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Der Schlüssel zum Glück

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Sie hämmerte mit einem hübschen Klopfer gegen die Tür, erst langsam dann energisch und nach einer Weile ertönten ohne Hast Schritte auf der anderen Seite. Ein junger Bursche in einem einheimischen Gewand öffnete die Tür, lächelte schüchtern und führte sie in ein rundes Wohnzimmer. Ein vom Boden bis zur Decke reichendes Panoramafenster bot ihr einen herrlichen Blick auf die weite, blaue Fläche des Nil.

Laura verschlug es fast den Atem, als sie den Nil in seiner ganzen Pracht vor ihren Augen sah. Das Haus war von einem wunderschönen, weitläufigen und sonnigen Garten umgeben, in dem Palmen und Mangobäume Schatten spendeten.

Die scheinbar unberührte Natur mit ihrer unbeschreiblichen exotischen Faszinationskraft war atemberaubend schön. Der Duft von Rosen erfüllte die Luft. Zahlreiche Blumengirlanden schmückten die Wände. Die Weintrauben hingen prall und saftig an den Reben. Granatapfel, Avocado, Mango und viele verschiedene Früchte wuchsen in friedlichem Durcheinander. Die Felder, von denen ein würziger Duft aufstieg, waren mit einem satten Grün überzogen. Überall erstreckten sich weitläufige Rasenflächen, auf denen Schafe grasten. Im Schatten der Oliven-, Granatapfelbäume und der Palmen, die sich schlank und elegant erhoben, rasteten die Fellahs und die Hirten der Zeit unbekümmert. Die entschwundene Vorwelt war da, an Schönheit nicht zu übertreffen.

In der Ferne erkannte Laura die Sphinx, die plattnasig unbeirrt in die Zukunft schaute. Selbst Napoleons mächtige Kanonenschläge schienen ihr nichts Großes angehabt zu haben. Am Ende, dort wo Horizont und Himmel verschmolzen, ragten die Pyramiden stolz und zusammenhaltend auf.

Laura folgte dem Jungen, durch mehrere Räume, die mit überquellenden Bücherborden zugestellt waren. Während ihr Blick rasch über die Möbelstücke streifte, fand sie Vieles, das sie beeindruckte und in Erstaunen versetzte. Der klassische, viktorianische und geschmackvolle Einrichtungsstil verriet eine feine Kultiviertheit des Besitzers. Zwischen farbenfrohen Gemälden spielte das Grammophon Carmena Borana und sorgte für eine musikalische Untermalung. Die Wirkung war bestechend.

Der Junge führte sie in ein großes Arbeitszimmer mit prall gefüllten Bücherregalen, in denen Bände von Nachschlagwerken und leicht angestaubte Karten lagen. Ein ergrauter Mann mit Halbbrille, Mitte Siebzig, saß am Tisch, auf dem eine Menge rätselhafter Pläne lagen. Er erklärte und skizzierte auf einem Block einen Plan, während junge Praktikanten und Assistenten im Halbkreis um ihn herumsaßen und aufmerksam zuhörten. Er entsprach ungefähr der Vorstellung, die sie sich von ihm ausgemalt hatte. Seine Haare und seine um die Augen herumliegenden feinen Fältchen verliehen ihm die Ausstrahlung einer wissenschaftlichen Autorität und das Aussehen eines erfahrenen Professors, der seine Arbeit zu lieben schien.

Als Laura hereinkam, blickte er sich über den Rand seiner Halbbrille hinweg um und winkte sie herbei. Ohne seine Erklärungen zu unterbrechen, holte er mit dem Arm aus und deutete durch ein Zeichen an, dass sie schnell Platz nehmen soll, um an einer Sensation teilzunehmen, während einer seiner Assistenten ihm gerade einige Akten auf den Tisch legte.

Professor Sander war firm und sachkundig in seinem Fachgebiet und kannte sich erwartungsgemäß in der Szene gut aus. Es schien kein Thema zu geben, über das er nichts zu sagen hatte. Er verfügte über ein umfangreiches Wissen. Archäologie war nur eines seiner zahlreichen Wissensgebiete. Denn er war darüber hinaus ein vielseitiger und auf allen Gebieten der Ägyptologie und Orientalistik tätiger Gelehrter. Er liebte seine Arbeit leidenschaftlich und ging erstaunlich fürsorglich mit seinen Studenten um. Er hegte großes Interesse für ihre Ausbildung und all ihre Fragen. Die Ausbildung des Nachwuchses und die Förderung ihrer Kreativität waren ihm ein Anliegen von eminenter Bedeutung.

