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Über das Wasser

Alice lachte. (…) "Etwas Unmögliches kann man nicht glauben." "Du wirst darin eben noch nicht die rechte Übung haben", sagte die Königin. "In deinem Alter habe ich täglich eine halbe Stunde darauf verwendet. Zuzeiten habe ich vor dem Frühstück bereits bis zu sechs unmögliche Dinge geglaubt."10

Nacht am Rhein

Ferne Lichter funkelten im nachtschwarzen Rhein. Das tiefe Wasser und die kräftige Strömung verbargen sich unter der Maske eines zweiten Sternenhimmels. Alle Gefahren schienen weit entfernt wie das kosmische Spektakel über unseren Köpfen, dessen zahllose Feuer, Supernovae, schwarze Löcher und Gammastrahlen uns nicht erreichen können.

Paul balancierte auf den Felsbrocken der Uferbefestigung, die sich unvorhersehbar bewegten und in der Dunkelheit kaum erkennbare Spalten bildeten. Ein Damm, den er gerade hinabgestiegen war, verdeckte die Sicht in das rheinhessische Bingen. Dort hatte er Freunde getroffen und wandte sich nun seiner Heimatstadt Rüdesheim zu, die als hell strahlende, längliche Ellipse über dem anderen Ufer schwebte.

Die Straßenlampen der Außenbezirke tupften weit ausholende Linien auf die angrenzenden Hügel des Mittelrheintals und Paul war der Ansicht, dass die Ellipse im Kranz dieser Linien wie die Milchstraße mit ihren Spiralarmen aussah. Nur die beleuchteten Stützen einer Seilbahn störten die Analogie. Sie zeichneten eine perfekte Gerade in die Nacht, quer durch die Spiralarme bis zu einer hochgelegenen Terasse, auf der man das Flusstal mit den benachbarten Burgen überblicken und ein Denkmal aus alten Kaiserzeiten besichtigen konnte, die "Wacht am Rhein".

Paul hatte Physik studiert und wusste, wie aberwitzig der Vergleich des Städtchens mit der hunderttausend Lichtjahre großen Galaxie war, die neben der Erde vielleicht unzählige andere bewohnte Planeten beherbergt. Dennoch schien ihm das, was er sah, ganz natürlich. Er hatte fast jeden Tag seines Lebens in diesem Tal verbracht. Rüdesheim war seine Welt. Die Milchstraße teilte sich ihre Welt mit Milliarden weiterer Galaxien und entsprach, so gesehen, nicht einmal dem kleinsten Häuschen am anderen Ufer. Sie war mit jenem Vergleich gut bedient. Sehr gut sogar.

Paul erreichte die Wasserlinie und betrat einen letzten Stein, der regelmäßig vom Wellengang der Schiffe überspült wurde und mit glitschigen Algen bedeckt war. Der Stein reagierte sensibel auf Gewichtsverlagerungen und kippte in verschiedene Richtungen. Paul stabilisierte ihn mit routinierten Bewegungen und streckte ein Bein über den Fluss. Für den ersten Schritt hatte er sich ein Ritual angewöhnt, das er mit großem Ernst zelebrierte. Er senkte das Bein ab und unterbrach die Bewegung mehrmals, um genau zu beobachten, was mit dem Wasser und seinem Schuh geschah.

Obwohl er jedes Detail kannte, nahm er sich viel Zeit dafür. Er tat es aus Respekt vor den unbekannten Mächten, die ihm die Gabe verliehen hatten, auf dem Wasser zu gehen. Das Ritual war eine Beschwörung dieser Mächte, eine inständige Bitte, ihm die besondere Fähigkeit nicht mitten auf dem Rhein zu nehmen, den man trotz seiner freundlichen Erscheinung in der schönen Landschaft nicht unterschätzen durfte. Alle Kinder der Region konnten die Warnungen ihrer Eltern vor einem Bad herunterbeten. Unvorsichtige Schwimmer wurden selbst am Ufer mitgerissen und stromabwärts lauerte das "Binger Loch", eine Engstelle des Rheins, in der das Wasser stampfte, brodelte und schäumte.

Während Paul den Schuh weiter absenkte, sprang etwas, das er auch nach vielen Jahren und hundertfachem Erleben nicht beschreiben konnte und deshalb einfach nur "etwas" nannte, in sein Bein und breitete sich im Körper aus. Es geschah immer wenige Zentimeter über dem Rhein, wenn sein Fuß den Einflussbereich des Wassers erreichte. Paul hielt für möglich, dass es auch umgekehrt sein könnte und das Wasser stattdessen den Einflussbereich des Fußes erreichte. Die Gesetze und Begriffe seines Physikstudiums ließen sich nicht auf das Erlebte anwenden und Paul blieb nichts übrig, als zu beobachten und zu hoffen, dass irgendwann jemand kommen würde, der das zauberhafte Geschehen aus der Dunkelheit des Unverstandenen in das helle Licht wissenschaftlicher Theorien heben würde.

Wenn er über das Wasserlaufen nachdachte, meinte er, Wissenschaftler vergangener Jahrhunderte verstehen zu können, die Gesetzmäßigkeiten in einem noch völlig unübersichtlichen und geheimnisvollen Naturgeschehen gesucht hatten. Die meisten von ihnen mussten sich ebenso hilflos und klein gefühlt haben wie er selbst. Jene aber, die wie Kopernikus, Newton und Einstein alle Schwierigkeiten überwunden hatten, erschienen ihm bewunderungswürdiger als zuvor, entrückt in einen unerreichbaren Pantheon der Wissenschaften. Sie hatten Aufgaben für Halbgötter und Titanen gelöst und konnten keine Menschen aus Fleisch und Blut gewesen sein.

Das merkwürdige Etwas verwandelte sich in ein Gefühl innerer Spannung und begleitete ihn in dieser Gestalt auf seinem Weg über das Wasser. Jede Körperzelle schien mit einer besonderen Energie aufgeladen und Paul war der Meinung, dass eine hell strahlende Glühbirne so empfinden müsste, wenn sie empfinden könnte. Als das Wasserlaufen vor einigen Jahren neu für ihn war, hatte er mit einem Handspiegel überprüft, ob ein Leuchten von ihm ausging oder andere von der Energie bewirkte Veränderungen erkennbar wären. Er hatte nichts feststellen können, und natürlich hing seine Anspannung auch mit der Angst zusammen, dass er die Gabe plötzlich verlieren und in den Fluss fallen könnte.

Wenn dies in der Fahrrinne des Rheins geschehen sollte, dort, wo es eiskalt und die Strömung am stärksten ist, würde es gefährlich werden. Er wäre dann in die voran eilenden Wassermassen eingehakt wie die Waggons der auch in der Nacht fahrenden Güterzüge, die mit ihrem von den Talflanken reflektierten Quietschen, Rumpeln und Donnern zur ständigen Geräuschkulisse der Region gehörten. Jeder Fluchtversuch wäre vergeblich und die kurze Fahrt würde unweigerlich im ”Binger Loch” enden, jenem Hexenkessel, den ein Schwimmer nicht überleben konnte. Paul spürte die Nähe der Gefahr und wusste doch, dass sein Zustand nicht nur auf Angst beruhte. Das Etwas war real und fühlte sich wie die Kraft an, die Haare in elektrischen Feldern aufstellt. Es war aber viel stärker und stand in merkwürdigem Zusammenhang mit ihm selbst, denn keiner seiner Freunde hatte ihm sein Kunststück bisher nachmachen können.

Während Paul den Fuß weiter absenkte, entwickelte sich ein Schuhabdruck im Wasser, eine ebene Fläche, in der die kleinen Wellen und Strömungsmuster der Umgebung fehlten. Der Abdruck wölbte sich der Sohle entgegen, energiegeladen und kraftvoll wie ein Bizeps, der sich anspannt und bereit macht, im nächsten Moment sein Gewicht aufzunehmen. Die Vorstellung, dass er diesen Effekt vielleicht als erster Mensch erlebt, berauschte ihn immer wieder aufs Neue. Wenn andere schon auf dem Wasser gelaufen waren, hatten sie jedenfalls nicht darüber gesprochen und Paul wusste, warum sie geschwiegen hatten. Es gab ein Problem, das ihn schon mehrmals in Schwierigkeiten gebracht hatte. Obwohl er vorsichtig war und sein Möglichstes tat, um das Problem zu vermeiden, sollte es ihm in dieser Nacht erneut begegnen.

Bei seinem ersten Spaziergang auf dem Wasser, der schon einige Jahre zurücklag, hatte Paul neue Schuhe getragen und sich dann eine Weile an die Vorstellung geklammert, dass eine besondere Technik in den Sohlen die Verfestigung des Wassers bewirkt hatte. Die neue Erfahrung schien ihm damals so unwirklich und beängstigend, dass er nur einen Gedanken zugelassen hatte: es müssen die Schuhe sein! In jenen Tagen hatte er Jugendliche beobachtet, die in motorisierten Schuhen mit unsichtbar eingebauten, kleinen Rädern durch die Fußgängerzonen rollten. Paul hatte einen Trend daraus abgeleitet, Schuhe mit komplexer Technik auszustatten und das Problem fehlender physikalischer Gesetzmäßigkeiten, die eine ausreichende Wasserverfestigung ermöglichen könnten, ignoriert. Er hatte angenommen, dass ihm eine großartige Entdeckung entgangen sein musste, was plausibel erschien, da er sich oft wochenlang nicht für die Schlagzeilen der Medien interessierte. Erst als er auch mit den ältesten Schuhen und sogar barfuß über das Wasser gelaufen war, hatte er endgültig verstanden, dass seine alte Welt zusammengebrochen war und ein neues, unbekanntes Land vor ihm lag.

Der Schuh berührte das Wasser, sank mit der Sohle etwas ein und erreichte festen Grund, wohl einen halben Meter über dem Flussbett und allem, das ihn aufgrund der bekannten physikalischen Gesetze tragen durfte. Paul zog das andere Bein nach und stand nun vor dem Uferstein auf dem Rhein, der sich als weite, schwarze Ebene vor ihm ausbreitete. Er prüfte die Belastbarkeit des Wassers, indem er mit zunehmender Kraft auf der Stelle trat. Rinnsale tropften unter den Sohlen herab und er atmete eine schwere, mit den vielfältigen Aromen des Flusses beladene Luft. Es roch nach allem, das der Rhein an lebendigen und toten Dingen mitführte, vermischt mit dem würzigen Duft der Algen auf den Steinen und einem fauligen Gestank, der aus den Spalten der Uferbefestigung aufstieg. Die merkwürdige Mixtur war der Körpergeruch eines Ungeheuers, dem man eigentlich aus dem Weg gehen sollte, besonders zu dieser späten Stunde in der Nacht.

Große Strudel durchbrachen an wechselnden, unvorhersehbaren Orten die Wasserfläche, teils gefährlich nahe an der Route, die Paul sich für die Flussüberquerung ausgesucht hatte. Ihr kehliges Gurgeln und gieriges Schmatzen hatte ihn bei seinen Spaziergängen auf der Rheinpromenade stets begleitet und Paul erinnerte sich, wie froh er dann immer gewesen war, auf festem Grund zu stehen. Nun fehlte der sichere Abstand, und wenn die Strudel schmatzten, fühlte er das Wasser unter den Füßen vibrieren. Der Wind war bereits über dem ufernahen Wasser viel stärker als an Land und in der Flussmitte bestand die Gefahr, von Böen umgeworfen zu werden, die dort kilometerweit Anlauf nahmen.

Paul fixierte ein Hotel mit auffälligen Leuchtbuchstaben am gegenüberliegenden Ufer, das er seinen "Nordstern" nannte, weil es ihm auf dem weglosen Wasser als Orientierung und Zielmarke diente. Neben dem Hotel führte eine Straße direkt in die Rüdesheimer Innenstadt zu seiner Wohnung. Er hatte sich heute mit Freunden in Bingen getroffen und die letzte Fähre verpasst. Die Freunde wollten ihn nach Hause fahren, aber Paul hatte abgelehnt, weil er ihnen den weiten Umweg über Mainz und Wiesbaden ersparen wollte, wo es erst in über 20 Kilometern Entfernung die nächste Brücke gab.

Es war nun an der Zeit, zu gehen. Paul begann die Überquerung mit vorsichtig tastenden Schritten, zunächst noch aufmerksam und bereit, abzubrechen und umzukehren, falls etwas Unerwartetes geschehen sollte. Dann entspannte er sich und lief in ruhigem Spaziertempo weiter, bis er, schon in einiger Entfernung vom Ufer, ein rheinaufwärts fahrendes Binnenschiff bemerkte. Eigentlich hatte man den Lärm der gegen die starke Strömung kämpfenden Motoren schon lange hören können, aber Paul wurde erst aufmerksam, als die Buglichter direkt vor ihm in der Fahrrinne erschienen. Für ihn, der sein ganzes Leben am Rhein verbracht hatte, war das dumpfe Wummern und Tuckern der Schiffe ein Hintergrundgeräusch, das er kaum beachtete. Er schlief sogar bei geöffnetem Fenster, weil das nächtliche Konzert der Schiffsmotoren und Güterzüge beruhigend auf ihn wirkte und beim Einschlafen half.

Wenn er, was selten vorkam, das Rheintal verließ und in der Ferne bei Freunden oder in Hotelbetten übernachtete, lag er oft lange wach und lauschte in die Nächte hinein, die entweder beunruhigend still waren oder voller unbekannter Geräusche. Manchmal zwang ihn dann der Lärm naher Straßen, das Fenster zu schließen und rauschende Lüftungs- und Klimaanlagen, gluckernde Heizungsrohre oder quietschende Bettfedern verwandelten sein Zimmer in eine lärmende Folterkammer. Nach seiner Heimkehr öffnete er stets feierlich die Fenster, lauschte den Schiffen und Zügen mit besonderem Genuss und versuchte, das Wohlgefühl zu verlängern und noch etwas wach zu bleiben, bis ihn das geliebte Wiegenlied der Waggons und Motoren mit einer Macht, gegen die nicht anzukommen war, in den Schlaf riss.

