Читать книгу BLICK AUF DEN NIL - Karim Lardi - Страница 5

Nile View

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Sie erwachte erst gegen Mittag mit rasenden Kopfschmerzen in ihrem verschwitzten Bett. Draußen rauschten die Klimaanlagen der Nachbarn. An heißen Tagen kann man nirgendwo in Kairo diesem Lärm entkommen. Von allen Seiten her erklangen dann auch noch wütende Hupsignale und das Motorendröhnen vorbeirasender Autos, Gehämmere und Geklopfe. Diese Kakophonie zusammen mit dem Gebrüll der Bawwabs und Polizisten gellten in ihrem Kopf und machten ihn zu einem Hexenkessel, in dem alles brodelte.

Der lange Flug steckte ihr noch in den Gliedern. Es dauerte eine Weile, bis ihre Erinnerungen zurückkehrten und sich ihr Kopf nach und nach klärte.

Wie in aller Welt können die Menschen diesen Lärm aushalten!?

Sie blickte sich um. Ihr kleines Zimmer war spartanisch eingerichtet, mit kahlen weißen Wänden und abgenutzten Dielen. Es hatte alles, was eine angehende Wissenschaftlerin so braucht: ein kleines Bett, einen Stuhl, einen Tisch und ein Regal. Eine kleine Kochnische, ein Spülbecken und eine separate Toilette waren auch dabei.

Laura stand langsam auf und öffnete, wenn auch noch total zermürbt, hoffnungsfroh das Fenster, durch dessen Gitter einige Kabel gezogen waren. Ihr Zimmer führte auf eine große Terrasse, auf der ein Meer von Kabeln, Fernsehantennen und Satellitenschüssel aller möglichen Größen installiert war.

Es kam ihr alles ganz unwirklich vor, als hätte man sie auf einem fremden Planeten ausgesetzt. Über der Stadt lag ein beißender Geruch von verbranntem Reisstroh und Müll. Kairo hatte wieder gerülpst. Es war sehr trübe und man sah keine Sonne. In der Ecke stand eine alte Kommode unter einer kleinen Pergola. An der unverputzten Wand hing ein kleiner uralter Fernseher. Daneben war ein Käfig voller Tauben, um den räudige Katzen im Taubenmist lungerten. In der Mitte der Terrasse standen ein mit Tuch bedeckter Allzwecktisch und ein paar wurmstichige Stühle. Überall lagen Strohmatten und von langen Dienstjahren ausgeblichene Kopfkissen.

Ihr Blick schweifte eine Weile über die Dächer, die wie ein graues Häusermeer aussahen. Wie erstarrt stand sie da und verspürte eine gewisse Enttäuschung. Voller Hoffnung suchte sie mit den Augen nach dem versprochenen Nilblick. Und je länger sie suchte, desto düsterer und enttäuschter wurde ihre Miene. Langsam spürte sie, wie ihre gesamten Orientträume wie ein angestochener Luftballon schrumpften. Dort hinten, wo sich eine Öffnung zwischen den hohen Gebäuden auftat, da erschien ihr ein kleines silbern schimmerndes Stück Wasser! Ansonsten blickte sie nur über ein Meer von heruntergekommenen, farblosen Wohnblöcken. Sie schienen alle schwer in Mitleidenschaft gezogenen zu sein.

An vielen Stellen fiel der Putz von ihnen ab und manche standen einfach im nackten Mauerwerk da. Auf den Flachdächern lagen Unmengen alten Gerümpels, ohne dass irgendjemand es für nötig hielt, irgendetwas aufzuräumen. Kleine Mädchen spielten unbekümmert und ahnungslos Blindekuh, Jungs tollten herum und befehdeten sich einander mit Stöcken. Sie hörte die plappernden Stimmen der Frauen, die gerade die Wäsche auswrangen und aufhängten und alte Teppiche klopften. Sie sah wie der Staub in die Luft wirbelte. Sie winkten ihr freundlich zu und lachten herzlich.