Er setzte großes Vertrauen in sie und führte sie geschickt in die Geheimnisse der ägyptischen Archäologie ein. Das war eine der Ursachen, weshalb sie wiederum solch liebevolle Verehrung und die herzlichste Hochachtung für ihn hegten und weshalb die Zahl der Praktikanten aus aller Welt von Jahr zu Jahr wuchs.

„Die Archäologie“, sagte er voller Zuversicht „benötigt in nächster Zukunft viele begabte und findige junge Wissenschaftler“. Es ist bei weitem noch nicht alles erforscht. Vieles liegt noch im Verborgenen. Auch heute werden immer wieder neue Königsgräber entdeckt und die Fundamente von verloren geglaubten Pyramiden wiedergefunden. Der ägyptische Boden wird bei einigen Generationen von Archäologen für viele Überraschungen sorgen.

Es herrschte Ruhe, während er einen Blick auf die Akten warf. Die blauen Augen verengten sich plötzlich zu zwei schmalen Schlitzen, als täte die Schrift in den Augen weh.

Hastig rückte er seine Brille zurecht und sagte voller Stolz:

„So wie es den Anschein hat, haben wir es endlich Mal mit einer Sensation zu tun!“

„Seht euch das gut an!“, sagte er fast außer sich vor Begeisterung, „Was für ein Gewinn! Es ist, wenn ich es in ein einziges Wort fassen soll, Wahnsinn!“

Ein Hauch von Bewunderung hatte sich auf das Flüstern der Studenten gelegt. Dann folgten erstaunte Ohs und Rufe der Erleichterung.

Es ging um eine der spektakulärsten Fahndungsaktionen der letzten Jahrzehnte. Gestern war der Ermittlungsgruppe „Wüstenfuchs“ der europäischen Kriminalpolizei (EKP) ein Erfolg gelungen. Hochwertige archäologische Fundstücke in ungewöhnlicher Menge und von einem enormen Schwarzmarktwert haben Zollfahnder am Frankfurter Flughafen entdeckt. Sie wurden vorerst in einer Lagerhalle sichergestellt. Die langwierigen Ermittlungen hatten einen Hehlerring ausgehoben, der seit Jahren in ganz großem Stil gestohlene archäologische Funde angekauft hatte. Die Ermittler sprachen von hochrangigen Persönlichkeiten, die als Kopf dieses großangelegten Ringes gelten. Bei dem Einsatz wurden zwei Prominente festgenommen. Gegen weitere Tatverdächtige erging Haftbefehl. Die Arbeit der Ermittler war noch nicht beendet. Man könne davon ausgehen, dass der Täterkreis noch größer als anfangs angenommen war. Professor Sander vermutete, dass es sich bei den jetzigen Festgenommenen um die Spitze eines Eisberges handelte. Dank der guten internationalen Zusammenarbeit konnten nicht nur zahlreiche Fundstücke gesichert, sondern zugleich die Route des international organisierten Schmuggels archäologischer Fundstücke festgemacht werden.

Er war total erregt, denn bei einigen entdeckten Kunstgegenständen könnte es sich um Diebesgut aus der Ausgrabungsstätte Abusir handeln. Schließlich leitete er seit Jahren diese Ausgrabungsstätte. Es handelte sich um erlesene Kunstgegenstände und alte Münzen von unschätzbarem Wert und unvergleichlicher Schönheit, die vor Jahren geplündert worden waren.

Eine wahre Sensation für jeden Liebhaber des Altertums und der Numismatik, der Münzenkunde. Und nun waren sie in Deutschland, einer Drehscheibe des illegalen Antikenhandels, beschlagnahmt worden!

Seit Jahren versuchte Professor Sander auf das rätselhafte Verschwinden ägyptischer Kunstschätze, die immer wieder im Kunsthandel auftauchten, aufmerksam zu machen. Für seine Warnungen und Ermahnungen wollte aber keiner der verantwortlichen Beamten in Ägypten zugänglich sein. „Wie oft habe ich darauf hingewiesen, in der Hoffnung, dass einer der Verantwortlichen mir ein Ohr leiht!“, wiederholte er erbittert und ein Schatten der Verärgerung huschte über sein Gesicht.

