Читать книгу Alles geht! - Kai Velten - Страница 6

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Seht ihr den Mond dort stehen?

Er ist nur halb zu sehen,

und ist doch rund und schön.

So sind wohl manche Sachen,

die wir getrost belachen,

weil unsre Augen sie nicht seh'n.1

Vorwort: Warum geht alles?

Alles Vorstellbare und Unvorstellbare kann tatsächlich geschehen, jederzeit und überall und auch dort, wo wir selbst gerade sind. Um diese wenig bekannte, wissenschaftlich begründete Tatsache geht es hier, deren Konsequenzen manchen fantastischen Roman in den Schatten stellen.

Das Buch erzählt eine Geschichte mit scheinbar unmöglichen Ereignissen, in der Menschen über das Wasser und durch Wände gehen, ohne Hilfsmittel fliegen und in höhere Dimensionen aufsteigen. Auf den ersten Blick ein Fantasieprodukt, das bestenfalls unterhaltsam und für einige kurzweilige Stunden zu gebrauchen ist. Jene merkwürdige Tatsache bedeutet aber, dass wir die Geschichte ernster nehmen sollten, denn sie könnte in der Realität geschehen, irgendwo auf dem blauen Planeten und vielleicht vor unseren eigenen Augen. Eine abwegig scheinende Behauptung, die leicht begründet werden kann, mit einem jahrhundertealten Argument, das neben vielen anderen auch von Albert Einstein verwendet wurde.

Selbstverständlich spricht unsere gesamte bisherige Erfahrung dafür, dass wir nie etwas Vergleichbares erleben werden. Mit höchster und sogar allerhöchster Wahrscheinlichkeit wird unser Leben auch weiterhin im Rahmen der bekannten Naturgesetze verlaufen und kein Mensch wird jemals schweben, durch Wände gehen oder den Bewohnern höherer Dimensionen begegnen. Absolut sicher ist das allerdings nicht und genau darum geht es. Was unmöglich erscheint, ist unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. In diesem Sinne kann neben der kleinen Geschichte, die hier erzählt wird, auch noch alles andere geschehen, das wir uns vorstellen können und selbst, was wir uns nicht vorstellen können. Alles geht!

Wer das zum ersten Mal versteht, wird die Welt mit neuen Augen sehen und sich bald wie ein Astronaut fühlen, der erste Schritte auf einem fremden Planeten unternimmt. Das kann etwas beunruhigend sein und mancher unfreiwillige "Astronaut" wird sich die geordneten Verhältnisse von gestern zurück wünschen. Es liegt aber auch eine Chance darin. Wenn alles möglich ist, gibt es keine Wünsche und Träume mehr, die man völlig unrealistisch nennen müsste. Ein Roman von Lewis Carroll beschreibt ein "Wunderland", das "Alice", ein kleines Mädchen, in einem von anderen Menschen nicht beachteten Kaninchenloch entdeckt. Wie viele Wunderländer liegen jeden Tag an unserem eigenen Weg?

Eine Frage, die sich selbstverständlich nur dann stellt, wenn das Unmögliche wirklich möglich ist. Die Erfahrung spricht dagegen und vor allem scheint es, dass wir auf wissenschaftliche Erkenntnisse verweisen können. Hat die Wissenschaft nicht längst bewiesen, dass sich die Welt geordnet verhält und unmöglich Erscheinendes wirklich unmöglich ist? Beweist nicht das Gravitationsgesetz, dass ein Mensch, so sehr er mit den Armen flattern und zappeln mag, von der Erde angezogen wird und daher nicht fliegen kann? Beweisen nicht die Gesetze der Atom- und Festkörperphysik, dass sich Körper im festen Aggregatszustand nicht durchdringen und Menschen daher nicht durch Wände gehen können?

Die Antwort auf diese Fragen lautet: Nein, diese Beweise gibt es nicht. Auch die Wissenschaft kann uns nicht dabei helfen, beliebige Ereignisse in der Zukunft auszuschließen. Albert Einstein erklärt das wie folgt:

"Niemals aber kann die Wahrheit einer Theorie erwiesen werden. Denn niemals weiß man, daß auch in Zukunft keine Erfahrung bekannt werden wird, die ihren Folgerungen widerspricht." 2

Zwei unauffällige und bescheidene Sätze, die unsere Vorstellung einer sicher vorhersehbaren Welt wie einen Vorhang zur Seite schieben. Dahinter erscheint unsere Erde als jener unbekannte Planet, auf dem man selbst Kaninchenlöcher im Auge behalten sollte. "Farewell to certitude", "Abschied von der Gewissheit" schreibt der Philosoph Avshalom M. Adam über Einsteins Feststellung.3 Alles ist, wie wir gleich sehen werden, auch für den Laien rasch und umstandslos erklärt. Wenn dies aber so ist, warum ist Einsteins über hundert Jahre altes Zitat dann nicht bekannter? Warum traut man den Naturwissenschaften bis zum heutigen Tag Dinge zu, die sie nicht leisten können?