Laura beschloss, nicht schwermütig zu werden und einfach erstmal alles auf sich zukommen zu lassen. Die Tatsache, für den Anfang eine Bleibe zu haben, wenn auch spartanisch ausgestattet, spendete ihr irgendwie etwas Trost. Sie war froh, denn das entlastete ihr dünnes Portemonnaie erheblich und ersparte ihr die zermürbende Sucherei und den nervenaufreibenden Ärger mit Maklern und Hausbesitzern, die denken jeder Europäer sei ein zweibeiniger Geldautomat. Am schlimmsten trugen die Expatriates zu diesem Bild bei. Sie galten als penibel und sehr wählerisch. Alle suchten und wollten stattliche, herrschaftliche Häuser oder Wohnungen, von denen man in alle vier Himmelsrichtungen blicken konnte, weitläufige Gärten, am liebsten noch mit Swimmingpool und waren bereit, dafür schwindelerregende Preise zu zahlen. Wenn man zu alldem auch noch einen Blick auf den Nil in seiner prächtigen Schönheit haben konnte, kletterten die Preise noch höher. Mit ihnen explodierten die Immobilienpreise. Aber was sollte es! Solange sie selber nichts hinblättern mussten, tangierte sie das nicht.

Nur eins besaß oberste Priorität bei den Expatriates: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer hat das schönste Haus im ganzen Land.

Die kleine von jahrelangem Gebrauch abgenutzte Wohnung gehörte Professor Sander. Laura schaute sich in dem alten Raum um. Die Möbel waren in schreienden Farben gestrichen, dazu ein altertümlicher Schaukelstuhl, und die bunt bemalten Kaffeetassen, all dies stammte sicherlich aus Eric Sanders Studienzeit. Vom Sekretariat ihres Instituts wusste sie, dass das Zimmer dem großen deutschen Professor und Archäologen gehörte, der sich seit langer Zeit in Ägypten aufhielt und bei dem sie nun ihr Forschungsjahr absolvieren wollte.

Er hatte es in seinen frühen Studienjahren günstig einem Kollegen abgekauft und nun stellte er es seinen deutschen Studenten und Praktikanten aus aller Welt als provisorische Unterkunft zur Verfügung. Für sie war das natürlich eine einmalige Chance, schließlich hat nicht jeder Archäologe die Forschungsbedingungen eines Ludwig Borchardts oder Howard Carters. Und von der Archäologie allein kann ehrlich gesprochen kaum einer leben. Jeder, der in der Branche tätig ist, weiß, dass sie eine brotlose Kunst ist, und man kann sich glücklich schätzen, wenn man es in diesem Fache zu etwas bringt. Viele hatten jahrelang studiert und als sie fertig waren, standen sie mit leeren Händen da. „Ein Beruf, der bloß Leiden schafft“, rieben ihr ihre Eltern unter die Nase, jedes Mal, wenn sie von ihrer Leidenschaft für die Ägyptologie zu sprechen kam. Für die Leidenschaft ihrer Tochter hatte ihre Familie nichts übrig, außer Vorurteile, wonach Archäologie eine schmutzige Arbeit sei, die in gottverlassenen Ausgrabungsstätten und unter den sengenden Sonnen der fernen Wüsten stattfindet. „Viel Staub, wenig Kohle!“ Für Laura aber war Archäologie das einzige Fach, das sie interessierte. Die anderen Studiengänge, die für sie in Frage gekommen wären, waren oft theorieorientiert und von geringem praktischem Wert. Die Archäologie war und blieb für sie eines der wenigen Berufsfelder der Welt, die noch von der Leidenschaft lebten oder überhaupt wussten, was Berufsleidenschaft bedeutete.

Zwischen Räucherstäbchen und Dieseldämpfen

Laura schluckte ihre Enttäuschung hinunter und brauchte einen Moment, um sich zu fangen. Um nicht in Trübsinn zu verfallen, packte sie ihre Tasche und ging hinunter. Sie musste hinaus auf die Straße, um den Pulsschlag der Stadt langsam zu zählen. Trübsal blasen war ja eher nicht ihr Ding. Sie hatte sich ja schließlich Kairo ausgesucht und niemand hatte sie dazu gezwungen, hierher zu kommen.