Alles hatte begonnen als Professor Sander vor einigen Jahren bei einer der Ausgrabungen auf Indizien stieß, die darauf hindeuteten, dass kriminelle Netzwerke von Räubern und Hehlern, skrupellosen Händlern und Beamten, Spekulanten und Millionären mit Kulturgütern und allem, was die Archäologie sonst noch hergab, illegalen Handel betrieben. Ein nicht versiegender Strom von geraubten Antiquitäten wurde passionierten Kunstsammlern in London, Paris, München, und anderen Drehscheiben des illegalen Antikenhandels, zu gigantischen Summen feilgeboten.

Ihm ging das gegen den Strich und er ließ nichts unversucht, den Dealern das Handwerk zu legen. Er putzte, begleitet von einigen sachkundigen ägyptischen Kollegen, die auch sehr viel Herzblut in die Wiedergewinnung geplünderter ägyptischer archäologischer Kunstwerke steckten, Klinken in den Chefetagen der verschiedenen Ministerien. Er musste die Herren von oben bis unten und von hinten bis vorne vollschleimen, erzählte er, während ein hilfloser Zorn in ihm hochstieg.

Sämtliche Instanzen waren sie rauf und runtergegangen. Sie waren mit dem Labyrinth von Treppen und Korridoren vertraut, denen man folgen musste, in der Hoffnung an die richtige Stelle zu gelangen. Und zu ihrer großen Überraschung und Bestürzung tat sich immer wieder eine noch wichtigere Instanz auf, die noch mehr zu sagen hatte als die vorherige. Das Problem war ja immer, dass sich jede dieser Instanzen für wichtig hielt, aber keine von ihnen für irgendetwas zuständig war! Jedem waren die Hände auf oberste Anordnung hin gebunden. Die Unbekümmertheit und Gleichgültigkeit um ihn herum sowie die ständigen leeren Versprechungen brachten Professor Sander zur Weißglut.

Wie etwa in Kafkas Romanen, so war die ägyptische Bürokratur. Alles endete mit einer ewigen Warterei und mit dem elendigen Herumplagen mit unliebsamem Papierkram vor dem Tor einer unsichtbaren Instanz.

Nach der Sitzung kam Professor Sander lächelnd auf Laura zu und bot ihr einen Rundgang durch die Ortschaft an.

„In den Arbeitszimmern riecht es verstaubt. Es ist ein herrlicher Tag und ich muss mir ein bisschen die Beine vertreten. Hätten Sie vielleicht Lust auf einen kleinen Spaziergang, Frau Talbrück? Schon mal von Abusir gehört?“, sagte er gleich mit einem geheimnisumwitterten Lächeln im Gesicht. „Einer der wichtigsten archäologischen Fundorte in der Region Kairo mit bahnbrechenden Erkenntnissen über die griechisch-römische Zeit sowie über die einst hier gelegene Stadt“, erklärte er fachkundig.

Gelassen rückte er seinen Wüstenhut zurecht, legte seine leitende Hand über ihre Schulter und sie steuerten auf die Ausgrabungsstätte zu. Laura verstand, dass er sie einweihen wollte.

Der Ort befand sich in ihrer direkten Nachbarschaft, er war hinter einem kleinen Sandhügel versteckt und von der Straße aus nicht leicht zu erkennen.

Von Sanders Haus kommend, bogen sie nach wenigen hundert Metern nach links in einen schmalen Pfad, der einen schmalen Wüstenstreifen durchschlängelte, vorbei an etlichen Gräbern und Grabungslöcher. Von irgendwoher drang schwach Musik, eine zarte Frauenstimme, die über die Dünen wehte und leicht in die Seele ging. Weitab vom Dorf war eine koptische Kirche zu sehen. Im Osten floss der Nil unbeirrt weiter.

Sie gingen einige Minuten schweigend nebeneinander her, waren aber keineswegs verlegen. So konnte sie in Ruhe sein Profil betrachten. Professor Sander war eine angenehme Person, die beruhigend auf sie wirkte. In seiner Gegenwart war ihr vom ersten Moment an wohl. Er bewegte sich sicher und gemächlich, so gemächlich, dass seine Schritte kein Geräusch im Sand machten. Laura bewunderte diese Ruhe.

