihr da nicht alle braune Flecken im Gesicht? Woher kommen die noch mal?«

Auch die anderen Jungs machten jetzt ein gespielt angewidertes Gesicht.

»Ach ja, jetzt fällts mir wieder ein. Die Zugtoiletten, da war doch was …«

Flo war hundeelend zumute über diese Demütigungen und wäre am liebsten fortgerannt. Aber die Blöße wollte er sich nicht geben.

»Ich hab irgendwie keine Lust mehr«, sagte Jakob schließlich, um Flo aus der Situation zu befreien, und zog ihn mit sich fort. »Ich spiele nicht vor Publikum, das unter meinem Niveau ist«, fügte er etwas lauter hinzu.

Boris ließ ihm diese Bemerkung durchgehen. Lag es an Jakobs Fußballfähigkeiten, dass er ihn einigermaßen respektierte? Oder an Jakobs älterem Bruder, der noch ein bisschen größer war als Boris.

»So, genug gespielt. Schluss jetzt!«, rief Christian. Jakobs älterer Bruder war glücklicher Besitzer eines superschnellen Computers. Hin und wieder ließ er auch Flo und Jakob für eine Weile ran und die nutzten jede Gelegenheit, sich in virtuelle Spielwelten zu versenken.

»Nur noch dieses Rennen zu Ende fahren«, protestierte Jakob.

»Nix da. Ich muss was für die Schule machen.«

»Als ob. Das sagst du immer und dann spielst du doch nur heimlich selbst«, beschwerte sich Jakob.

»Das ist mein Zimmer und mein PC. Da bestimme ich.«

»Und wenn ich Mama erzähle, dass du hier in Wirklichkeit dauernd nur rumdaddelst?«

»Dann wirst du wohl niemals mehr an meinen Computer dürfen.« Christian verschränkte die Arme und sah die beiden mit der Gewissheit an, am längeren Hebel zu sitzen.

Widerwillig legten Flo und Jakob ihre Controller nieder und warfen einen wehmütigen, letzten Blick auf den Bildschirm. Sie schnappten sich eine Schale mit Kirschen aus dem Kühlschrank und gingen auf den Balkon.

Jakob wohnte ganz oben in einem der fünf Hochhäuser am anderen Ende der »Schleife«. Flo war gerne dort, denn man hatte eine wunderbare Aussicht. Von hier oben verstand man sofort, warum der Stadtteil so genannt wurde, denn die Gleise gingen, wie bei einer Modelleisenbahn, einmal in einer riesigen Schleife um ihn herum. Tagsüber war es still auf den Straßen und man sah nur wenige Menschen. Aber jetzt, am frühen Abend, kamen viele Bewohner von der Arbeit nach Hause und es herrschte reger Autoverkehr. Drum herum ratterten die Züge über die Gleise. Unterhalb des Bahndamms reihten sich die schnuckeligen Wohnhäuser. Viele Anwohner waren um diese Uhrzeit mit Gartenarbeit beschäftigt. Andere gingen mit ihren Hunden Gassi. Ein paar Jogger machten Dehnübungen. Es waren Szenen wie auf der Eisenbahnanlage seines Vaters.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Flo. Aus lauter Langeweile spuckten sie Kirschkerne vom Balkon.

»Keine Ahnung. Wir können ein Hörbuch hören«, schlug Jakob vor.

»Keine Lust«, sagte Flo und steckte sich eine Kirsche in den Mund. »Ich versuch mal, den Briefkasten zu treffen.«

»Wir könnten zu dir gehen und ein bisschen in eurem Chevrolet rumsitzen«, schlug Jakob vor, nachdem auch das Kirschkernspucken an Reiz verloren hatte.

Im Wagen spielen, mit diesem unheimlichen Kofferraum? Flo hatte sich doch vorgenommen, nicht wieder zu tief in seine Fantasiewelten zu versinken.

»Nö, keine Lust. Ich muss jetzt sowieso nach Hause, Klavier üben, sonst motzt mein Vater wieder.«

Klavier spielen war eine Möglichkeit, etwas Realistisches zu machen. Verfolgungsjagden in einem alten Auto zu spielen, gehörte eindeutig nicht dazu.