Sie trat auf die Straße und schlug eine Richtung ein, ohne zu wissen, wohin sie lief. Sie traute einfach ihrem Instinkt ohne groß zu überlegen und ihre Füße bewegten sich wie von selbst und wandten sich in die Richtung, die sich ihr gerade auftat. Von Neugier getrieben, begab sie sich einfach in das Straßengewirr und folgte dem allgemeinen Strom.

Unten wie oben pulsierte das Leben. Überall herrschte ein großes Gedränge und lebhafter Betrieb.

Auf den ersten Blick sahen alle Gassen gleich aus. Viele waren gesperrt und wurden gerade mit grünen Plastikmatten ausgelegt. Andere waren bereits mit Menschen verstopft.

Von allen Seiten dröhnten Stimmen aus scheppernden Lautsprechern. Die Worte waren maßlos energisch und bestimmend. In der Luft hing ein schwerer Geruch, der aus qualmenden herben Weihrauchstäbchen kam, sich mit Dieseldämpfen vermischte und die schwüle Hitze noch erdrückender machte.

Einen Augenblick blieb sie stehen und ließ die Atmosphäre eines Platzes, der sich vor ihr auftat, auf sich wirken. Ihr Blick fiel auf junge Männer, die Spenden sammelten und dann weiter glitten. Die Einnahmen mussten wohl recht gut gewesen sein. Das konnte sie ihren Gesichtsausdrücken ansehen.

Es war Freitag. Das schoss ihr jetzt durch den Kopf und am Freitag verwandeln sich manche Straßen zu öffentlichen Moscheen. Viele Menschen eilten zielstrebig, mit abwesender Miene, zum Freitagsgebet. Überall hingen die Augen der wie magnetisiert hockenden Menschen an den Lippen eines Predigers. Diesen konnte sie nicht sehen, da dessen Kanzel in einer kleinen windigen, schwer zu überblickender Straßenecke stand. Eine unbestimmbare Befürchtung ließ sie nicht los, jedes Mal, wenn sie sich umsah. Was den Anlass dazu gab, vermochte sie nicht zu definieren. „Was der Mensch nicht kennt, flößt angeblich Angst ein“, dachte sie sich. Sie merkte nicht einmal, dass sie inmitten einer Straßenmoschee stehen geblieben war. Nach dem Muezzin Ruf standen die Menschen, wie in einem hypnotischen Zustand, mit entschlossenem Gesichtsausdruck in Reih und Glied, um das Gebet zu beginnen. Als sie vorbeiging, warfen ihr einige verstohlene Blicke zu. Ob es argwöhnische Blicke waren oder nicht, neugierige, oder einfach überraschte, konnte sie nicht beurteilen. Ihr wurde es langsam mulmig. Die Blicke und Gesichtsausdrücke der Männer verunsicherten sie zutiefst. Sie wusste nicht warum, aber es war so. Sie versuchte beharrlich die Blicke zu meiden, das Gesicht abzuwenden.

Sie wollte den Ort so schnell wie möglich hinter sich lassen. Hastig wandte sie sich durch die Menschenmenge und musste aufpassen, dass sie bei all dem Unrat und den Unebenheiten auf der Straße nicht stolperte. Alle Bürgersteige waren mit Motorrädern und Autos zugeparkt. Sie schob sich dazwischen. „Diese Stadt ist nicht für Fußgänger ausgelegt“, dachte sie sich. Hier muss man flink sein wie ein Wiesel. Man muss lernen, sich an den Autos, die an einem haarscharf vorbeifahren, vorbeizuschlängeln, schnell zu lavieren und rechtzeitig zur Seite zu springen, will man mit seinen Fersen wieder heil nach Hause zurückkommen. Wer nicht genug aufpasste, dem haute man die Absätze weg oder man fuhr ihn platt. Überall quietschte und schepperte es. Es ging laut, sehr laut zu. Die Menschen waren laut, die Katzen miauten laut, die Vögel zwitscherten laut und die Tauben gurrten laut. Überall wurde gehupt, überall gebuddelt. Der anhaltende Lärm ist ein vertrauter Begleiter des Lebens in Kairo. Er gehört zu Kairo wie das Atmen zu einem Körper.