Der glänzende Schimmer seiner Augen verriet sein gewissenhaftes Wesen, seinen Sachverstand und Scharfsinn. Von ihm ging die Aura des ewigen Forschers aus, der das Abenteuer liebte. Laura war beschwingt und genoss es, neben ihm durch prähistorische Grabbauten und Gräberfelder zu schlendern. Das gab ihr ein unbeschreibliches Gefühl, das an einen Nervenkitzel grenzte. Sie empfand alles sehr abenteuerlich.

„Genau hier führte von 1905 bis 1906 im Auftrag der Deutschen Orientgesellschaft der damals knapp 30 Jahre alte deutsche Ägyptologe, Georg Möller, Grabungen durch“, sagte er. Seine Stimme war von Stolz erfüllt.

Bei einem baufälligen Gemäuer hielt er an und sie blieben kurz im Schatten stehen.

Er sprach von mörderischen Rivalitäten zwischen den gierigen Plünderern und Grabräubern, die vom schnellen Reichtum träumten und in den Fundstätten ihr neues Eldorado sahen. Grabräuberei war für Kriminelle ein lukratives Geschäft geworden.

„Zweimal hintereinander wurde ich letzten Monat durch laute Schießerei geweckt. In einem Schacht vor dem archäologischen Fundplatz fanden die Grabungsarbeiter am nächsten Morgen die Leichen von drei blutüberströmten Wächtern“, erzählte er mit vor Aufregung geröteten Augen.

Es kursierten sogar Gerüchte, dass Marodeure, Dunkelmänner und sogar berüchtigte Sicherheitsmänner ihre Hände im Spiel hätten. Diese würden Familien mit ihren Kindern erpressen, für sie dort zu arbeiten.

Er selbst wurde mehrmals von ein paar ruppigen Typen mit Klappmessern bedroht, genötigt und schikaniert. Die Erinnerungen daran streifen immer wieder in seinen Gedanken umher. Er wird nie vergessen, wie sie einmal völlig durchdrehten, und ihm mit Drohgebärden ihre ganze Wut verbal entgegen schleuderten: „Du alter, verruchter Kolonialist! Bist du doch einer! Kümmere dich um deine Mumien und geh uns nicht auf den Geist mit deinem aufklärerischen Gehabe!“

Sie hatten seinen alten Geländewagen fast in Brand gesetzt, zum Glück waren ein paar mutige Grabungsarbeiter rechtzeitig zu Hilfe gekommen und hatten die Kerle weggescheucht.

Professor Sander hielt den Kopf gesenkt und stahl sich davon, ohne sich umzudrehen, in der Hoffnung, dass die erhitzten Gemüter endlich einmal herunterkühlten, während sie ihn weiter mit einem Kettenfluch, abgeschmackten Sprüchen und wüsten Beschimpfungen überschütteten.

„Bald wirst du dein Fett abkriegen. Dir wird widerfahren, was deinen Vorfahren widerfahren ist. Wir haben sie alle mit einem Tritt im hohen Bogen durch die Luft in ihre Heimat katapultiert“, raunten sie mit streitlustigem vorgeschobenem Kinn, die Stöcke in der Hand wedelnd. Diese Geste deutete etwas extrem Erniedrigendes an.

„Die haben wir weggejagt mit einem Stock im A…..“, Professor Sander verstummte mitten im Wort und ließ den Satz unvollendet. „Verzeihen Sie meine Direktheit“, sagte er leise und blickte bloß düster drein.

Später war ihm aufgegangen, dass sie ihn eigentlich lieber tot gesehen hätten. „Man sieht sich, alter Kolonialist! Mach dich auf etwas gefasst! Du bist Bläser und wir sind Trommler und die langen Nächte bringen uns bestimmt zusammen“, zischten sie ihm zornig zu und fuhren sich mit der Handkante an die Kehle, ganz so, als wollten sie ihn mit dem Gurkeldurchschneiden drohen, sollte er ihnen in irgendeiner Art ins Gehege kommen.