Das Schiff glitt scheinbar führerlos durch die Nacht. Hinter den von Monitoren und Steuerungsinstrumenten schwach erleuchteten Fenstern der Brücke war niemand zu sehen. Paul wurde unruhig. Wo war der Kapitän? Lief er im Dunkeln über sein Schiff, um die Ladung zu überprüfen, oder um sich in der Nachtluft zu erfrischen und zu verhindern, dass er bei der eintönigen Arbeit einschlafen würde? Wenn dies zuträfe, würde es für Paul gefährlich werden. Sobald sich ein Blick auf ihn richtete, war die Energie und innere Spannung, die ihm das sichere Stehen auf dem Fluss ermöglichte, wie ausgeknipst und er versank im Wasser wie jeder andere. Dies war Pauls Problem mit dem Wasserlaufen. Ein Problem, das, wie Paul fand, die Frage aufwarf, wer um alles in der Welt sich solche idiotischen Probleme ausdachte? Wie konnte es sein, dass er eine einzigartige Fähigkeit besaß, aus der sich etwas machen ließe, auch finanziell, die er aber niemandem vorführen und über die er noch nicht einmal sprechen durfte, um nicht für verrückt gehalten zu werden?

Paul stellte sich oft vor, was er tun würde, wenn es dieses Problem nicht gäbe. Er hatte das Physikstudium vor vielen Jahren abgebrochen und verdiente seinen Lebensunterhalt seither bei einem Paketdienst. Diesen Job würde er sofort kündigen, in öffentlichen Vorführungen auf dem Wasser laufen und sich das gut bezahlen lassen. Vielleicht würde es dann genügen, einmal im Monat zu arbeiten. Als Paketbote arbeitete er jeden Tag und verdiente so wenig, dass es kaum für den Lebensunterhalt reichte. Er wusste längst, dass der Abbruch des Studiums der größte Fehler war, den er je gemacht hatte.

Manchmal träumte er während des Paketaustragens von einer Wiederaufnahme des Studiums, wusste aber, dass die Voraussetzungen dafür anderthalb Jahrzehnte später nicht besser geworden waren. Die jahrelange, monotone Tätigkeit hatte ihre Spuren hinterlassen. Paul hätte das vielleicht mit besonderen Durchhaltevermögen und Engagement wettmachen können, aber genau diese Eigenschaften hatten ihm schon damals gefehlt und zum Abbruch geführt. Immerhin gab es jemanden, mit dem er regelmäßig physikalische Themen diskutieren konnte: Tom, seinen besten Freund. Der kam ebenfalls aus Rüdesheim und wohnte in Bingen, wo Paul ihn heute besucht hatte. Sie kannten sich seit der Schulzeit und hatten zusammen Physik studiert.

Tom war Physikprofessor an der Universität Mainz geworden, bildete sich aber nichts darauf ein. Dass Paul nur Paketbote war, interessierte ihn nicht. Er vergaß es sogar manchmal und fragte Paul dann, womit er eigentlich sein Geld verdient. An diesem Nachmittag waren sie in Bingen am Rheinufer spazieren gegangen und hatten, wie immer in letzter Zeit, über das Wasserlaufen gesprochen. Tom interessierte sich sehr für Pauls Fähigkeit. Er hatte keine Erklärung dafür, war aber überzeugt, dass ein neues Naturgesetz dahinter stecken müsse, das er unbedingt selbst entdecken wollte. Darum hielt er das Projekt geheim und hatte auch Paul zur Verschwiegenheit verpflichtet. Während ihres Spaziergangs hatten sie Freunde getroffen und waren gemeinsam in ein Lokal gegangen. Tom hatte Paul dann noch spät in der Nacht an das Rheinufer begleitet und auf dem Weg dorthin darüber geschimpft, dass es keine Brücke gab und Paul sich dem Risiko eines Fußmarschs über den Rhein aussetzen musste. In einer Zeit, in der Autos, Flugzeuge und Mondraketen riesige Distanzen zusammenschrumpfen lassen, sei nicht akzeptabel, dass wenige hundert Meter Fluss ein Land völlig auseinanderreißen, nur weil sich niemand die Mühe macht, eine Brücke zu bauen.

Tatsächlich waren viele Rüdesheimer nur selten am anderen Ufer und kannten dort niemanden. Den Bingern ging es ebenso, und wenn man mit der Fähre übersetzte, hatte man das Gefühl, hunderte Kilometer in ein fremdes Land gefahren zu sein. Das Erscheinungsbild der Städtchen, die sich wie siamesische Zwillinge an ihre gemeinsame Lebensader schmiegten und in Luftbildern eine selbstverständliche Einheit bildeten, war völlig unterschiedlich. Ein auffälliger roter Sandstein, der die Hausfassaden in Bingen verkleidete und in Rüdesheim nicht vorkam, dokumentierte zusammen mit vielen anderen Details eine jahrtausendelange, unabhängige Entwicklung. Obwohl ein erleichterter Zugang zur jeweils anderen Seite für alle Menschen der Region ein Gewinn gewesen wäre, behielten die Brückengegner in den Stadtparlamenten die Oberhand. Eine Brücke sei zu teuer, meinten sie, nistende Vögel und andere Kleintiere würden durch die Bauarbeiten gestört, und außerdem gäbe es eine schützenswerte "Fährkultur". Paul und Tom fanden das lächerlich.

"Wir müssen es schaffen, den Leuten das Wasserlaufen beizubringen", hatte Tom heute gesagt. "Natürlich so, dass jeder dabei zuschauen kann. Da werden die Kapitäne blöd gucken, wenn die Leute neben ihren Fähren über den Fluss gehen!"

Während sich das Binnenschiff quälend langsam an Paul vorbeischob, hockte er zusammengekauert auf dem Wasser, um nicht gesehen zu werden. Auch als der Weg nach Rüdesheim wieder frei war, verharrte er noch länger in der unbequemen Haltung. Solange das Schiff in Sichtweite war, bedeutete es eine Gefahr für ihn. Vielleicht hatte der Kapitän ein Problem mit dem Antrieb bemerkt und stand am Heck? Ein einziger, zufälliger Blick in Pauls Richtung würde genügen, um ihn weitab vom Ufer ins Wasser zu stürzen. Erst als die Hecklichter allmählich in der Ferne verschwanden, richtete er sich auf, dehnte die verkrampften Muskeln und plante den verbleibenden Weg über den Rhein, indem er sich eine gerade Linie zu seinem "Nordstern" auf der Rüdesheimer Promenade vorstellte.

Um sicher stehen können, musste Paul die verebbenden Heckwellen des Schiffs und die Dünung des Rheins ausbalancieren, die sich gegenseitig durchkreuzten. Er musste in ständiger Bewegung bleiben, im Takt der Wellen in die Knie gehen und den Körper gegen ihre Schräglage neigen. Bei seinen ersten Spaziergängen auf dem Wasser hatte er mit den Armen gerudert und nach unerwarteten Wellenschlägen oft das Gleichgewicht verloren. Manchmal war er schmerzhaft auf den harten Fluss gestürzt und hatte sich dieselben blauen Flecken zugezogen, die in ähnlicher Lage an Land entstanden wären.

Paul hatte inzwischen gelernt, damit umzugehen. Er bewegte sich routiniert auf dem schwankenden Grund und war überzeugt, dass sein "Wellensurfing" wie eine neue, coole Sportart aussehen musste, dem Windsurfen vergleichbar, das Klassenkameraden begonnen hatten, als er noch zur Schule ging. Paul hatte damals nicht gewagt, mitzumachen und stattdessen neidisch registriert, dass die hübschesten Mädels vom Ufer aus zusahen. Nun konnte er selbst etwas wirklich Einzigartiges, das aber nur allein im Dunkeln funktionierte. Es schien sein Schicksal zu sein, nie als strahlender Held im Mittelpunkt zu stehen.

Er lief weiter und passierte eine Boje, die den Beginn der Fahrrinne mit ihrem tiefen, eisigen Wasser markierte. Hier musste er mit Baumstämmen, Fässern und anderen großen Gegenständen rechnen, die sich, von der starken Strömung angetrieben, in Rammböcke verwandelten. In der Dunkelheit sah man die Gefahr oft erst im letzten Augenblick. Paul beobachtete die Wasseroberfläche genau und überquerte die Fahrrinne mit raschen Schritten. Er dachte an Ewa, seine Freundin, die in der gemeinsamen Rüdesheimer Wohnung längst schlafen würde. Sie hatten abends noch telefoniert und über ein teures Smartphone gesprochen, das Ewa ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. "Lauf mir damit nicht auf das Wasser", hatte Ewa gesagt und Paul hatte versprochen, dass er die letzte Fähre nehmen würde.

Jetzt hatte er ein schlechtes Gewissen und spürte das Gerät bei jedem Schritt in der Hosentasche. An einer weiteren Boje, die das Ende der Fahrrinne auf der Rüdesheimer Seite markierte, hielt Paul kurz an, um ein weiteres, kleines Ritual zu vollziehen. Er zog einen Filzstift aus der Tasche und dokumentierte die erfolgreiche Überquerung des Rheins mit einem Strich auf dem kühlen Metall, was nicht einfach war, weil sich die Boje hin und her warf und wie ein Stier mit ihrer Kette und den Wellen kämpfte. Die lange Strichliste war inzwischen auch auf größere Entfernung zu sehen und Paul erwartete, dass die für die Wartung zuständigen Arbeiter des Schifffahrtsamts sie irgendwann übermalen würden. Sie würden sich die Liste wahrscheinlich damit erklären, dass einer der zahlreichen Sportruderer die Angewohnheit hatte, seine Fahrten auf der Boje zu zählen. Vielleicht würde die Wasserpolizei gelegentlich auf der Lauer liegen, um ihn zu erwischen und mit einem Bußgeld zu belegen.

Paul näherte sich nun dem Ufer. Zu dieser späten Nachtzeit war es hier menschenleer und nur die Touristen der rheinaufwärts ankernden Flusskreuzfahrtschiffe bedeuteten eine gewisse Gefahr. Sie blieben oft nur einen Tag und verbrachten den einzigen Abend vorzugsweise in Rüdesheims Innenstadt. Dort warben viele Lokale mit ihren Weinen und aufwendigen Begleitprogrammen um die Gäste aus aller Welt. Der Rücktransfer zu den Schiffen war gut organisiert und auch für jene, die ihre Shuttlebusse verpassten, standen ausreichend Taxen bereit. Dennoch konnte es vorkommen, dass einzelne Touristen alle Fahrgelegenheiten verpassten und bis zum Morgengrauen am Rheinufer ihre Schiffe suchten. Diese Nachzügler waren meist stark angetrunken, mit sich selbst beschäftigt und sehr laut. Paul war zuversichtlich, dass er sie rechtzeitig bemerken würde.

Die Uferbefestigung bestand wieder aus aufgeschütteten Felsen, die zahlreichen Wasservögeln als Nachtquartier dienten. Tagsüber kamen Familien mit Kindern hierher, um die Tiere zu füttern. Manchmal konkurrierten die Kinder mit älteren Menschen, die den Ort als Müllkippe für Küchenabfälle nutzten und riesige Tüten mit Brotresten und anderen Leckerbissen ausschütteten. Sie hielten sich nie lange auf und hinterließen oft weinende Kinder, die nicht verstehen konnten, dass sich kein Vogel mehr für ihre Krümel interessierte. Als Paul darüber nachdachte, dass noch viel Essbares zwischen den Steinen liegen musste und die Vögel jederzeit Gelegenheit zu einem Nachtimbiss hatten, bekam er wieder Hunger und freute sich darauf, in wenigen Minuten zuhause die Kühlschranktür zu öffnen. Ewa hatte am Telefon gesagt, dass sie sich ein leckeres Essen gekocht hatte. Vielleicht war etwas übrig geblieben.

In der Vogelkolonie gab es Wachtposten, die das Ufer hinauf spähten. Paul wusste aus Erfahrung, dass sie nicht mit einem Angriff von der Wasserseite rechneten. Als sie ihn endlich bemerkten, war er nur noch wenige Schritte entfernt und die Vögel reagierten mit besonderer Empörung. Alles geriet in Bewegung und Paul sah zahlreiche Schatten verschiedenster Form und Größe, die schlaftrunken und schimpfend durcheinander stolperten. Er musste jetzt die besonders angriffslustigen Schwäne im Blick behalten. Von der Schönheit und Eleganz, die sie tagsüber von den Enten und Gänsen unterschied, hatte die Nacht nichts übrig gelassen. Paul erkannte sie an ihren größeren Schatten und vor allem an dem respektvollen Abstand, den die anderen Vögel einhielten, um nicht gebissen zu werden.

Er hasste Schwäne. Sie hatten ihn übel zugerichtet, als er zum ersten Mal nachts das Ufer betreten und geglaubt hatte, man könne, vom Wasser kommend, einfach zwischen den Vögeln hindurch spazieren. Paul entschied sich für einen Weg abseits der Schwäne und konzentrierte sich nun auf die letzten Schritte über das Wasser. Der Rhein war wegen der Kreuzfahrtschiffe bis in Ufernähe tief ausgebaggert. Er betrat eine Zone aufgewühlten Wassers voller Gischt und Wellen, in der die starke Strömung auf die Uferbefestigung traf. Wieder gab es viele Strudel, deren Saugen und Schmatzen in absurdem Konzert mit dem Geschrei der Vögel und dem Rauschen des Wassers wetteiferte.