In Gedanken war Laura immer noch mit den Blicken und Stimmen der hockenden Männer beschäftigt. Selbst als Sie in die Straße des 26. Juli bog, meinte sie, trotz des Rauschens und Hupens vorbeifahrender Autos, immer noch zu hören, wie sie aus vollem Herzen rezitierten.

Laura ging weiter und ließ ein langgezogenes Hupkonzert über sich ergehen. Über ihrem Kopf dröhnte ein Flugzeug und unten heulten Sirenen, bretterten und brausten gerade ein paar Harley-Davidson Motorräder mit Höchstgeschwindigkeit und Mordgetöse vorbei, als wären sie auf einer Rennstrecke oder auf einem Highway in Amerika, aber nicht im Zentrum von Kairo. Für einen Moment verwandelten sich diese schwarzen Ungetüme in potentielle Amokläufer, übertönten das Dröhnen der Autos, ja sogar des gesamten Straßenverkehrs und ließen ihren zarten Körper bis zur letzten Faser vibrieren. Nichts brachte sie so schnell in Fahrt wie diese Scheusale. Sie konnte nicht begreifen, was diese Motorradfahrer an diesen Lärm schön finden. Zumal eine Stadt wie Kairo sowieso unter einer Lärmepidemie und ständigem akustischen Smog leidet. Drückten sie mit diesem Lärm ihre Menschenverachtung aus, oder war das ein Ersatz für mangelnde Aufmerksamkeit, also eine Art Ersatzbefriedigung? Nach dem Prinzip alles was nicht laut ist, geht unter und ist lebensunfähig oder existiert schlicht und einfach nicht. Du existierst erst, wenn man dich wahrnimmt. Eins wurde ihr nun klar: Kairo ist keine Stadt für Hörempfindliche!

Sie stellte sich Kairo gerade als einen phonophoben Menschen vor, der zusammengekrümmt vor Schmerzen stöhnt, während der Lärm ihm hinterrücks unaufhörlich und erbarmungslos Todesstöße versetzt. Münster dagegen kam ihr vor, wie ein Sanatorium, umgeben von Ententeichen.

Sie weigerte sich, weiter zu vergleichen und folgte somit einer alten arabischen Weisheit: „Vergleiche nicht, was sich nicht vergleichen lässt.“

Laura ging beherzt weiter, immer wieder öffnete sich eine Straße, die in eine andere führte. Inzwischen war sie in das Herz von Zamalek vorgedrungen und ging an einer Reihe von herrschaftlichen Villen vorbei. Trotz der unerfreulichen Begleiterscheinungen des Alters, konnte man ihnen einen gewissen Reiz des Maroden nicht absprechen. Laura genoss in vollen Zügen die malerische Atmosphäre der Straßen, die gesäumt waren von alten Bäumen und etwas angenehm Vergammeltes ausstrahlten. Hier wurden ihre Sehnsüchte nach dem alten Kairo geweckt und sie konnte sich gut vorstellen, wie es früher ausgesehen haben musste, bevor die Stadt unkontrolliert aus allen Nähten platzte. Damals, als Kairo noch die Hauptstadt des Orients und Treffpunkt aller Karawanen war, damals als alles noch nach Jasmin und Veilchen roch.

Wer Kairo nicht sah, hatte vergeblich gelebt, hieß es.

Kairo ist heute kein Model mehr, das über den Laufsteg gleitet. Kairo stapft. Kairo ist wie eine gealterte Schönheitskönigin, bei der trotz der Zeichen, die die Lebensjahre in ihrem Antlitz hinterlassen hatten, ein Hauch ihrer einstigen Schönheit noch immer durchschimmert. Die Anziehungskraft verschwindet zwar im Gleichschritt mit der Zeit, der Charme und der Zauber des Alters wächst jedoch unaufhaltsam.

„Schönheit vergeht, Charme besteht“, dachte sich Laura voller Nostalgie.

BLICK AUF DEN NIL

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