Dies wurde natürlich von umstehenden Dorfbewohnern wahrgenommen, die offensichtlich in Angststarre verfielen. Niemand rührte sich. Angst um sich und die eigene Familie brachte hier oft die Menschen zum Verstummen. Wer es wagte, sich mit ihnen anzulegen, dem brachen sie sämtliche Knochen im Leib und er landete elendiglich in der Gosse. Allein der Gedanke daran war äußerst unbehaglich und ließ einem ein paar kalte Schauer den Rücken herunterrieseln.

„Mein einziges Vergehen war, dass ich versuchte, das Plündern zu bekämpfen“, sagte er, während in den Winkeln seiner Stimme noch immer die Überreste einer bitteren Enttäuschung steckten. Professor Sander fuhr sich mit der Hand durchs Haar und rubbelte sich mit beiden Händen das Gesicht, so als wollte er diese schlechten Erinnerungen ein für allemal wegwischen.

Einen Moment lang brachte er keinen Ton heraus, bis Laura verwundert fragte:

„Und die Polizei?!“

Er schaute sie über seine Brille hinweg an, darauf bedacht, ihr sein Entsetzen nicht anmerken zu lassen. „Nichts! Sie tat nichts“, erwiderte er mit einem leichten Schulterzucken und einem bedauernden Lächeln, das sagen sollte „wen juckt´s?“.

Professor Sander hatte sich tatsächlich oft persönlich bei der Polizei beschwert, aber „no answer no comment.“ Als er erneut mit Hilfe der Deutschen Botschaft seine Beschwerden vorbrachte und eine ausführliche gerichtliche Untersuchung anleiern wollte, bekam er von der ägyptischen Seite ein kurzangebundenes „Ma tiqlaqusch! Das lasst mal unsere Sorge sein“ zu hören.

Er schluckte seinen Verdruss hinunter und wartete voller Geduld darauf, dass der Vorgang schneller vonstatten ginge, als man ihm versprochen hatte.

Seitdem ist viel Wasser den Nil hinuntergeflossen und nahm die Beschwerden unwiederbringlich mit sich. Man hatte nicht den Eindruck, dass die Polizei sich in ihrem Tatendrang überschlug, um irgendetwas herauszufinden.

Schikane und systematisches Plündern blieben unverändert und niemand scherte sich darum. Dies musste die Fachcommunity immer wieder mit großer Sorge und unendlichem Bedauern zur Kenntnis nehmen.

Plündern war nun keine Seltenheit mehr in Ägypten, eher wurde sie zu einer gewerbsmäßigen Obsession. Die Lebensbedingungen wurden immer härter und die Menschen immer verzweifelter. Die armen Menschen in den Dörfern hatten die Nase voll und wollten auch endlich mal etwas von den Reichtümern ihres Landes haben.

Da schienen ihnen selbstverständlich alle Mittel recht zu sein, um irgendwie ihre Misere zu lindern und die Drangsale des Lebens überstehen zu können. Die Not hat eigene Gebote, so sagt man.

„Wenn die da oben sich gewissenlos über alles hinwegsetzen, warum soll uns hier unten dies verweigert bleiben. Wir nehmen einfach, was uns zusteht und was uns die „Mutter der Welt“ in ihrem Inneren verborgen hält“, dachten sie sich ganz einfach.

Für diese Menschen war Plündern, als würde jemand seine eigene Wohnung ausrauben: ein abwegiger Gedanke, aber lange kein Verbrechen, das ihnen ein schlechtes Gewissen bereitete oder sie zu schlechten Menschen machen sollte.

So gruben sie nicht nur in den archäologischen Stätten, sie gruben selbst unter ihren eigenen Häusern, die sich in deren Nähe befanden. Seit einige Hobby-Ausgräber und Glücksritter von den Schätzen einer versunkenen Stadt gesprochen hatten und sichere Informationen über ein sagenhaftes, reiches Königreich, das ausschließlich Goldmünzen und Edelmetall als Währungsbasis hatte, kursierten, ließen sie keinen Stein mehr auf dem anderen. Man hörte nur noch schabende Geräusche und emsiges Klopfen. „Eine winzig kleine Schatulle davon, so klein wie eine Streichholzschachtel, würde reichen, um ein Leben wie ein Pascha zu führen, mit allem was dazu gehört. Wir werden uns im Gold wälzen und uns unseres Lebens erfreuen“, hörte man sie mit leuchtenden Augen tuscheln.