Paul musste aufpassen, um nicht in die teils riesigen Strudellöcher zu treten. Die letzten Meter über das Wasser erinnerten ihn an eine von Kaninchen und anderen Wühltieren durchlöcherte Wiese, auf der er mit Kollegen vom Paketdienst früher Fußball gespielt hatte. Diese Stolperfallen hatten Sehnenrisse und sogar Knochenbrüche verursacht, so dass Pauls Chef sich wegen der wochenlangen Krankenhausaufenthalte furchtbar aufgeregt und ihm und den Kollegen das Fußballspielen verboten hatte. Das durfte er zwar nicht, weil sie in ihrer Freizeit gespielt hatten, sie hatten aber trotzdem damit aufgehört und Paul hatte seit jener Zeit großen Respekt vor Löchern im Boden. Die verdrehten Füße und Beine der Mitspieler hatte er noch in ebenso deutlicher Erinnerung wie das rasche Anschwellen der Gliedmaßen und die gellenden Schreie von Kollegen, die er als nicht wehleidig eingeschätzt hatte.

Paul musste auch auf kleine, leicht rotierende Schaumkronen achten, die völlig harmlos aussahen, aber ziemlich instabil waren und manchmal Abgründe verbargen, die alle an der Wasseroberfläche sichtbaren Strudel übertrafen. Er war einige Male bis zur Hüfte darin versunken und hatte eine Weile gebraucht, bis er verstanden hatte, dass er nicht auf den Schaum treten durfte. Inzwischen war dies zur Routine geworden und er bewegte sich zügig und geschickt durch die aufgewühlte Uferzone, bis er schließlich einen Felsen erreichte, der wie eine bequeme Treppenstufe aus dem Wasser ragte.

Vor dem letzten Schritt folgte er nun einer weiteren Gewohnheit, mit der er sich vom Fluss verabschiedete. Er blieb stehen, schaute auf das schwankende Wasser unter seinen Füßen und flüsterte jenen Mächten, die ihm den Sieg über die Naturgesetze und einen bequemen Heimweg ermöglicht hatten, ein leises "Danke" zu. Es war ihm immer selbstverständlich erschienen, dass er sich den kleinen Abschiedsgruß hier, in unmittelbarer Ufernähe, erlauben durfte. Im Notfall würde den Grund erreichen, höchstens bis zu den Knien einsinken und sich mit einem einzigen Schritt retten können.

Heute musste Paul erfahren, dass er mit dieser Einschätzung falsch lag. Das Wasser verwandelte sich und wurde wieder zu jenem haltlosen Element, das alle anderen Menschen auch kennen. Die innere Anspannung und Energie verschwand so rasch, wie sie gekommen war. Der Notfall trat ein und Pauls Rettungsplan scheiterte an seiner Müdigkeit und langsamen Reaktion. Er fand keinen Halt, versank und wurde fortgespült. Statt zu kämpfen, ließ er sich treiben und versuchte, einen menschlichen Schatten zwischen den Umrissen der Büsche und Bäume am Ufer zu erkennen. Wer versteckte sich dort und schaute mitten in der Nacht auf den Rhein? Warum hatten die Vögel nicht reagiert?

Das eiskalte Wasser beendete sein sinnloses Grübeln. Die vollgesogene Kleidung zog ihn hinab und erste Schwimmzüge in Richtung Ufer bewirkten nichts. Bald konzentrierte er sich nur noch darauf, den Kopf über Wasser zu halten. Die Strudel saugten und schmatzten aus wechselnden Richtungen, viel lauter als zuvor und mit unverhohlener Gier. Aus leicht zu umgehenden Stolperfallen waren lärmende Ungeheuer geworden und Paul wusste, dass dies erst der Anfang war. Die Strömung würde ihn ins "Binger Loch" tragen, jene Engstelle des Rheins, wo die großen Brüder und Schwestern dieser kleinen Bestien auf ihn warteten.

Kein Stein

Pauls erster Spaziergang auf dem Wasser endete viele Jahren zuvor ebenfalls im Rhein, allerdings unter günstigeren Umständen, denn es geschah nachmittags vor der belebten Promenade. Er wurde nicht weit abgetrieben, erwischte das Sicherungsseil eines Schiffsanlegers und hangelte sich zum Ufer, wo bereits eine helfende Hand wartete. Tom hatte ihn an jenem Tag besucht und Paul sah in der Erinnerung immer eine Szene kurz nach dem Ablegen der Fähre, die Tom zurück nach Bingen brachte. Die Szene zeigte in einer Art Zeitlupe, wie sich die Fähre entfernte, während Tom ausdauernd winkte und Paul dabei so intensiv in die Augen schaute, dass es ihm selbst als Vorstellung richtig peinlich war.

Tom war leidenschaftlich, wenn es um seinen Beruf ging, im Alltag aber sehr nüchtern. Paul war sicher, dass er, wie sonst auch, einfach auf die Fähre gegangen und zwischen den Autos verschwunden war. Vielleicht hatte er sich kurz umgedreht und Paul zugenickt, vielleicht einmal kurz und lässig die Hand gehoben. Warum hätte er minutenlang winken sollen, als stünde er auf einem Kreuzfahrtschiff und nicht auf einer rostigen alten Fähre, und als ginge es über den Ozean und nicht über den Rhein? Warum erinnerte Paul sich klar und deutlich an etwas, das nicht stimmen konnte?

Tom stand in jener Szene ganz außen auf der schwankenden Kante des Auslegers, der am Ufer für die Autos abgesenkt wird. Er konnte sich dort nicht festhalten und hätte leicht in den Fluss fallen können. Der Ausleger war mit einer Schranke gesichert und Paul wusste, dass Tom Absperrungen dieser Art beachtete und nicht überklettern würde, um jemandem zuzuwinken. Als sich die Fähre schon mitten auf dem Fluss befand, meinte Paul, Toms Gesicht immer noch groß und deutlich sehen zu können.

Das musste eine weitere Zutat der Fantasie sein, denn Paul war so kurzsichtig und die Welt hinter seiner Brille so klein, dass er schon auf viel kürzere Entfernung nicht mehr viel sah. Wenn er spazieren ging, musste er oft raten, wer die entgegenkommenden Schatten sein mochten. Um weder unhöflich noch aufdringlich zu sein, hatte er sich angewöhnt, immer freundlich und unverbindlich nach vorn zu schauen, bis er zwischen Bekannten und Fremden unterscheiden konnte. Toms Gesicht drückte etwas aus, das Paul in seinem Leben als Paketbote nie begegnete: Hochachtung und ehrfürchtigen Respekt vor einer einzigartigen Leistung.

Worum es sich dabei handeln könnte, war offensichtlich, denn Paul stand kurz nach jenem Abschied an der Fähre zum ersten Mal auf dem Wasser. Sein Verstand schien mit diesem unsinnig erscheinenden Ereignis Probleme zu haben und genau dies schien die Erklärung für die falsche Erinnerung zu sein. Paul stellte sich vor, dass die Ungeheuerlichkeit unverdaut in seinem Bewusstsein herumlag, ein Fremdkörper, mit dem sich der Verstand nicht beschäftigen mochte und dessen unverarbeitete Schwere auch die anderen Erinnerungen veränderte und verzerrte. Warum sollte so etwas nicht möglich sein in einer Welt, in der Sterne und Schwarze Löcher den Raum krümmen?

Paul, der sich trotz abgebrochenen Studiums als Physiker sah, fand die Idee plausibel. Er hatte sie Tom vorgetragen, der ihn mit großen Augen angesehen und eine Weile nichts gesagt hatte, so dass Paul schon ganz schwindlig geworden war. Hatte er wirklich etwas entdeckt, dass sich mit Einsteins gekrümmten Räumen messen konnte? Dann war der Traum zerplatzt und Tom hatte Pauls Idee mit wenigen Worten abgetan.

In einem Ton, den er immer anschlug, wenn man seine Zeit mit besonders abwegigen Dingen verschwendete, erklärte er, Pauls falsche Erinnerung ergebe sich einfach daraus, dass er sehr oft an diesen Tag gedacht habe. Die ständige Wiederholung habe die kleine Abschiedsszene an der Fähre so dramatisch zugespitzt. Es sei eben nicht der kleine, alltägliche Abschied von einem Freund gewesen, sondern etwas viel Größeres und Bedeutenderes: der Abschied von seinem früheren Leben. Paul wusste, dass Tom recht hatte, wollte die Theorie der verzerrten Erinnerungen aber nicht aufgeben und vor allem nicht akzeptieren, dass Tom von "völlig unbegründetem Unsinn" sprach. Wo stand geschrieben, dass nur Professoren gute Ideen haben? Und wurde nicht selbst Einstein wegen seiner gekrümmten Räume ausgelacht?

Nach dem Abschied an der Fähre wollte Paul in die Stadt zurückkehren und folgte dem Uferweg, der in der Nähe des Anlegers von eine größeren Menschenmenge blockiert wurde. Ein Artist, den er über die vielen Köpfe hinweg nicht sehen konnte, jonglierte mit Feuerringen. Paul hätte sich durchzwängen können, entschied aber, einen kurzen Umweg über die Felsen der Uferbefestigung zu nehmen. Um dorthin zu gelangen, musste er eine gemauerte, steile Wand überwinden. Er war als Kind oft hier gewesen und konnte sich auf dieser Schrägmauer immer noch schneller und sicherer bewegen als die Touristen, die man dort manchmal ungelenk balancieren sah. Unten angekommen, stellte er sich unmittelbar an der Wasserlinie auf einen großen Stein und beobachtete, wie sich Toms Fähre dem gegenüberliegenden Ufer näherte.

Hinter ihm absolvierte der Artist einen Höhepunkt seines Programms, den das Publikum mit vielstimmigem "Oooooohhhh…" und anschließendem Beifall quittierte. Danach wurde es laut und die Menschen redeten in vielen Sprachen durcheinander. Paul achtete nicht darauf. Eine internationale, mit dem alten Städtchen merkwürdig kontrastierende Atmosphäre war für Rüdesheim ebenso typisch wie die Schiffsmotoren und Güterzüge. Es gab asiatische und amerikanische Reisegruppen, die Europa in einer Woche besichtigten und Paul war immer stolz auf seine Heimatstadt, wenn er in ihren Reiseprogrammen las: Paris, London, Rüdesheim. Er hatte nicht in der Schule, sondern auf den Rheinwiesen vor den Schiffsanlegern richtig Englisch gelernt, beim Fußballspielen mit Kindern aus aller Welt. Auch seinen ersten Kuss hatte er hier bekommen, von einem koreanischen Mädchen, das kaum Englisch sprach, was sich als vorteilhaft erwies, weil Paul, statt zu sprechen, ihre schönen Augen sah und seine Schüchternheit überwinden konnte.

Die Fähre legte in Bingen an und Paul wusste, dass Tom nun mit dem Fahrrad nach Hause und von dort in sein Mainzer Universitätslabor fahren würde. In seinem Rucksack steckte eine Boulevardzeitung, ein Massenblatt mit vielen Bildern, das Tom wegen der Schlagzeile "Sensation in der Physik"an einem Rüdesheimer Kiosk aufgefallen war. Er hatte die Zeitung sofort gekauft und gleich auf dem Bürgersteig gelesen. Unmittelbar neben dem Physik-Bericht war ein riesiges Bild abgedruckt, das zu einem unseriösen Bericht über das Frankfurter Rotlichtviertel gehörte. Passanten, die sich an der Zeitung vorbei zwängten, mussten den Eindruck gewinnen, dass Tom die ganze Zeit auf das Bild starrte.

Tom hatte sich nicht daran gestört und folgende Meldung gelesen: "Wissenschaftler am Forschungszentrum CERN in Genf haben festgestellt, dass sich Neutrinos mit Überlichtgeschwindigkeit bewegen können, also mit einer Geschwindigkeit schneller als das Licht. Neutrinos sind elektrisch neutrale Elementarteilchen mit sehr kleiner Masse. Auf einer Pressekonferenz wurde mitgeteilt, dass die Neutrinos die Lichtgeschwindigkeit um bis zu 0,01 % übertroffen haben. Das Ergebnis ist eine Sensation und könnte einige Grundpfeiler der modernen Physik ins Wanken bringen, auch die Relativitätstheorie des berühmtesten deutschen Physikers, Albert Einstein."

Als eine ältere Dame bei dem Versuch, Tom zu umgehen, fast gestolpert wäre, hatte Paul ihn zur Seite geschoben, die Zeitung genommen und selbst gelesen.

"So etwas nimmst du ernst?" hatte er geschimpft. "0,01 Prozent? Das sind doch nur lächerliche Messfehler!"

Toms Gesicht war kalkweiß und dicke Schweißtropfen kullerten über seine Stirn, während sein Mund Worte formte, die Paul nicht verstand. Dann griff er nach der Zeitung und stopfte sie in den Rucksack.

"Ich muss sofort ins Labor. Wann geht die nächste Fähre?"

Paul hatte sich auf den gemeinsamen Nachmittag gefreut und nicht begreifen können, dass Tom wegen einer Lappalie nach Hause fahren wollte.

"Hörst du mir eigentlich zu? Null-Komma-Null-Eins Prozent, lauter Nullen, ein Witz ohne jede Bedeutung! Nur dieses Gossenblatt macht daraus eine 'Sensation'!"

Tom hatte mit einer zutiefst erschütterten, weinerlichen Stimme geantwortet, die Paul nicht kannte.

"0,01 Prozent sind genau 0,01 Prozent zu viel. Die Naturgesetze stimmen exakt, da gibt es nicht mal eben 0,01 Prozent zu viel. Ein Naturgesetz, das nicht exakt stimmt, ist kein Naturgesetz."