Auf der Suche nach Antworten stößt man auf Äußerungen prominenter Physiker, die missverstanden werden können. Stephen Hawking etwa schreibt in seinen "Kurzen Antworten auf große Fragen" (Klett-Cotta, 2019): "Die Naturgesetze beschreiben, wie sich (…) alle Dinge in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft tatsächlich verhalten. (…) Im Gegensatz zu den Gesetzen, die von Menschen gemacht werden, können die Naturgesetze nicht gebrochen werden (…)." Mit etwas Abstand zu o.a. Zitat spricht Hawking von seinem "Glauben an die Wissenschaft" und macht damit deutlich, dass er nur sein Vertrauen in die Verlässlichkeit der Naturgesetze ausdrücken wollte. Dieses berechtigte Vertrauen darf man nicht mit einem unumstößlichen und alle Ausnahmen ausschließenden Beweis verwechseln.

Machen wir ein Gedankenexperiment, um Einsteins Worte besser zu verstehen. Was geschieht, wenn jemand einen Stein aufhebt und dann die Hand öffnet? Die Erfahrung sagt uns, dass der Stein zu Boden fallen wird. Aber können wir ganz sicher sein? Könnte der Stein nicht an irgendeinem Tag der Menschheitsgeschichte, morgen zum Beispiel, in der Luft schweben statt zu fallen? Die Überzeugung, dass dies unmöglich sei, ist so tief in uns verwurzelt, dass viele die Frage "sinnlos" nennen und jede Beschäftigung damit ablehnen werden. Diejenigen, die übrig bleiben, werden ihre Argumente mit siegessicherem Ausdruck vortragen und kaum verbergen können, wie sehr es sie erstaunt, von Erwachsenen mit derlei Fragen konfrontiert zu werden. Einige werden ein Physikbuch aus dem Schrank nehmen, das Gravitationsgesetz aufschlagen und sagen: "Hier steht es schwarz auf weiß: die Erde zieht den losgelassenen Stein an. Also wird er fallen und nicht schweben." Auf die Frage, ob das ganz sicher ist, werden sie antworten: "Natürlich, ganz sicher. Das hier ist ein Physikbuch und kein Roman. Es beschreibt die Naturgesetze von Newton, Einstein und den anderen großen Physikern. Das ist alles absolut sicher und bewiesen."

Damit haben wir den entscheidenden Punkt erreicht, denn Einstein widerspricht, indem er feststellt, dass physikalische Theorien eben nicht "erwiesen" werden können. Das hat weitreichende Konsequenzen. Wenn Naturgesetze nicht beweisbar sind, kann kein denkbares Ereignis sicher ausgeschlossen werden. Wir können zwar weiterhin davon ausgehen, dass der Stein im Gedankenexperiment höchstwahrscheinlich fallen wird, müssen aber akzeptieren, dass es anders ausgehen könnte. Der Stein könnte seinen Absturz, den das Gravitationsgesetz von ihm verlangt, jederzeit abbrechen, um zu schweben, in den Himmel zu stürzen oder irgendetwas anderes zu tun, das ihm gerade einfällt. Alles ist möglich, alles geht.

Das gilt auch für die übrigen Naturgesetze. Unsere bisherigen Erfahrungen sprechen dafür, dass ihre Vorhersagen höchstwahrscheinlich eintreffen werden. Absolut sicher ist dies jedoch nicht, und deshalb kann schon morgen alles geschehen, das wir uns vorstellen können und selbst, was wir uns nicht vorstellen können. Menschen, die auf dem Wasser laufen, ohne Hilfsmittel fliegen und durch Wände gehen sind da nur so etwas wie das kleine Einmaleins. Es könnte wirklich alles anders sein und die Welt könnte sich anfühlen wie ein wahr gewordener Drogentraum, bis hin zu jenen "Marmeladenhimmeln", die John Lennon in seinem von "Alice im Wunderland" inspirierten "Lucy in the sky with diamonds" beschreibt.