„Neulich wurde eine ganze Familie tot ausgegraben. Das Haus stürzte über ihnen ein, als sie nach einem erhofften Schatz buddelten. Die ganze Familie wurde verschüttet. Keines der Familienmitglieder konnte lebend gerettet werden. Als die Rettung kam waren sie alle bereits tot. Sie wollten schnell reich werden und der Traum des verborgenen Schatzes, der funkelnden Münzen und Edelsteine war ihnen zum Verhängnis geworden“, erzählte Professor Sander. Das Entsetzen stand ihm unverkennbar ins Gesicht geschrieben.

„Wie makaber!“, bemerkte Laura betroffen.

„Gott habe sie alle selig! Das Glück stand ihnen einfach nicht zur Seite. Glück ist wie eine launische Frau, den einen lächelt sie vielversprechend an, dem anderen zeigt sie eine eiskalte Schulter, hörte man einige Nachbarn sagen, die bei der Bergung der Leichen dabei waren. Unbekümmert und ohne jegliches Anzeichen der Reue oder Missbilligung dieser Taten, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt“, erinnerte sich Professor Sander.

„Not macht viel Verbotenes erlaubt. Welchen Preis sind die Menschen bereit zu zahlen, auf der Suche nach den Schätzen dieser Welt?“, fragte Laura etwas verlegen mit gezwungener Heiterkeit, um seine Verärgerung etwas zu mildern.

Er ging auf ihren heiteren Ton nicht ein. Er gab sich Mühe, leichthin zu sprechen, doch seine Stimme versagte. Sie klang kummervoll und gereizt.

Schweigend gingen sie einige Augenblicke weiter, ehe er mit gespielter Gelassenheit Laura einen kurzen entschuldigenden Seitenblick zu warf.

„Sorry, es ist nicht richtig von mir, dass ich Ihnen gleich am ersten Tag die Ohren volljammere, aber es wäre noch schlimmer, wenn ich die hässliche und harte Seite des Jobs verschwiege. Ausgrabungsstätten sind einfach kein Ponyhof“, sagte er in dem schwachen Bemühen, seine Frustration zu kaschieren.

Mit diesen Worten gingen sie zurück zu Sanders Haus, das zwischen den welligen Dünen lag. Man konnte erkennen, dass er trotz allen Ärgers, nicht ungern hier war. Laura sah, wie er sich auf der Terrasse seiner Wohnung still, mit übereinandergeschlagenen Beinen, an dem atemberaubenden Sonnenuntergang über dem Nil erfreute. In einer Atmosphäre von Wein und Zigarrenrauch glitt sein Blick über saftgrüne Palmen Richtung Horizont, wo Sonne, Nil und Himmel sanft zu verschmelzen schienen. Es war fast zu intensiv, um echt zu sein und bot ein unglaublich romantisches Gemälde dar, als würde man den makellosen Körper seiner Geliebten betrachten. Kein Wunder, dass es den gebürtigen Deutschen an den Nil verschlagen hatte.

„Ein recht angenehmes Leben haben Sie hier!“, sagte sie zu ihm amüsiert, aber doch herzlich und er schien das gern zu hören.

Professor Sander schätzte seine Zeit in Ägypten alles in allem als die glücklichste seines Lebens, so erzählte er Laura. Er hatte etliche Länder bereist und er kannte wunderschöne Orte, aber keiner berührte ihn so sehr wie das Land am Nil. Wenn der Vollmond am Sternenhimmel stand, der Wind im Laubwerk der Palmen wisperte und er einen guten Wein trank, dann war alles für ihn wie verzaubert. Ein Balsam für seine strapazierte westliche Seele. „Der Himmel auf Erden. Dem Charme des Nil muss man einfach erliegen“, sagte er, die Augen vor Wohlbehagen glänzend.

Bereits als Student, sehnte er sich nach Ländern jenseits von Europa. Ihm war damals bewusst gewesen, dass er auf viele Fragen keine Antwort hatte, aber eine wusste er ganz genau: der Sinn des Lebens ist, den Schlüssel zum Glück zu finden und für ihn war der Orient der Ort, wo dieser Schlüssel versteckt lag.