Danach hatte er nichts mehr gesagt und war im Eilschritt zum Fähranleger gelaufen. Paul stand immer noch auf dem Uferstein und dachte über die merkwürdige Reaktion seines Freunds nach. Warum hatte Tom so dramatisch reagiert und fast geweint? Konnte eine so minimale Abweichung ein Naturgesetz, das unzählige Experimente schadlos überstanden hatte, wirklich ins Wanken bringen? Die Fähre war inzwischen wieder auf dem Rückweg und Paul entschied, dass es auch für ihn Zeit sei, nach Hause zu gehen.

Er balancierte über die Felsen und war sich seiner Sache so sicher, dass er gleichzeitig zum Publikum des Artisten hinauf schaute, um abzuschätzen, wann er auf den Uferweg zurückkehren könnte. Selbst dies tat er nur mit halber Aufmerksamkeit, weil ein Gedanke aus den Tiefen seines Bewusstseins aufstieg, der ihm besonders wichtig erschien, den er aber nicht mehr richtig fassen konnte, weil er stolperte und nun alle Aufmerksamkeit brauchte, um die Kontrolle zurückzugewinnen. Es war ein Stolpern jener unglücklichen Sorte, die zunächst harmlos und leicht steuerbar erscheint und sich dann rasch zu einem Irrsinn auswächst, bei dem alles passieren kann.

Albert, Pauls Lieblingskollege beim Paketdienst und ein guter Freund, war wenige Monaten zuvor auf diese Art gestolpert. Er hatte auf der Treppe die Beine über Kreuz bekommen und sich die Knochen in beiden Unterschenkeln gebrochen, also rechts und links jeweils zwei Knochen auf einmal. Albert war extrem übergewichtig. Er hatte einen riesigen Kopf ohne Hals, und Arme, die nicht herabhingen, sondern immer irgendwo auf Hüften oder Bauch herumlagen. Seine Beine waren unsichtbar, wenn man vor ihm stand und Paul verstand nicht, wie Albert eines dieser dicken Beine vor das andere stellen und sich Knochen brechen konnte, die von solchen Fettmassen geschützt wurden.

Albert war ein fröhlicher Mensch und hatte sich auch von der schweren Verletzung nicht die Laune verderben lassen. Schlechte Witze gab es für ihn nicht, er lachte bei jeder Gelegenheit und brauchte lange, bis er sich wieder beruhigte. Paul war der Ansicht, dass es in Alberts Gewichtsklasse zwei Charaktere gab: die schlecht Gelaunten, Depressiven, deren Gemüt von den Körpermassen erdrückt wird, und Alberts Sorte, die sogar noch beflügelt wird und ihre ausgelassene Heiterkeit kaum bändigen kann. Albert schien ständig herumhüpfen zu wollen vor Freude, sah alles positiv und war auch der Einzige gewesen, der Paul die Sache mit dem Wasserlaufen sofort geglaubt hatte.

"Paul, du läufst auf dem Wasser?" hatte er gesagt. "Das ist ja toll! Der Wahnsinn! Hat man sowas schon mal gesehen? Junge, da musst du was draus machen!"

Dabei konnte Albert seinen Freund beim Wasserlaufen ebenso wenig sehen wie alle anderen, weil Paul sofort versank, wenn sich ein Blick auf ihn richtete. Als Paul nach der Entdeckung seiner Fähigkeit eine schwere Zeit durchzustehen hatte, in der selbst Tom seine Wahrnehmungsfähigkeit und Geisteskraft bezweifelte, war Alberts Unterstützung sehr wichtig für ihn gewesen. Albert war nach seinem Treppensturz schon einige Monate krankgeschrieben und Paul hatte ihn vor ein paar Tagen zum ersten Mal wieder ohne Rollstuhl gesehen. Er ging auf Krücken, die wackligen Unterschenkel fest eingeschnürt in eine unübersichtliche Konstruktion aus Bändern und Stangen.

Paul empfand Mitleid mit dem Freund, aber auch Erstaunen darüber, dass so viel Unglück in einer einzigen, dummen Situation entstehen konnte. Wenn Albert davon erzählte, sah Paul ihn in jenem fatalen Moment mit verhakten Beinen auf der Treppe, das Paket noch in der Hand, das er gerade zustellen wollte, bevor er dann übermütig lachend langsam vornüber kippte. Selbst in dieser Situation konnte er sich Albert nur in bester Laune vorstellen.

Jetzt war er selbst in ähnlicher Lage. Die erste Phase des Stolperns, in der man noch mit den Armen rudert und meint, im nächsten Augenblick die Kontrolle zurück zu gewinnen, war beendet und Paul nun wie ein Achterbahnpassagier allem ausgeliefert, was kommen würde. Ein Stein, den er gerade mit einem raschen Ausfallschritt betreten hatte, neigte sich nach vorn und kippte zugleich in Richtung Fluss. Paul stürzte, schlug hart auf und spürte scharfkantige Felsen unter seinem Körper. Er empfand zunächst keinen Schmerz und war erleichtert, dass er nicht ins Wasser gefallen war. Eine erste Prüfung ergab keine Anzeichen einer ernsthafte Verletzung und es schien, dass er mit blauen Flecken davon kommen würde. Paul richtete sich auf und klopfte die mit gräulichem Staub bedeckte Kleidung aus. Dabei fiel ihm sein letzter Gedanke vor dem Sturz wieder ein.

"Was ist eigentlich ein Naturgesetz?" hatte er sich gefragt. Er hatte darüber nachdenken wollen, mit welchem Recht Tom und die anderen Wissenschaftler ihre Naturgesetze so ernst nehmen. Paul hatte Respekt vor Physikern wie Newton und Einstein und natürlich auch vor Tom und den anderen Professoren. Andererseits hatte er diejenigen, die sich mit Wissenschaft wichtig machten, nie ernst nehmen können. Im Studium war er regelmäßig mit provozierenden Zwischenfragen in den Vorlesungen aufgefallen, so dass Tom zeitweise nicht neben ihm sitzen wollte.

Die Lust am Widerspruch gehörte zu seinem Wesen und Tom hatte ihn gerade wieder mit seiner Aufregung über jene Null-Komma-Null-Eins Prozent gereizt. Warum sollten die Naturgesetze eine so kleine Abweichung nicht vertragen können? "Was ist eigentlich ein Naturgesetz?" fragte Paul sich nun nochmals und hoffte, dass er Argumente finden würde, die Toms festgefügtes Weltbild erschüttern konnten. Er klopfte die letzten Staubreste aus der Hose und warf einen raschen Blick auf die Schuhe, die ihm sauber genug erschienen. Alles schien in Ordnung zu sein.

Er richtete sich auf, um weiter zu gehen und schaute noch einmal auf die Schuhe. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sich nicht für seinen Standort interessiert. Er hatte festen Grund unter den Füßen gespürt und das hatte ihm genügt. Jetzt sah er einen Uferstein unter dem linken Schuh. Der rechte Schuh schien auf dem Wasser zu stehen. Paul überlegte einen Augenblick, dann musste er lachen. Er steigerte sich immer mehr hinein, schlug sich auf die Schenkel und lachte bald so ungehemmt wie Albert. Statt über eine Möglichkeit nachzudenken, wie er sich über Toms Naturgesetze lustig machen konnte, hätte er einfach nur nach unten schauen müssen!

Er betrachtete den Schuh, der scheinbar auf dem Wasser stand, von allen Seiten. Die optische Täuschung war perfekt. Der Stein, der sich dort unter der Wasseroberfläche befinden musste, war nicht zu erkennen. Er stellte sich vor, wie er Tom das nächste Mal hier ans Ufer führen und sich genauso hinstellen würde wie jetzt: einen Fuß auf den Uferstein über Wasser, den anderen auf den verborgenen Stein. Wenn er Tom damit auch nur kurz erschrecken könnte, wäre es die Sache wert. Es würde allerdings nur mit exakt gleichem Wasserstand funktionieren. Ein Zentimeter weniger würde den Uferstein unter dem Schuh erscheinen lassen, ein Zentimeter mehr würde ihn deutlich einsinken lassen.

Paul war klar, dass er nicht damit rechnen konnte, die heutigen, perfekten Bedingungen vorzufinden, wenn er sie brauchte. Der Pegel des Rheins schwankte stark und änderte sich oft innerhalb eines Tages um einen Meter oder mehr. Auch jedes vorbeifahrende Schiff hob und senkte die Wasserlinie. Paul entschied, die Szene irgendwann an einem Teichufer mit stabilerem Wasserstand nachzustellen.

Er machte sich auf den Heimweg und stellte sich dabei vor, wie Tom reagieren würde, wenn er vor ihm auf dem Wasser stehen und die Naturgesetze richtig gründlich aushebeln würde: nicht um Null-Komma-Null-Eins Prozent, sondern gleich um hundert Prozent! Diesmal balancierte er vorsichtig wie die Touristen, breitete die Arme aus und stieg langsam von Stein zu Stein. Als er die Menschenmenge mit dem Artisten passierte, hätte er zum Uferweg hinaufsteigen können, kehrte aber noch einmal zu jenem Ort zurück, an dem er auf dem Wasser gestanden hatte, um sich den verborgenen Stein genauer anzusehen.

Lange nach diesen Ereignissen hatte er sich oft gefragt, warum er das getan hatte. Die Sache war doch klar gewesen: es musste ein Stein unter der Wasseroberfläche liegen. Was hatte er davon, diesen Stein anzuschauen? Hatte er gespürt, dass etwas nicht stimmte? Soweit er sich erinnern konnte, hatte er keinen Verdacht gehabt. Er war den mühevollen Weg also zurück balanciert, ohne irgendetwas zu erwarten, einfach so und angesichts des gerade überstandenen Sturzes auch gegen jede Vernunft.

Eine banale, nicht nachvollziehbare Alltagsentscheidung hatte sein Leben verändert. Wäre er weitergelaufen, hätte er sein Leben als Paketbote mit gescheitertem Physikstudium weiter geführt. Weil er umgekehrt war, war alles ganz anders gekommen. Paul fand es unbegreiflich und irgendwie lächerlich, dass er nach dem Vorfall beinahe nach Hause gegangen wäre. Was war das für eine Welt, in der alles von solchen Banalitäten abhing? Wie viele Menschen hatten schon vor ihm auf dem Wasser gestanden, ohne es zu bemerken? Und wie viele hatten es bemerkt, aber niemanden gefunden, der ihnen glaubte, weil sie, wie Paul, immer gleich im Wasser versanken, wenn jemand zusah? Wie viele, die es bemerkt hatten, waren in psychiatrische Kliniken gesteckt worden? Wie viele Menschen in psychiatrischen Einrichtungen hatten nur das Problem, etwas erlebt zu haben, das man ihnen nicht glaubte? Paul war dankbar, dass Tom schließlich einen Weg gefunden hatte, mit dem sich das Wasserlaufen beweisen ließ. Die anderen vor ihm, wenn es sie gab, hatten vielleicht nur das Pech, nicht einen Freund zu haben wie Tom.

Paul erreichte den aus dem Fluss ragenden Felsen, auf dem er mit einem Fuß gestanden hatte. Nun suchte er den zweiten, unter der Wasseroberfläche verborgenen Stein, der unmittelbar daneben liegen musste. Der Himmel spiegelte sich im Wasser, so dass Paul nur an wenigen, ständig wechselnden Stellen kurz unter die Oberfläche schauen konnte. Er änderte mehrfach die Perspektive, konnte den verborgenen Stein aber nicht finden. Obwohl er genau dort sein musste, wo er hinsah, schien da nur Wasser zu sein, das noch dazu tiefer schien, als er angenommen hatte. Er prüfte noch einmal, ob er sich wirklich an der richtigen Stelle befand.

Ein feuchter Fußabdruck begann an seinem Standort und ließ sich auf den Ufersteinen bis zu jener Stelle verfolgen, an der er umgekehrt war. In etwa einer halben Körperlänge Entfernung sah er Blutspuren auf einem scharfkantigen Stein, genau dort also, wo er mit dem Arm aufschlagen würde, wenn er sich jetzt fallen ließe. Paul untersuchte die Arme und fand tatsächlich eine Wunde am Ellenbogen, die ihm bisher nicht aufgefallen war. Dies war also die richtige Position. Genau hier war er vorhin gestürzt, und genau hier musste es einen Stein unmittelbar unter der Wasseroberfläche geben. Warum konnte er ihn nicht sehen?

Paul sah sich den Schuh an, mit dem er auf dem verborgenen Stein gestanden hatte. Die Sohle war feucht, der Schuh aber bis auf ein paar Wasserspritzer trocken geblieben. Er war also nur wenige Millimeter eingesunken. Während er wieder versuchte, unter die Wasseroberfläche zu sehen, brach die Sonne hinter den Wolken hervor und traf die Wellenspitzen in ungünstigem Winkel. Grelle Lichter tanzten auf dem Wasser und Paul musste geblendet die Augen schließen. Als er wieder hinschaute, waren die Lichter immer noch da. Er verlor die Geduld, ging in die Knie und griff mit der Hand ins Wasser. Weil es am Vorhandensein des Steins keinen Zweifel geben konnte, verlagerte er das Gewicht auf die eintauchende Hand und wäre, als er ins Leere griff, fast in den Fluss gestürzt. Die Fingerspitzen der anderen Hand erreichten gerade noch einen Uferstein, der stabil genug war, um nicht gemeinsam mit ihm ins Wasser zu rollen. Dort, wo er eben noch gestanden hatte, gab es nur Wasser. Was bedeutete das?