Ein Zug ratterte über die Hochbrücke in Richtung Hamburg, als Flo kurz darauf zu Hause ankam. Auf Klavierspielen hatte er eigentlich gar keine Lust und so setzte er sich erst mal auf die Vorgartenmauer und beobachtete die Ameisen. Eine krabbelte gerade seinen Arm entlang. Es kitzelte, also pustete er sie weg. Was für ein Orkan das für so ein Tierchen sein musste. Doch gleich kamen Dutzende Ameisen hinterhergekrabbelt. Vermutlich saß er mitten auf einer Ameisenstraße und blockierte sie wie ein riesiger Felsbrocken, den es nun zu überwinden galt. Er ging nach hinten in den Garten. Anscheinend war niemand zu Hause. Seine Mutter arbeitete um diese Uhrzeit noch in ihrer Praxis, sein Vater im Laden und seine Schwester hing bestimmt an der Kletterwand. Der Chevrolet stand lauernd unter dem Carport und schien ihn mit seinen Doppelscheinwerfern höhnisch anzugrinsen. Noch nie war es ihm in den Sinn gekommen, dass dieser Wagen eine Art Monster sein könnte, das geduldig auf seine Beute lauerte, bis es plötzlich ein ahnungsloses Opfer verschlang und in einer anderen Welt wieder ausschied.

Seit Ewigkeiten hatte sich sein Vater vorgenommen, den Wagen wieder fahrtüchtig zu kriegen. Doch irgendwie schien er es nicht auf die Reihe zu bekommen, die unzähligen Ersatzteile einzubauen, die in der Garage und im Keller lagerten.

Flo klopfte gegen das schwere Blech der Karosserie. »Es ist ein Auto, nichts weiter«, sagte er immer wieder, wie um sich selbst zu beruhigen. Es war völlig unmöglich, durch den Kofferraum in eine andere Dimension zu gelangen. Was war nur mit ihm los, dass er sich so wirre Sachen ausdachte? Und dass die ihm dann auch noch wie Wirklichkeit vorkamen. So wie Robbi, der ständig mit jemand Unsichtbarem redete. Würde er auch mal so enden? Gefangen in seiner eigenen Welt? Wenn doch alles vom Kofferraum aus so echt ausgesehen hatte, war das dann nicht ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er verrückt war?

Pubertät, würde seine Mutter wahrscheinlich sagen, da können schon mal merkwürdige Dinge vorkommen. Flo betrachtete den Wagen und rang mit dem Gedanken, es noch einmal zu versuchen. Er brauchte die Gewissheit, dass er nur geträumt hatte, sonst würde er ewig an seinem Verstand zweifeln. Vorsichtig öffnete er den Kofferraum. Er sah ganz normal aus, riesengroß und bis auf ein paar Werkzeuge und Schrauben vollkommen leer. Verstohlen blickte er sich um, ob ihn auch niemand beobachtete. Dann öffnete er die hintere Tür und stieg in den Wagen. Die Luft war stickig und roch wie immer etwas moderig, nach einer Mischung aus Leder, Motoröl und Kunststoff. Vorsichtig legte er die Rückenlehne um und spähte in den dunklen Kofferraum. Er konnte nichts Verdächtiges feststellen. Der gleiche Kofferraum wie von außen, mit ein paar Werkzeugen und einer Schachtel Schrauben. Sein Puls schlug wie eine Trommel, als er hineinkrabbelte. Wie beim ersten Mal zog er die Rückenlehne wieder in die aufrechte Position und saß einen Augenblick im Dunkeln. Dann hob er langsam die Haube an, nur einen Spaltbreit. Womöglich wartete der Bauer ja noch auf die Gelegenheit, ihn aus dem Auto zu zerren. Doch er konnte keinen Bauern entdecken. Auch keine Kühe. Er hob den Deckel weiter an, wagte es kaum, genauer hinzuschauen. Er blinzelte und erblickte die Einfahrt, ein Stück vom Vorgarten, die Haustür unter dem Vordach. Sein Zuhause!

Heidi, die nicht klettern war, sondern die ganze Zeit in ihrem Zimmer verbracht hatte, schaute aus dem Fenster und beobachtete ihren Bruder, wie er etwas verwirrt im Kofferraum hockte und sich umguckte. Sie verdrehte die Augen und murmelte: »Der hat schon ’ne ganz schöne Macke, mein kleiner Bruder.«

Gleichzeitig kam Flo zu der befreienden Erkenntnis, dass er so eine Macke eben doch nicht hatte.

Die magische Schwelle

Подняться наверх