Warum kann man physikalische Theorien nicht beweisen? Das von Einstein verwendete Argument wurde schon 1739 von David Hume entwickelt und danach von Karl Popper, Bertrand Russel und anderen Philosophen und Wissenschaftstheoretikern übernommen:4 Naturgesetze beschreiben Erfahrungen, das Gravitationsgesetz beispielsweise die Erfahrung, dass Steine zu Boden fallen. Wenn man Naturgesetze beweisen könnte, müsste es möglich sein, aus Erfahrungen der Vergangenheit absolut sichere Aussagen über die Zukunft abzuleiten. Das ist aber unmöglich, weil noch so viele gleichartige Erfahrungen nicht begründen können, dass morgen genau dasselbe geschehen wird. Ein Beispiel hilft, dies besser zu verstehen. Bertrand Russel wird folgendes (für empfindliche Gemüter etwas deftige) Gleichnis vom "induktivistischen Truthahn" zugeschrieben:

Ein Truthahn stellte an seinem ersten Tag in einem Mastbetrieb fest, dass er jeden Morgen um 9 Uhr gefüttert wurde. Als guter Induktivist5 zog er daraus zunächst keine Schlüsse. Er wartete ab, bis er sehr häufig beobachtet hatte, dass er jeden Morgen um 9 Uhr gefüttert wird. Diese Beobachtungen machte er unter den verschiedensten Umständen, an Mittwochen und Donnerstagen, an warmen und kalten, regnerischen und trockenen Tagen. Jeden Tag fügte er seiner Liste eine neue Beobachtung hinzu. Schließlich war sein induktivistisches Gewissen zufriedengestellt und er zog den induktiven Schluss: "Ich werde immer um 9 Uhr gefüttert." Leider erwies sich diese Folgerung als völlig falsch, als ihm Heiligabend statt der erwarteten Fütterung der Hals durchgeschnitten wurde.6

Russells Beispiel veranschaulicht, warum sich auch aus vielen gleichartigen Erfahrungen keine Gesetzmäßigkeit ableiten lässt, auf die wir uns sicher verlassen könnten. Dem Truthahn hilft es nicht, dass er das Ereignis "Fütterung um 9 Uhr morgens" hundertfach beobachtet hat. Trotz dieser zahlreichen Wiederholungen geschieht eines Tages etwas völlig anderes. Ebenso kann die Sorgfalt, mit der Menschen Naturgesetze aus den Erfahrungen der Vergangenheit abgeleitet haben, nicht verhindern, dass etwas Unerwartetes und bis dahin Unvorstellbares geschieht. "Das haben wir ja noch nie gesehen" ist kein Argument, mit dem sich etwas ausschließen lässt. Natürlich ist das vom Truthahn nach ein paar hundert Tagen aufgestellte "Fütterungsgesetz" erheblich unsicherer als unsere Naturgesetze, die Erfahrungen aus Jahrtausenden zusammenfassen. Dennoch können wir es auch als Mahnung an uns verstehen, wenn Russell an anderer Stelle (bezogen auf ein Huhn statt des Truthahns) schreibt:

Der Mensch, der das Huhn sein Leben lang täglich fütterte, dreht ihm schließlich den Hals um, was zeigt, das eine genauere Betrachtung der Gleichförmigkeit des Naturgeschehens nützlich für das Huhn gewesen wäre.7

Fassen wir zusammen. Wir werden höchstwahrscheinlich weiterhin nichts erleben, das Naturgesetzen widerspricht, weil diese mit allen bekannten Erfahrungen aus Jahrtausenden übereinstimmen. Dennoch kann jederzeit Beliebiges geschehen und nichts kann verhindern, dass wir, wie der Paketbote Paul in diesem Buch, vielleicht schon morgen in eine Fantasiewelt hinein stolpern. Die verbreitete Auffassung, es gäbe gesicherte Beweise für Naturgesetze, die vor derartigen Entgleisungen ins Surreale schützen könnten, ist falsch. Naturgesetze sind in ihrer Substanz nur Protokolle, die, wie die Beobachtungen des Russellschen Truthahns, Erfahrungen aus der Vergangenheit zusammenfassen. Neue Erfahrungen können hinzu kommen und für die Zukunft gilt: nicht alles ist wahrscheinlich, aber alles ist möglich. Man kann der Ansicht sein, dass es sinnlos ist, über die Möglichkeit sehr unwahrscheinlicher Ereignisse nachzudenken, die seit Jahrtausenden nicht beobachtet wurden. Für die Beschäftigung mit dem Thema spricht, dass es um die Realität geht, in der wir leben. Die Möglichkeit des scheinbar Unmöglichen gehört zu unserer Welt wie ein Stein, den wir in der Hand halten und dessen Realität niemand bestreiten würde (abgesehen von Philosophen natürlich). Wer Realist bleiben möchte, kann das nicht ignorieren.