Es schien keine vernünftige Erklärung dafür zu geben, und Paul erging es jetzt wie in schwierigen Klausuren im Studium. Damals wurde er oft von einer Gefühlsmischung aus Verwirrung, Panik und Verzweiflung überschwemmt und jeder Denkfähigkeit beraubt. Tom hatte in den Klausuren neben ihm gesessen und Paul erinnerte sich, wie Toms Kugelschreiber immer rasch und völlig unbeeindruckt über das Papier kratzte, was seine eigene Lage nicht besser machte. Wie damals wartete er nun ab, bis die Verwirrung nachließ und zwang sich dann zu ruhigem Nachdenken.

Was waren die Fakten? Wenn er auf dem Wasser gestanden hatte, ohne einzusinken, musste es dort vor wenigen Minuten einen Stein gegeben haben. Wenn dieser Stein nicht mehr da war, musste er in der Zwischenzeit den Standort verändert haben. Es war klar, dass der Flussgrund zur Fahrrinne hin abfallen würde, auch wenn Paul wegen der spiegelnden Wasseroberfläche nicht einschätzen konnte, wie stark das Gefälle wirklich war. Konnte es sein, dass er den Stein ins Rollen gebracht hatte, als er ans Ufer zurückgetreten war?

Während Paul nach Erklärungen suchte, streckte er den rechten Fuß aus. Er machte oft Bewegungen dieser Art, die keinen besonderen Zweck verfolgten und ein bisschen wie Gymnastik aussahen, wenn er sich unbeobachtet fühlte und über schwierige Probleme nachdachte. Seine Hoffnung war, dass die körperliche Aktivität den Geist wachrütteln und eine Lösung erzwingen würde, und er war überzeugt, dass er damit auch schon öfter Erfolg gehabt hatte. Sein Fuß schwebte über jener Stelle, an der sich der verborgene Stein befinden musste. Obwohl es vollkommen sinnlos schien, diesen Ort noch einmal zu betreten, senkte er den Fuß langsam ab.

Von diesem Moment an veränderte sich seine Erinnerung. Paul war nie betrunken gewesen, kannte aber die Berichte von einem "Filmriss" im Alkoholrausch und war der Ansicht, dass genau dies nun passiert war. Seine Erinnerung verlor den Zusammenhang und zerbrach in einzelne Bilder und Szenen. Die Bruchstücke waren merkwürdig lebendig, bedrängten ihn und hatten Mäuler, die kreischten und schrien: "Schau her! Schau verdammt noch mal her! Schau Dir das an!" Sie hatten Hände, die ihn packten und seinen Kopf gewaltsam auf diese Szene richteten: ein Mann läuft auf dem Wasser! Er selbst läuft auf dem Wasser! Die Gesichter der anderen Menschen, die er sah, waren unproportioniert, viel zu groß für ihre Körper und schienen sich zu nähern, vom Ufer aufs Wasser hinaus. Gesichter mit jenem Ausdruck grenzenlosen Erstaunens, den seine Erinnerung auch dem auf der Fähre stehenden Tom angedichtet hatte.

Die Sonnenstrahlen, die auf den Wellen unter seinen Füßen tanzten, wurden unerträglich hell. Die Sonne verließ ihren Platz am Himmel, den die Naturgesetze ihr zugewiesen hatten, um sich diesem Helden zu Füßen zu legen, der die Gesetze besiegt hatte. Das Rauschen des Flusses steigerte sich zu ohrenbetäubendem Krach. Das Wasser verwandelte sich in ein brüllendes Ungeheuer, eine archaische Bestie, einen vor Wut berstenden Dinosaurier, der nicht fassen konnte, dass dieser Wurm über seinen Rücken lief, ohne dass er etwas dagegen tun konnte.

In Pauls Erinnerung waren die Sinne überflutet vom gleißenden Licht der Sonne, dem Wutgeschrei des Wassers und jenen Riesengesichtern, die ihn umschwebten wie bunte Ballons auf einem Kindergeburtstag. All diese Zutaten befanden sich zu allem Überfluss noch in einer Drehbewegung, die es ihm unmöglich machte, sich auf Details zu konzentrieren. Wie in einem Karussell verschwand jedes Detail, das er genauer betrachten wollte, bald wieder aus dem Sichtfeld. Nur drei Szenen waren davon ausgenommen und erlaubten eine ungefähre Rekonstruktion des Geschehens.

Die erste Szene zeigte ihm, wie sich das Wasser zusammenballte und jenen Schuhabdruck formte. Er musste den Fuß längere Zeit knapp über den Fluss gehalten und dabei verständnislos auf das Wasser gestarrt haben, so dass dieses Bild Zeit hatte, sich in sein Gedächtnis zu graben und jenen Schleier, den der "Filmriss" über alles geworfen hatte, zu durchdringen. An die ersten Schritte auf dem Wasser konnte er sich nicht erinnern. Er musste den Fuß irgendwann weiter abgesenkt und festgestellt haben, dass er auf dem Wasser stehen kann. Dann war er auf den Fluss gelaufen, denn in der nächsten Szene sah er sich schon kurz vor der Boje, die den Beginn der Fahrrinne markierte. Von dort schaute er zu jener Menschenmenge, die sich immer noch um den Artisten scharte. Paul erinnerte sich, dass er alles versucht hatte, um auf sich aufmerksam zu machen.

"Seht her!" hatte er den Menschen am Ufer zugerufen. "Seht endlich her, ich stehe auf dem Wasser!"

Er war hin- und hergelaufen, hatte gewunken und immer wieder wie ein Schlittschuhläufer, der die Tragfähigkeit des Eises testen will, auf das Wasser getrampelt. Zu diesem Zeitpunkt konnte er noch nicht wissen, dass die Blicke der anderen eine Gefahr für ihn bedeuteten. Paul erinnerte sich an ein Gefühl tiefer Frustration, weil niemand reagierte. Die schwebenden Riesengesichter, die ihm seine Erinnerung zeigte, bedeuteten nichts. Es konnte ihn niemand gesehen haben, weil er sonst schon hier, am Ufer gegenüber der Menschenmenge, im Rhein versunken wäre. Der Artist musste Paul gerade in diesem Moment den Gefallen getan haben, einige außergewöhnliche Kunststücke zu zeigen, so dass seine Rufe im Klatschen und den Jubelrufen der Zuschauer untergingen. Dies war vor allem deshalb ein glücklicher Zufall, weil Paul in der dritten Szene, an die er sich erinnerte, seiner späteren Freundin Ewa begegnete.

Ewa saß an diesem Tag auf einer Bank am Uferweg, einige hundert Meter von jener Stelle entfernt, an der Paul den Rhein betreten hatte. Paul konnte kaum glauben, dass er tagsüber den Weg dorthin über das Wasser geschafft hatte, ohne dass ihn jemand sah, zumal er sich deutlich erinnerte, dass er weiterhin versucht hatte, die Menschen auf sich aufmerksam zu machen. Niemand hatte reagiert, und auch Ewa hatte lange Zeit nicht in seine Richtung geschaut, nachdem er bei ihrer Bank angekommen war. Sie trug ein schickes, blaues Kostüm und schaute rheinaufwärts zu einem Kreuzfahrtschiff, das gerade anlegte. Ewa arbeitete in einem Touristikbüro und wartete auf die Passagiere dieses Schiffs, die sie durch Rüdesheim führen sollte.

Paul schloss aus der Perspektive, in der er sie dort sitzen sah, dass er sich dem Ufer wieder genähert hatte, weil er offenbar hoffte, dass man seine Rufe dann besser hören würde. Auf der rechten Seite befestigten Matrosen des Kreuzfahrtschiffs die Leinen. Ewa stand auf, um zum Anleger zu gehen, über den die Passagiere das Schiff verlassen würden. Eigentlich hätte man erwarten können, dass sie ihre Aufmerksamkeit weiterhin auf das Schiff richten würde. Stattdessen schaute sie nach vorn, auf den Fluss hinaus und direkt in Pauls Gesicht, der sofort im Wasser versank. Es geschah so rasch und unvermittelt, dass Paul zunächst nichts begriff und Ewa, schon hilflos im Wasser treibend, immer noch mit jenem herausfordernden Blick ansah, auf den bis jetzt niemand reagiert hatte: "Schaut mal, was ich Tolles kann."

Wenn Zeit zum Nachdenken gewesen wäre, hätte Ewa sich vielleicht darüber gewundert und so etwas gedacht wie: "Männer … selbst wenn sie kaum den Kopf über Wasser halten können, schauen Sie uns an wie Bodybuilder, die mit geöltem Körper auf dem Wasser stehen." Es blieb aber keine Zeit. Eine Schockwelle eisiger Kälte jagte durch Pauls Körper und rüttelte ihn wach. Er begann, in Richtung Ufer zu schwimmen und trieb zugleich flussabwärts. Ewa lief auf gleicher Höhe mit und suchte nach Möglichkeiten, ihn aus dem Wasser zu ziehen. Am nächsten Anleger hing eines der Stahlseile, die die Konstruktion sicherten, etwas durch und verlief teils unter der Wasseroberfläche. Das war eine Chance.

"Halten Sie sich an dem Seil fest!" rief Ewa.

Paul packte es mit beiden Händen, musste aber, weil ihn die Strömung weiter voran trieb, großen Druck auf das Seil ausüben, das schließlich nach unten auswich. Er machte einen Purzelbaum unter der Wasseroberfläche, tauchte auf der anderen Seite des Seils wieder auf und begann, sich zum Ufer zu hangeln. Das Seil war einige Meter oberhalb an einem Stahlpoller befestigt und verlief immer höher über dem Fluss, so dass ihm das Wasser bald nur noch bis zu den Knien reichte. Paul war klar, dass er einen ziemlich lächerlichen Eindruck machte. Wasser strömte aus allen Öffnungen seiner Kleidung und es sah aus, als hätte jemand Wäsche in einem Bottich gewaschen und ohne Auswringen aufgehängt. Er warf Ewa einen kurzen Blick zu. Sie gefiel ihm und er fragte sich, warum er ihr in dieser Lage begegnen musste.

"Sie schaffen das!", rief Ewa ihm zu."Nur noch zwei Meter, dann kann ich Ihnen die Hand geben!"

Trotz des vielen Wassers, das herauslief, wurde Pauls Kleidung immer schwerer. Seine Griffabstände verkürzten sich und er spürte, wie sehr ihn das Schwimmen und der Kampf mit dem Seil erschöpft hatten. Der Schockzustand, in den ihn die Kälte und das unerwartet gewalttätige Flusswasser versetzt hatte, entkräftete ihn zusätzlich. In Rüdesheim erzählte man sich von Kanufahrern, die von der Strömung halb umgekippt gegen Bojen gedrückt wurden und ertranken. Paul hatte diese Berichte immer etwas merkwürdig gefunden, weil man von den Kräften, die da am Werk waren, wenig sehen konnte. Er hatte Respekt vor den Strudeln, hielt aber die angeblichen Vorfälle an den Bojen für Seemannsgarn der Rhein-Ruderer, mit dem sie Landratten erschrecken und sich wichtig machen konnten. Jetzt hatte ihn die Strömung zum ersten Mal gepackt. Er klammerte sich ängstlich an das Seil und konnte sich plötzlich sehr gut vorstellen, was an den Bojen geschehen war.

Unterbrochen von immer längeren Pausen, schob er die Hände weiter vor. Mit jeder Bewegung stöhnte er wie ein erschöpfter Tennisspieler beim Aufschlag. Ewa war auf den äußersten Uferstein balanciert, hielt sich am Seil fest und streckte Paul den freien Arm entgegen. Kurz vor der rettenden Hand hing er völlig erschöpft im Seil, unfähig, sich auch nur einen Zentimeter weiter zu bewegen. Es war abzusehen, dass er wieder in den Fluss fallen würde. Ewa streckte ihre Hand noch ein Stück weiter aus, was aber nicht reichte. Während sie ihm weiter Mut zusprach, verriet ihre immer hektischere Stimme, dass sie den Ernst der Lage erkannte.

"Erholen Sie sich ruhig einen Augenblick! Gleich haben Sie wieder etwas Kraft für das letzte Stück!"

Obwohl Paul wusste, das nichts mehr ging, schob er nochmals eine Hand etwas vor. Für einen Moment musste die andere Hand sein ganzes Gewicht tragen und war damit überfordert. Er fiel ins Wasser, hatte Glück und erreichte mit einem Bein den Grund. Mit dem anderen Bein machte er Schwimmbewegungen und arbeitete sich dann die Ufersteine hoch. Ewa half ihm auf und begleitete ihn zum Uferweg.

"Wo sind sie denn ins Wasser gefallen?", fragte sie. "Kommen sie von dem Schiff da drüben? Die Matrosen sind oft sehr nachlässig und lassen die Leute auf den Anleger, bevor alles richtig befestigt ist."

Paul schaute ihr zum ersten Mal direkt in die Augen. Warum fragte sie, wo er ins Wasser gefallen war? Müsste sie stattdessen nicht fragen, wie er es geschafft hatte, auf dem Wasser zu stehen? Paul erwartete großes Erstaunen und Neugier, fand in Ewas Gesicht aber nur jene Freude und Erleichterung, die ein Retter hat, der jemanden aus dem Wasser gezogen hat.

"Sie müssen mich doch gesehen haben?", fragte er. "Ich meine, sie müssen es doch gesehen haben?"

Ewa lächelte.

"Na klar, Sie Spaßvogel. Natürlich habe ich Sie gesehen, darum bin ich ja hier. Sie wollten mir übrigens erzählen, wo sie ins Wasser gefallen sind." "Ich habe auf dem Wasser gestanden, direkt vor Ihnen. Das müssen Sie doch gesehen haben?"

Ewa schüttelte den Kopf. Paul konnte damit nichts anfangen und redete einfach weiter. Er berichtete über seine Erlebnisse der letzten Minuten, ganz so, als bestünde Hoffnung, dass Ewa ihre Meinung über das, was sie gesehen hatte, noch ändern würde.

"Ich habe nur ganz kurz hier vor ihnen auf dem Wasser gestanden. Eigentlich komme ich von da drüben: sehen Sie den Artisten und die vielen Menschen? Genau da bin ich aufs Wasser, und dann bin ich zu der Bank gelaufen, auf der Sie gesessen haben. Das heißt, ich bin auf dem Fluß gelaufen, wissen Sie, also hier auf dem Rhein. Vielleicht 10, 20 Meter vom Ufer entfernt. Keine Ahnung, wie ich das gemacht hab. Es hat einfach funktioniert. Und vor Ihrer Bank habe ich dann eine ganze Weile auf dem Wasser gestanden, bevor ich hinein gefallen bin. Sie müssen mich doch gesehen haben?"

Pauls nasse Kleidung klebte merkwürdig schief an seinem Körper. Er stand in einer Wasserlache und an Nase, Ohren und Kinn bildeten sich ständig neue Tropfen. Sein Anblick passte zu der verrückten Geschichte, die er erzählte, aber Ewa ließ sich nicht täuschen. Ein kurzer Blick in seine Augen zeigte ihr, dass er ganz klar im Kopf war. Sie hatte in ihrem Beruf gelernt, Menschen rasch einzuschätzen. Täglich kamen hunderte Touristen aus aller Welt, die sie mit ihren Kolleginnen betreute. Es gehörte zu ihrem Alltag, viele Fragen in mehreren Sprachen gleichzeitig zu beantworten, dabei zu lächeln und den Eindruck zu vermitteln, ganz persönlich auf jeden Einzelnen einzugehen. Sie hatte im Lauf der Jahre mehr als einmal in die Augen von Menschen gesehen, die absurde Geschichten erzählten, so wie Paul es gerade getan hatte. Sie kannte den Blick derjenigen, die ein ernstes Problem hatten. Dieses Problem hatte Paul jedenfalls nicht, da war sie ganz sicher.

Selbstverständlich glaubte sie ihm nicht, dass er auf dem Wasser gelaufen war. Eigentlich wusste sie auch, dass sie dieses tropfnasse, Unsinn redende Bündel einem Rettungsdienst übergeben musste. Der Mann stand unter Schock und brauchte Hilfe. Obwohl Ewa dies dachte, tat sie nichts, während Paul sie immer noch anschaute und eine Antwort auf seine Frage erwartete. Dann war die Zeit überschritten, die man sich einfach so anschauen kann. Paul wandte sich ab und suchte mit unruhigem Blick den Uferweg ab, als hätte er dort etwas Wichtiges verloren. Ewa fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, hatte sich aber bald wieder unter Kontrolle. In ihrem Beruf konnte sie es sich nicht leisten, bei jeder Gelegenheit rot zu werden. Paul hätte nichts bemerkt, wenn er sie weiterhin angesehen hätte.

"Ich habe Sie nicht auf dem Wasser stehen sehen", sagte sie. "Sie brauchen einen heißen Tee und trockene Kleidung. Dann reden wir nochmal in Ruhe über das, was passiert ist."

Paul glaubte, Mitleid in ihrem Blick zu sehen. Mitleid, das über jenes Bedauern hinausging, das man jemandem entgegenbringt, dem ein unangenehmes, aber harmloses Malheur passiert ist. Wenn sie wirklich nicht gesehen hatte, wie er auf dem Wasser stand, musste sie ihn natürlich für vollkommen verrückt halten. Das war klar und er selbst würde an ihrer Stelle genauso denken. Ihm wurde bewusst, dass er immer noch triefnass vor dieser perfekt herausgeputzten, schönen Frau stand. Hundert Meter weiter löste sich die Menschenmenge um den Artisten auf und ein paar Touristen schauten schon herüber. Paul wollte jetzt nur noch möglichst rasch an einen möglichst weit entfernten Ort.

Er bedankte sich bei Ewa und lief auf die nächste Abzweigung des Uferwegs zu, die ihn nach Hause führen würde. Ewa begleitete ihn und erklärte in fürsorglichem Ton, was jetzt zu tun sei: ein heißes Bad sei das Wichtigste, ob er denn eine Badewanne habe, und auch bei einem Arzt müsse er noch vorbeischauen, und selbstverständlich würde sie erst einmal bei ihm bleiben und auf ihn aufpassen. Paul blieb stehen und sah sie ungeduldig an.

"Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, aber ich komme jetzt allein zurecht. Mir geht es gut. Vielen Dank für alles."

Ewa sagte nichts und blieb stehen, während Paul seinen Weg fortsetzte. Paul verspürte den Drang, sich umzudrehen und sicherzustellen, dass sie ihm wirklich nicht mehr folgte, verzichtete aber auf einen kontrollierenden Blick, weil er befürchtete, dass Ewa diese Geste falsch verstehen und wieder zu ihm aufschließen könnte. Als er sich der Rüdesheimer Innenstadt näherte, überlegte er, welchen Weg er einschlagen könnte, um möglichst wenig Menschen zu begegnen. Das Wasser in seinen Schuhen schmatzte bei jedem Schritt. Paul fühlte sich wie in einem jener Träume, die uns peinliche Alltagssituationen vorgaukeln. Manchmal träumte er, dass er beim Paketaustragen nur einen Schlafanzug oder eine Badehose trug. Warum war nicht auch dies nur ein Traum, den man abschütteln konnte, um dann im warmen Bett aufzuwachen?

Die ersten Passanten erschienen in der Ferne. Paul war klar, dass er sich nun um seinen Schuhe kümmern musste, die immer lauter wurden, weil beständig Wasser aus der Kleidung in die Schuhe lief. Seine Schritte erzeugten lächerliche, schmetternde Trompetentöne, die auch jene Passanten aufmerksam machen würden, die seinen durchnässten Zustand vielleicht gar nicht bemerkt hätten. Wütend trat er mehrmals fest auf, damit das Wasser seitlich herausspritzen würde. Als dies nicht half, blieb er stehen, zog die Schuhe aus und ließ das Wasser herauslaufen. Während er noch damit beschäftigt war, legte sich ein Arm um ihn. Ewa war wieder da.

"Haben Sie wirklich gedacht, dass sie mich so leicht loswerden?", fragte sie.

Binger Loch

Kehren wir zurück in die Gegenwart dieses Berichts. Paul hatte Tom in Bingen besucht, lief mitten in der Nacht über den Rhein und fiel kurz vor dem Rüdesheimer Ufer ins Wasser. Diese Situation war gefährlicher als jene viele Jahre zurückliegende, in der Ewa ihn tagsüber aus dem Fluss zog und auch andere Menschen da waren, die notfalls helfen konnten. In dieser Nacht schien Paul ganz allein zu sein. Er schaffte es nicht aus eigener Kraft ans Ufer und trieb auf das gefährliche Wildwasser des Binger Lochs zu.

Ewa und Paul waren inzwischen ein Paar. Während Paul im Rhein um sein Leben kämpfte, wartete sie in ihrer gemeinsamen Rüdesheimer Wohnung auf ihn. Die Sache mit dem Wasserlaufen war eine Selbstverständlichkeit geworden, die zu Paul gehörte wie Ewa, Rüdesheim, der Paketdienst und sein abgebrochenes Physikstudium. Nachdem Paul von seiner besonderen Fähigkeit erfahren hatte, hatte er sich noch lange darüber geärgert, dass ihn niemand sehen konnte, wenn er auf dem Wasser lief. Er fühlte sich provoziert und herausgefordert und hätte jene unbekannten Mächte, die ihm seine Gabe verliehen, gern zur Rede gestellt und gefragt, was sie sich dabei gedacht hatten.

Dann hatte Tom ein Verfahren entwickelt, mit dem er Pauls Wasserlaufen bestätigen konnte, ohne dass jemand zusehen musste. Es war ein indirekter Beweis, auf den Tom sehr stolz war und der ihn veranlasste, Parallelen zu anderen physikalischen Phänomenen wie schwarzen Löchern, kleinsten Teilchen und Gravitationsfeldern zu ziehen, die sich ebenfalls nur indirekt nachweisen ließen. Pauls Freunde glaubten ihm nun, dass er auf dem Wasser laufen konnte. Dies und die Tatsache, dass Tom in einem Atemzug von schwarzen Löchern, kleinsten Teilchen, Gravitationsfeldern und "Pauls Wasserlaufen" sprach, versöhnte ihn mit seiner merkwürdigen Fähigkeit.

Auch Ewa zweifelte nicht mehr, betonte aber bei jeder Gelegenheit, wie nutzlos eine Fähigkeit sei, die niemand sehen kann und nahm diese Feststellung gern zum Anlass, anstehende Hausarbeiten einzufordern. Tom hatte Paul darum gebeten, mit niemandem über seine Fähigkeit zu sprechen, damit er Zeit für genauere Untersuchungen hätte. "Da steckt etwas Großes dahinter", hatte er gesagt und erläutert, dass es sich bei diesem "Großen" um ein neues Naturgesetz handelte, dass er natürlich selber entdecken wolle. Pauls Verschwiegenheit sei wichtig, damit ehrgeizige und missgünstige Kollegen nichts erfahren würden. Danach hatten sie zunächst bei jedem Treffen über das neue Naturgesetz spekuliert, bis Paul irgendwann merkte, dass Tom nicht mehr darüber sprechen wollte. Schließlich war Tom immer richtig schlecht gelaunt gewesen, wenn Paul darauf zurückkam.

"Paul, ich habe ein paar Ideen" hatte Tom eines Tages gesagt, "aber das muss ich alles noch ausprobieren. Und ich würde auch wirklich gerne mit dir drüber reden, aber es ist nun einmal alles so furchtbar kompliziert. Es ist halt eine wirklich große Sache: ein neues Naturgesetz! Man muss sich das klarmachen, wir reden über ein neues NA-TUR-GE-SETZ! Das macht man nicht einfach so nebenbei zwischen zwei Brötchen. Newton hat auch ein paar Tage gebraucht. Und er hatte übrigens auch ein paar Freunde, die ihn in Ruhe arbeiten ließen …"

Paul verstand, dass Tom keine neuen Ideen hatte und war rücksichtsvoll genug, das Thema fortan zu meiden. Auch bei ihrem heutigen Treffen in Bingen hatten sie nicht darüber gesprochen und stattdessen Freunde in einem Lokal getroffen. Paul hatte aus seinem Alltag im Paketdienst erzählt. Den größten Erfolg hatte er mit dem Bericht über eine etwas beleibte, ältere Dame, die in der Nachbarschaft "wilde Hilde" genannt wurde und täglich Pakete bekam, die sie auch mitten am Tag im durchsichtigen Nachthemd entgegennahm, während sie in hektischem Flüsterton frisch gekochten Kaffee anbot. Tom hatte am lautesten gelacht und konnte sich kaum beruhigen, als Paul die "wilde Hilde" mit verdrehten Augen nachäffte:

"Hach, diese strammen Jungs vom Paketdienst!"

Tom liebte die Abende gemeinsam mit Paul in einem größeren Freundeskreis. Wenn er mit Paul allein war, sprach er von ihren "banalen Abenden" und konnte kaum erwarten, bis es wieder soweit war. Er brauchte das Einfache und Triviale als Kontrastprogramm zu seiner tiefschürfenden Arbeit. Dabei war er in einfachen Gesprächsthemen so unerfahren und zugleich so bemüht, jeden Unsinn auf die Spitze zu treiben, dass seine eigenen Beiträge oft durch besondere Niveaulosigkeit auffielen. Nicht einmal im Lachen war er besonders geübt, wurde schnell atemlos und rot und verfiel in unnatürlich hohe, quietschende Tonlagen. Weil das nicht zu seinem seriösen Äußeren passte, erregte Tom während der "banalen Abende" auch an den Nachbartischen große Aufmerksamkeit.

Paul und die anderen störte das nicht und Tom verschaffte sich mit seinem uneitlen Auftreten auch bei Pauls einfacheren Freunden einen gewissen Respekt. Alle waren sich einig, dass "der Tom in Ordnung ist" und er gehörte immer wie selbstverständlich dazu. Nachdem sie in dieser Nacht das Lokal verlassen hatten, waren Tom und Paul gemeinsam zum Rheinufer gegangen und Paul hatte ihn auf dem Weg dorthin noch ein paar Mal zum Quietschen gebracht. Als sie sich dem Ufer näherten, war Tom stiller geworden, weil er wieder an das Naturgesetzprojekt denken musste. Gleich würde Paul auf dem Wasser laufen, und er hatte immer noch keine Idee, warum das möglich war.

Wie konnte es sein, dass er dieses Naturgesetz trotz intensiver Laborarbeit nicht gefunden hatte? Hatten Newton und Einstein ähnliche schwere Zeiten gehabt? Fehlte ihm die Genialität dieser Männer, oder brauchte er nur noch etwas Geduld, um das große Ziel zu erreichen? Paul ahnte, womit Tom sich quälte und versuchte, ihn noch einmal mit der "wilden Hilde" aufzumuntern. Tom reagierte nicht und blickte abwesend zu Boden. Als sie sich am Rheinufer verabschiedeten, erinnerte Paul seinen Freund sicherheitshalber noch einmal, dass er sich nicht umdrehen darf, während er über den Rhein geht. Kurz darauf fiel er dann unmittelbar vor dem Rüdesheimer Ufer ins Wasser, nachdem er den Fluss zuvor ohne das geringste Problem überquert hatte.