Dieses Buch entstand aus der Frage, wie es sein könnte, wenn normale Menschen die Möglichkeit des Unmöglichen entdecken. Paul, ein gescheiterter Physikstudent und Paketbote, stolpert eines Tages am Ufer des Rheins und stellt fest, dass er auf dem Wasser gehen kann. Damit erschüttert er das Weltbild von Physikprofessor Tom, der mit dem Bau eines riesigen Apparats reagiert, den er "Physical Law Crusher" (Naturgesetzbrecher) nennt und der Ausnahmen der Naturgesetze auffinden soll. Paul, Tom und ihren Freunden gelingt es schließlich, weitere Dinge zu tun, die man bis dahin für unmöglich gehalten hat.

Die Tatsache, dass Naturwissenschaftler Szenarien dieser Art ignorieren und "unwissenschaftlich" nennen, wird oft als ein Beweis ihrer Unmöglichkeit missverstanden. Eigentlich bedeutet es nur, dass sich die Szenarien nicht mit wissenschaftlichen Instrumenten behandeln lassen, ebenso, wie ein Zahnarzt mit seinem feinen Besteck keine Mauern errichten und ein Maurer mit seiner Kelle keinen Zahnschmerz heilen kann. Wissenschaftler sind an Erfahrungen und Beobachtungen gebunden und dürfen nicht herumfantasieren, selbst dann nicht, wenn aus der Fantasie Realität werden könnte. Ein Physiker, der die Berechnung einer Asteroidenbahn mit dem Hinweis verweigern würde, es sei unklar, ob das Gravitationsgesetz morgen noch gilt, wäre wie ein Maurer, der keinen Stein mehr in die Hand nimmt. Er würde seine Aufgabe nicht erfüllen und müsste mit der Entlassung rechnen.

Die Verpflichtung, im Rahmen der Naturgesetze zu denken, setzt Wissenschaftlern enge Grenzen, die sich nach Worten des Physiknobelpreisträgers Richard Feynman wie eine "Zwangsjacke" anfühlen.8 Diese Zwangsjacke ist so etwas wie die Arbeitskleidung der Wissenschaftler. Wer gerade nicht als Wissenschaftler arbeitet, darf die Jacke abstreifen und den Kosmos des Möglichen erkunden, der uns umgibt und, wie die nachfolgende Geschichte zeigt, gleich nebenan beginnen könnte. Dass wir dies auch tatsächlich tun sollten, lässt sich mit Worten John F. Kennedys begründen, die er 1962 den Kritikern der Mondfahrt zurief und die bis auf die Tatsache, dass unser Abenteuer nicht so gefährlich erscheint, vollkommen zutreffen:

"Vor vielen Jahren fragte man den großen britischen Entdecker George Mallory, der später auf dem Mount Everest den Tod finden sollte, warum er diesen Berg bezwingen wolle. Darauf antwortete er: 'Weil es ihn gibt.' Nun, es gibt auch den Weltraum, und wir haben vor, ihn zu bezwingen, und es gibt auch den Mond und die Planeten, und es gibt neue Hoffnung auf Wissen und Frieden. Und daher bitten wir um Gottes Segen, während wir die Segel setzen und aufbrechen zum riskantesten und gefährlichsten und größten Abenteuer, zu dem sich jemals ein Mensch aufgemacht hat."9

1 Aus: "Der Mond ist aufgegangen", Matthias Claudius, 1783.

2 Albert Einstein: Induktion und Deduktion in der Physik. Berliner Tageblatt, 25.12.1919.

3 Avshalom M. Adam: Farewell to certitude: Einstein's novelty on induction and deduction, fallibilism. Journal for General Philosophy of Science 31.1 (2000): 19-37.

4 David Hume: A Treatise of Human Nature. Oxford University Press, 2011 (Originalausgabe: 1739).

5 Russell richtet sich hier an Philosophen, die unter "induktiven Schlüssen" die Ableitung allgemeingültiger Gesetze aus Einzelbeobachtungen verstehen.

6 Frans A. van Vught: Pitfalls of forecasting: fundamental problems for the methodology of forecasting from the philosophy of science. Futures 19.2 (1987): 184-196.

7 Bertrand Russell: The problems of philosophy. Oxford University Press, 2001.

8 Richard Feynman über seine Arbeit als Wissenschaftler: "Ich spiele ein interessantes Spiel. Es geht um Fantasie, aber in einer engen Zwangsjacke, weil sie im Rahmen der bekannten Naturgesetze bleiben muss." Aus: The Quotable Feynman, Princeton University Press, 2015.

9 John F. Kennedy am 12.9.1962 in der Rice University in Austin (Texas, USA), zitiert nach Richard Wiseman: "Sprung auf den Mond: Wie wir Unerreichbares schaffen können", Fischer-Verlag, 2019.

Alles geht!

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