Obwohl Paul nun mit aller Kraft in Richtung Ufer schwamm, zog ihn die Strömung weiter hinaus. Seine Schwimmzüge bewirkten lediglich, dass der Abstand zum Ufer nicht ganz so schnell zunahm, wie es sonst der Fall gewesen wäre. Bald war klar, dass er auf die Stromschnellen und Strudel des Binger Lochs zutrieb. Paul schaute flussabwärts, dorthin, wo zunehmendes Stampfen, Zischen und Fauchen die Position verriet, an der das Binger Loch in der Dunkelheit auf ihn lauerte. Er sah einen schwarzen Vorhang, der bei näherer Betrachtung an einer Stelle etwas unruhiger und wie von einem schwachen Luftzug in Bewegung versetzt schien.

Um besser sehen zu können, wandte er eine Technik "peripheren Sehens" an, die er von Tom bei der Sternenbeobachtung gelernt hatte. Dazu fixierte er einen Punkt unmittelbar neben jener unruhigen Stelle, die darauf durchsichtig wurde und den schemenhaften Blick auf ein chaotisches Durcheinander hoher Wellen freigab. Der Schaum, der das aufgewühlte Wasser bedeckte, schimmerte wie ein bleicher Mond durch die Nacht. Als Paul wieder direkt hinschaute, war alles verschwunden bis auf die zitternde, schwingende Dunkelheit. Sein Leben hing davon ab, dass es ihm gelingen würde, dieser Todeszone auszuweichen, die sich nicht mehr lange in den Schleiern der Dunkelheit verbergen würde.

Paul staunte über die Geschwindigkeit, mit der sich die Lichter Rüdesheims entfernten. Ihm war, als säße er in einem jener Ausflugsdampfer, die bis tief in die Nacht den Rhein auf und ab fuhren und mit ihren üppigen, bunten Lichterketten wie schwimmende Weihnachtsbäume aussahen. In diesen Schiffen saßen die Touristen mit einem Glas Wein in der Hand, ließen Rheingau und Mittelrheintal an sich vorüberziehen und bewunderten die Landschaft. Endlose Berg- und Hügelformationen, teils in weiterer Entfernung, teils in unmittelbarer Nähe des Flusses aufragend, boten ein abwechslungsreiches Bild. Jetzt, mitten in der Nacht, warfen die Berge mächtige Schatten vor den Sternenhimmel und wurden hier und da vom Licht der Ortschaften erhellt, auch von den ins Dunkle getupften Straßenlampen, die sich die Bergrücken hinaufzogen.

Zu beiden Seiten des Rheins strahlten alte Schlösser, Burgruinen und Klöster in hellem Scheinwerferlicht. Wenn keine anderen Lichter in der Nähe waren, schienen sie frei in der Luft zu schweben. All dies sah Paul in einem unvernünftig langen Augenblick des Schauens und Träumens, während er weiter auf das Binger Loch zutrieb. Er schwamm nicht mehr und bewegte nur noch etwas die Beine, um sich über Wasser zu halten. Die Strömung versetzte ihn in eine langsame Drehbewegung und richtete seinen Blick flussaufwärts. In weiter Ferne erschienen die Positionslichter jenes Binnenschiffs, das er wenige Minuten zuvor auf seinem Fußweg über das Wasser passiert hatte.

"Nein", dachte Paul, "die können mich nicht gesehen haben. Aber wer war es dann?"

Das Stampfen und Zischen des Binger Lochs war inzwischen zu infernalischen Lärm angeschwollen. Es klang wie das siegesgewisse Gebrüll eines Raubtiers, das gleich sein Opfer verschlingen würde. Paul schaute immer noch flussaufwärts, ließ sich treiben und schien sich mit der Opferrolle abzufinden. Dann näherte sich ein kleines Boot. Paul hörte das im Getöse des Binger Lochs eigentlich unhörbare Motorengeräusch und begann sofort, mit aller Kraft zu schwimmen. Trotz seiner äußerlichen Passivität erfüllte ihn ein Lebenswille, der seine Sinne geschärft und nur auf diese Gelegenheit gewartet hatte. Jetzt gab es wieder eine Chance. Wenn er Glück hatte, würde das Boot nahe vorbeifahren, und wenn er noch mehr Glück hatte, würde es ihm gelingen, auf sich aufmerksam zu machen.

Paul schaute in das vor ihm liegende Wildwasser. Es gab zwei besonders aufgewühlte Bereiche, die er vermeiden musste. Da er in der verbleibenden Zeit nicht mehr seitlich daran vorbei kommen würde, versuchte er, in den ruhiger erscheinenden Abschnitt dazwischen zu schwimmen. Wenn er dieses ruhigere Wasser erreichte, würde es darauf ankommen, nicht in den Sog zu geraten, der von den aufgewühlten Bereichen ausgehen musste. Während die Strömung stärker und das Schwimmen anstrengender wurde, setzte das Motorengeräusch plötzlich aus und Paul meinte, jemanden laut fluchen zu hören. Dann wurde der Bootsmotor wieder gestartet. Wer mochte um diese Zeit mit einem kleinen Motorboot unterwegs sein? Endlich sah Paul das Boot. Es fuhr in Ufernähe flussabwärts. Jemand stand darin und leuchtete mit einer Taschenlampe über das Wasser. Paul hörte eine Stimme:

"Hallo, wo sind sie? Sagen Sie doch was! Ich hole Sie raus!"

Ein Mann brüllte mit äußerster Anstrengung und überschlagender Stimme. Er schien zu wissen, dass jemand ins Wasser gefallen war. Paul vermutete, dass es dieser Mann war, der ihn am Rüdesheimer Ufer gesehen und damit das Unglück ausgelöst hatte.

"Hier bin ich!", kreischte Paul. "Kommen Sie hierher! Hallo! Hierher!"

Sein Mund befand sich wenige Zentimeter über dem Fluss und das Wasser schien jeden Laut zu schlucken. Paul hatte das Gefühl, dass er eine Wand anschreit. Das Wildwasser vor ihm hämmerte und dröhnte wie ein riesiger Schiffsmotor, den Paul einmal im Maschinenraum eines Frachters gesehen hatte. Es war kaum vorstellbar, dass der Mann im Boot ihn hören würde. Der Lichtkegel der kleinen Taschenlampe tänzelte um das am Ufer fahrende Boot und reichte nicht bis zu Paul, der weitab in der Flussmitte schwamm. Der Mann hatte Paul vorhin am Ufer gesehen und dort suchte er ihn jetzt. Die Idee, dass die Strömung Paul zur Flussmitte getragen haben könnte, kam ihm offenbar nicht.

Paul konzentrierte sich wieder auf das Schwimmen. Er war von der Ideallinie abgewichen, die er zwischen den aufgewühlten Flussabschnitten ausgesucht hatte. Mit kräftezehrenden Schwimmzügen gelang ihm eine zentimeterweise Annäherung an diese Linie, die er schließlich unmittelbar vor dem Binger Loch erreichte. Jetzt blieben nur noch Sekunden. Während Paul überlegte, wie er sich verhalten musste, kamen ihm Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee war, auf das ruhigere Wasser in der Mitte zuzuhalten. Konnte es sein, dass er sich täuschte und dass es gerade dort am allergefährlichsten war? Warum sollte mitten in dieser Hölle aus schäumenden Wellen, Wirbeln und Strudeln ein ruhiger Bereich sein, den man einfach so durchschwimmen kann? War diese Annahme nicht ähnlich dumm wie eine Antilope, die – tüdelüüt – zwischen zwei Löwen spaziert und das für sicher hält, weil in der Mitte kein dritter Löwe steht?

Bald schien ihm zwingend, dass das maschinenhaft stampfende Wasser links und rechts einen Antrieb brauchte, der sich in der Ruhezone dazwischen befinden musste. Dort mussten gewaltige Strömungen wie Mühlräder arbeiten. Anders, glaubte Paul, ließ sich die chaotische, wie von irrsinnig dreinschlagenden Riesenfäusten zerfetze Flussoberfläche nicht erklären. Er war überzeugt, einen großen Fehler gemacht zu haben. Die Strömungen würden ihn entweder in die Wildwasserzonen werfen oder gleich zum Flussgrund hinab saugen. Er holte tief Luft und machte sich bereit. Dann hörte er direkt hinter sich ein Motorengeräusch.

"Hab ich Dich!" rief eine Stimme.

Paul wandte sich um und sah das Boot, das eben noch in weiter Entfernung am Ufer gefahren war. Wie war es so schnell hierhergekommen? Ein alter Mann stand in dem Boot und warf ihm ein Seil zu. Es war ein wirklich alter Mann, fast schon ein Greis. Er machte keine Anstalten, sich hinzusetzen, obwohl das Wasser hier, wenige Meter vor dem Binger Loch, unruhig und unberechenbar war. Während Paul am Seil zum Boot hangelte, musste sich der alte Mann ständig bewegen, um den schwankenden Untergrund auszugleichen. Es schien ihm keine Mühe zu bereiten. Er war mit dem Boot wie verwachsen und wohl schon Jahrzehnte damit auf dem Rhein gefahren. Obwohl er so sicher stand, konnte es keinen Zweifel daran geben, dass er sehr alt war und Paul, der dem Alten in einem Bus sofort den Platz angeboten hätte, befürchtete plötzlich, sein Retter könnte doch noch hinfallen. Er wurde hektisch und versuchte, rascher voranzukommen.

"Nanana, immer mit der Ruhe!" rief der Alte. "Lass dir Zeit. Sooooo, ja. Jetzt haben wir's geschafft! Ins Boot ziehen kann ich dich leider nicht. Ich bin alt, das siehst du ja, und wir könnten kentern. Du musst dich am Seil festhalten. Hast du noch Kraft? Soll ich dich vielleicht festbinden zur Sicherheit?"

"Ziehen Sie mich einfach zum Ufer, das schaffe ich noch", sagte Paul. " Und vielen Dank für ihre Hilfe!"

Der alte Mann setzte sich und fuhr in langsamer Fahrt zum Ufer, wo Paul zusteigen konnte. Dann steuerte er einen Schiffsanleger in Rüdesheim an, auf dem ein Klappstuhl und ein kleines Anglerzelt standen. Paul setzte sich, und während der alte Mann eine Decke über seine Schultern legte, hörte er leises Vogelschnattern. Jene Vogelkolonie, vor der er im Rhein versunken war, befand sich ganz in der Nähe. Es war also wirklich dieser Angler, der ihn gesehen hatte. Paul griff nach seinem Smartphone, um ein Taxi zu rufen.

"Na, meinst du, damit kannst du noch telefonieren?", fragte der alte Mann.

Er lachte und holte einen handtellergroßen Metallring mit Schlüsseln in allen Größen aus seiner Hosentasche. Paul sah viele altertümliche Schlüsselformen und schätzte, dass der alte Mann ein ganzes Pfund Schlüssel mit sich trug, die er ein Vierteljahrhundert nicht gebraucht hatte. Vielleicht gab es für einige Schlüssel nicht einmal mehr das passende Schloss. Der alte Mann ging zur Brüstung des Schiffsanlegers, an der ein Metallkasten befestigt war. Er hatte die elegante Standsicherheit, die er im schwankenden Boot noch gezeigt hatte, völlig verloren und stand nun genauso unsicher und wacklig vor dem Metallkasten, wie man es von einem Mann seines Alters erwarten würde.

Paul konnte kaum glauben, dass dieser Greis ihn aus dem Binger Loch gerettet hatte. Der alte Mann versuchte, den Metallkasten zu öffnen. Nachdem mehrere Schlüssel nicht passten, begann er ein Selbstgespräch im Rheingauer Dialekt, wurde immer wütender und schüttelte den Schlüsselbund mehrfach heftig durch, um es dann aufs Neue zu versuchen. Paul begann zu frösteln und hatte wenig Lust, länger zuzusehen.

"Hören Sie, was machen Sie da eigentlich? Kann ich Ihnen helfen? Sie brauchen mir übrigens kein Taxi zu rufen. Ich lasse mich ein bisschen abtropfen, dann komme ich schon nach Haus. Haben Sie was dagegen, wenn ich mir Ihre Decke bis morgen ausleihe?"

Der alte Mann antwortete nicht. Er zog eine dicke Hornbrille aus der derselben Hosentasche, in der die Schlüssel gesteckt hatten. Die Schlüssel mussten die Brille völlig verkratzt haben. Paul grauste bei der Vorstellung, wie die Welt durch diese Brille aussehen musste. Mit seiner eigenen Brille war er sehr penibel, verwendete stets ein Etui und ging sofort zum Optiker, wenn Sitz oder Glasqualität nicht optimal erschienen. Erst vor wenigen Tagen hatte er wieder das Gefühl gehabt, dass etwas nicht stimmt. Er hatte das verdächtige Glas dicht vor seine kurzsichtigen Augen gehalten, damit er die Oberfläche genau erkennen konnte. Obwohl alles in Ordnung war, hatte er danach immer wieder steil nach rechts oben geschaut, dorthin, wo er das Problem vermutete. Seine ständige Sorge um die Brille war ein Tick, gegen den er sich nicht wehren konnte. Ewa machte sich darüber lustig und Paul wusste selbst, dass er übertreibt. Er war sogar schon mit dem Paketwagen von der Straße abgekommen, weil er während der Fahrt die Brille überprüft hatte.

Der alte Mann setzte die dicke Hornbrille auf, fand den richtigen Schlüssel und öffnete den Metallkasten, in dem sich ein altertümliches Telefon mit Wählscheibe befand. Er klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter und begann zu wählen. Mit der freien Hand stopfte er Brille und Schlüsselbund zurück in die Hosentasche, deren Öffnung sich irgendwo zwischen Brust und Rippenbogen befand. Paul hatte schon oft beobachtet, dass die Hosen alter Männer immer weiter nach oben rutschen. Warum war das so? Während er einen kritischen Blick auf seinen eigenen Hosenbund warf, hörte er den alten Mann telefonieren.

"Robert, bist du's? Pass auf: Taxi zum Anleger. Nein, keine Touristen. Die sind um diese Zeit brav im Bett. Hab einen aus dem Wasser gefischt."

Der alte Mann flüsterte etwas ins Telefon. Dann schaute er Paul an und sprach normal weiter.

"Sag dem Fahrer, er soll eine Folie mitbringen oder sowas, dann wird das schon gehen."

Nachdem er aufgelegt hatte, holte er einen zweiten Klappstuhl aus dem Zelt und setzte sich zu Paul, der mit eingezogenen Schultern auf seinem Stuhl kauerte.

"Du frierst", stellte er fest und klopfte Paul auf die Schulter. "Klar, ist keine gute Zeit zum Schwimmen. Pass mal auf, ich hab was für Dich."

Der Alte versuchte, in seine Hosentasche zu greifen, die aber im Sitzen weiter nach oben gerutscht war. Er neigte den Körper in verschiedene Richtungen, um die Tasche herunter- und den Arm heraufzubekommen. Paul fragte sich, ob er helfen sollte, schwieg aber, weil er befürchtete, dann in die Tasche fassen zu müssen. Sie war stark ausgebeult und es war klar, dass sie nicht nur Schlüssel und Brille enthalten würde. Paul stellte sich vor, dass es ein wenig appetitliches Archiv der letzten Jahrzehnte sein könnte. Der alte Mann änderte sein Vorgehen und zog die Hose mit der einen Hand tiefer, bis er es mit der anderen in die Tasche schaffte. Eine silberne Metallflasche kam zum Vorschein. Der alte Mann schraubte sie auf und hielt sie Paul unter die Nase.

"Riech mal. Magst du einen Schluck? Einen Becher hab ich nicht."

Paul mochte den Geruch und wunderte sich darüber, weil er Schnäpse und anderes Hochprozentige normalerweise verabscheute. Vielleicht wäre ein Schluck aus dieser Flasche in seinem halberfrorenen Zustand wirklich gut für ihn? Paul zögerte kurz, schaffte es aber nicht, davon zu trinken.

"Macht nichts", sagte der Alte und trank selbst aus der Flasche. "Nur ein Angebot. Was meinst Du, wie oft ich Leute wie dich hier rausfische. Du hast Glück gehabt. Du hast sogar zweimal richtig Glück gehabt. Ich hab dich gehört, ein Platschen, wie eine landende Ente. Und dann hab ich deinen Kopf gesehen und gedacht: jawohl, es ist eine Ente. Eine Ente. Ich hab deinen Kopf für eine Ente gehalten, hörst du?"

Paul nickte. Es war klar, wovon der Alte sprach. Das "Platschen" war der Augenblick, in dem er ins Wasser gefallen war. Der Alte war der Meinung, erst in diesem Moment hingeschaut zu haben, aber natürlich hatte er schon vorher in Pauls Richtung gesehen und damit das Unglück ausgelöst. Ebenso wie alle anderen vor ihm hatte er Paul nicht auf dem Wasser stehen sehen. Wenn er etwas bemerkt hätte, hätte er längst etwas gesagt. Paul verzichtete darauf, nachzufragen oder irgendetwas zu erklären. Der alte Mann fand es witzig, dass er Pauls Kopf für eine Ente gehalten hatte, lachte und faselte Unverständliches im Rheingauer Dialekt. Paul hörte immer wieder "Ente" und "Kopf" heraus und hätte am liebsten gesagt, dass er das ganz und gar nicht lustig findet.

"Du hast zweimal Glück gehabt", wiederholte der Alte, als er sich beruhigt hatte. "Ich hab dich für eine Ente gehalten, und dann hab ich trotzdem nochmal hingesehen, als du schon ein ganzes Stück abgetrieben warst. Da hast du das erste Mal Glück gehabt."

"Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar", sagte Paul. "Sie haben mir das Leben gerettet."

Der alte Mann sah ihn erstaunt an:

"Dankbar bist du mir? Bist du sicher? Wirklich ganz sicher?"

Er rückte näher heran. Sein Gesicht war eine faltige Fratze, die an groteske Faschingsmasken erinnerte. Paul wusste, dass dies nicht nur am Alter lag. Ähnliche Gesichter hatte er auch bei anderen Menschen gesehen, die viel Zeit auf dem Rhein verbrachten. Die Haut dieser Menschen wurde von der kräftigen Rheingauer Sonne und ihrem im Wasser gespiegelten Zwilling gegrillt und getoastet, bis nach Jahrzehnten nur noch übrig blieb, was er nun vor sich sah. Es roch nach Alkohol, faulenden Zahnresten und allgemeiner Ungewaschenheit. Paul wandte sich ab und drehte die Nase in den frischen Wind.

"Versprich mir, dass du das nicht nochmal machst", sagte der Alte. "Es gibt immer einen Weg, auch wenn es noch so schwierig ist im Leben."

Paul musste lachen.

"Sie halten mich für lebensmüde? Neinein, wirklich, das bin ich nicht. Wirklich nicht. "

"Na klar, Junge, du wolltest einfach mal so schwimmen gehen. Mitternacht, 10 Grad Wassertemperatur. Da hast du dir gedacht: Ich geh jetzt mal schwimmen, und damit es nicht so kalt ist, lass ich gleich die Kleidung an. So war es doch, nicht wahr?"

Der Alte rückte dichter heran, legte einen Arm um Pauls Schulter und schaute ihn eindringlich an.

"Im Ernst, mein Junge. Eigentlich müsste ich die Polizei rufen. Die haben einen Psychologen in Wiesbaden. Die Polizei hat gesagt, wenn ich mal wieder einen rausfische, soll ich das melden. Meinst du, du kannst einen Psychologen gebrauchen?"

Paul wurde ungeduldig. Wann würde das Taxi kommen? Er wand sich aus der Umarmung und stand auf. Weil er die Luft angehalten hatte, brauchte er einige Atemzüge, bis er antworten konnte.

"Nein, bitte keinen Psychologen, vielen Dank. Erzählen Sie mir lieber, warum ich zweimal Glück gehabt habe. Wann habe ich denn das zweite Mal Glück gehabt vorhin?"

Der alte Mann überlegte.

"Ja, Moment, also das zweite Mal… erst hab ich dich für eine Ente gehalten…. Ach ja, und dann das Seil. Das verdammte Seil. Ich bin runter in mein Boot und hab das Seil nicht losgekriegt. Ich war lange nicht mehr unterwegs und die Strömung zieht den Knoten immer fester. Irgendwie habe ich es aufbekommen, das ist mit meinen alten, zitternden Fingern nicht so leicht. Da hast du das zweite Mal Glück gehabt. Und dann ist der Motor verreckt, mitten auf dem Rhein. Ich habe ihn wieder starten können, da hast du nochmal Glück gehabt. Du hast sogar dreimal Glück gehabt!"

Das Taxi kam und Paul verabschiedete sich. "Also, vielen Dank nochmal, und auf Wiedersehen!"

Er wandte sich zum Taxi und stand für einen Moment im hellen Scheinwerferlicht. Im Gesicht des Alten veränderte sich etwas.

"Warte", sagte er, "dich kenn ich doch. Du bist doch …"

Paul lächelte.

"Nein, wir kennen uns nicht. Sicher nicht. Ich habe Sie noch nie gesehen. Vielleicht haben Sie mich mal in der Stadt gesehen, es ist ja eigentlich ein Dorf hier. Also dann, bis zum nächsten Mal."

Der alte Mann antwortete nicht, schaute Paul ins Gesicht und begann wieder, im Rheingauer Dialekt zu schimpfen. Er zog den Schlüsselbund aus der Tasche, schlug sich damit fortwährend auf das Hosenbein und schien zu hoffen, dass dies seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen würde. Die Schlüssel schepperten und Paul überlegte, ob er noch etwas sagen sollte. Dann zuckte er mit den Schultern, ging den Anleger hinauf und hatte das Taxi fast erreicht, als der Alte hinter ihm zu kreischen begann.

"Du bist der Idiot mit dem Boot! Du bist der Angeber, der hier dauernd rauf- und runterfährt!"

Paul drehte sich nicht um und setzte sich ins Taxi. Der Taxifahrer, ein Freund des Alten, stieg aus und stellte sich neben das Taxi. Paul blieb nichts übrig, als ebenfalls auszusteigen.

"Weißt du eigentlich, was das für eine Schweinerei ist mit deinen Wellen?" keifte der Alte, während er über den Schiffsanleger näher kam. "Dauernd läuft mir das Boot voller Wasser. Die Ruderer da draußen bringst du auch in Gefahr. Eine Schweinerei ist das, hörst du? Hätte ich dich bloß im Wasser gelassen."

Der Taxifahrer warf Paul einen verächtlichen Blick zu und eilte dem alten Mann zu Hilfe, der an der steilen Uferböschung kaum noch voran kam und bedenklich schwankte. Paul nutzte die Gelegenheit, um zu Fuß zu flüchten.

"DER TEUFEL SOLL DICH HOLEN!" brüllte der Alte ihm hinterher.

Am nächsten Tag wachte Paul mit einer schweren Erkältung auf. Er hatte es nachts ins Bett geschafft, ohne Ewa zu wecken. Um möglichst leise zu sein, hatte er auf eine Dusche verzichtet und sich nur notdürftig mit Waschlappen und Handtuch frisch gemacht. Die feuchte Kleidung in eine Plastiktüte gestopft. Ewa ging immer vor ihm zur Arbeit und sein Plan war, dass er die Kleidung schnell in die Waschmaschine stecken würde, bevor er selbst das Haus verließ. Mit etwas Glück würde sie von seinem Missgeschick und vor allem von dem zerstörten Smartphone nichts erfahren.

"Was zeigt es an?" fragte Ewa am nächsten Morgen, während sie auf Paul herabsah, der mit einem Fieberthermometer im Bett lag.

"38,5. Ich bleibe besser zuhause."

"Kannst du mir übrigens den Geruch erklären? Irgendwas riecht hier doch?"

Ewa verließ das Schlafzimmer und Paul rief ihr nach:

"Ich rieche nichts. Musst du nicht los? Ich komme allein klar."

Er hörte, wie Ewa sich im Badezimmer umsah. Sie hatte eine feine Nase und Paul wusste jetzt, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er hätte die Plastiktüte mit der nassen Wäsche luftdicht verschließen müssen. Ewa war imstande, eine einzige schweißige Socke zu finden, die hinter die Waschmaschine gefallen war und die Paul frühestens beim nächsten Umzug gefunden hätte.

"Irgendwas riecht hier doch", wiederholte Ewa immer wieder. "Hier riecht etwas."

Dann stand sie triumphierend vor ihm und zeigte ihm die Plastiktüte.

"Du kannst mir nichts vormachen. Das solltest du doch inzwischen wissen. Und das hier ist eine rie – sen – gro – ße Schwei – ne – rei!"

Paul setzte sich auf die Bettkante und nahm Ewa die Plastiktüte ab.

"Ich hätte das doch gleich in die Waschmaschine getan."

Ewa gab ihm ein Küsschen auf die Stirn.

"Ich bin ja froh, dass dir nichts passiert ist. Ist mein kleines Paulchen mal wieder ins Wasser gefallen. Du stinkst übrigens auch. Dusch dich mal. Ich bin heute morgen aufgewacht, und wusste gleich, dass etwas nicht stimmt. Ich habe sogar davon geträumt, stell dir vor! Von Wasser habe ich geträumt, von Flusswasser, Brackwasser, trübem, braunen, tiefen, trägen Wasser. Igitt! Das musst du gewesen sein. Ich hatte deinen Flusswassergeruch in der Nase, und dann habe ich davon geträumt."

Paul erzählte, was in der Nacht passiert war. Ewa hörte ihm zu und ließ sich dann versprechen, was Paul schon oft versprochen hatte: dass er nicht mehr über den Rhein laufen würde, schon gar nicht mitten in der Nacht, und erst recht nicht, wenn Freunde ihn, so wie gestern, mit dem Auto nach Hause fahren wollen. Ewa war zufrieden damit und strahlte Paul an.

"Wenn du auf dem Wasser laufen willst, dann nimm den Feuerwehrteich, der ist harmlos und flach. Oder krieg endlich raus, wie man auf dem Wasser laufen kann, wenn andere zugucken. Dann können wir dich wunderbar vermarkten und werden reich!"

Während Ewa sich nun anzog und frühstückte, besprachen sie Alltägliches. Paul war froh darüber und stellte, wenn das Gespräch zu verebben und auf den gestrigen Abend zurückzukommen drohte, Fragen zu unwichtigen Dingen. Weil er Ewa gut kannte, gelang es ihm, längere Überlegungen und Monologe auszulösen, die ihm etwas Ruhe verschafften. Er musste nur darauf achten, den richtigen Moment für ein "Recht hast Du!", "Wie ist das möglich?" oder "Das ist ja unglaublich!" nicht zu verpassen. Als Ewa endlich zur Arbeit ging und die Tür ins Schloss fiel, war er froh, dass sie die Plastiktüte nicht ausgepackt hatte. Er nahm die völlig durchnässte Kleidung heraus. Das teure Smartphone steckte noch in der Hose und Paul staunte über die endlosen Rinnsale, die aus dem kleinen Gehäuse tropften. Über einem Waschbecken notierte er die genaue Markenbezeichnung, um es noch einmal zu kaufen. Wenn Ewa heute Nachmittag von der Arbeit zurückkehrte, würde genau dieses Smartphone neu und unversehrt neben ihm auf dem Nachttisch liegen.

Alles geht!

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