Schon damals hatten ihn der Nil und das Leben an dessen Ufer fasziniert. Seiher gab es kein Entrinnen mehr; für ihn hatten das vorgenormte Leben und die materialistische Welt des Westens jeglichen Zauber verloren. Der Nil war die Quelle der schrankenlosen Freiheiten geworden. Wie tief er in einer Welt voller Zwänge und Ruhelosigkeit steckte und wie sinnlos und hohl sich diese Welt anfühlte, bemerkte er erst, als er das erste Mal den Nil entlangschipperte. Wie im sanften Schoß einer Mutter, so geborgen fühlte er sich auf seinem Boot im Nil. Das stetige Flüstern des Windes in den Segeln beruhigte seine Sinne. Es erfüllte ihn mit Wohlgefühl, eine nie gekannte Wärme umspülte sein Herz.

Es war schlechthin die spannendste und zugleich lohnendste Reise seines Lebens, denn sie war eine Reise zu sich selbst. Hier fühlte er sich grenzenlos glücklich. Hier hatte er die innere Ruhe erlangt, die in der westlichen Welt umso unwiederbringlicher schwand, je mehr er ihr hinterherjagte.

Er machte die beglückende Erfahrung, dass er plötzlich nicht mehr mit sich und der Welt unzufrieden war. Der Nil hatte ihn durch seine Sanftheit mit beidem ausgesöhnt.

Das erklärte auch seine besondere Vorliebe für seine Arbeit. „Die Grabungen sind mein Leben. Je tiefer ich in der Erde grabe, desto näher komme ich meinem Sehnsuchtsbild von Liebe, Nestwärme und glückseligem Dasein in einer von der Moderne ungeschändeten Welt. Ich kam nicht wegen der Arbeit in die Ausgrabungsstätten, sondern aus Liebe zur Liebe“, stellte er klar.

Laura hörte zu und ließ den feinen Sand durch ihre Finger gleiten. „Wann wird meine Liebe grünen?“, dachte sie sich in diesem Moment.

Begegnung

Es gibt Tage, die vergisst man sein Leben lang nicht. Und heute war so ein Tag. Es war der Tag, an dem Laura ihm im alten Fahrstuhl des Hauses begegnete.

„Da ist er“, sagte ihr unversehens eine innere Stimme, während der Fahrstuhl langsam nach oben ruckelte. Sie hätte schwören können, dass sie ihm noch nie vorher begegnet war, doch entdeckte sie Vertrautes in seinen Zügen, als sie für eine Sekunde einen verstohlenen Blick auf sein Gesicht erhaschte. Sie glaubte, ihn schon lange zu kennen.

Seine dichten, glänzend schwarzen Haare waren straff nach hinten gebürstet und lenkten ihre Aufmerksamkeit auf seine dunklen Augen, die von ebenfalls dunklen Augenbrauen und Wimpern umrahmt waren. Ja, es waren seine schwarzen lachenden Augen, die ihre Aufmerksamkeit fesselten. Als er ihr kurz in die Augen sah, machte ihr Herz einen heftigen Satz. Es war als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Ihre Ohren fingen an zu rauschen und ihre Knie zitterten. Sie dachte, sie würde bewusstlos zusammenbrechen und samt Fahrstuhl nach unten rauschen. Sein Blick war wie ein Elektroschock stärkster Ladung, der ihr Herz stark zusammenzog und wieder rasen ließ, in heftiger Erregung, die ihre Brust kaum verhüllen konnte. Sie spürte, wie ihre Wangen vor Verlegenheit glühten, aus Angst er würde das Pochen ihres Herzens mitbekommen und in ihr flatteriges Innere schauen.

Er lächelte, besser gesagt seine Augen lächelten auf eine Art, die ihr das Gefühl gab, als könnte er in die tiefsten Winkel ihrer Seele blicken und als bemerkte er ihren inneren Aufruhr.

Unbehaglich blickte sie sich im Fahrstuhl um und überlegte, wie sie ihn am besten ansprechen könne, ohne gegen die vorherrschenden guten Sitten zu verstoßen. Es fiel ihr aber keine gute Gesprächseröffnung ein. Mit einem Ruck hielt der Fahrstuhl plötzlich und sie fiel ihm in die Arme.

„A wild Egyptian elevator, it hasn´t even asked us, whether we are made for each other! Whether we want something from each other“, sagte er in makellosem, geschliffenem Englisch mit einem lässigen Grinsen und einem verschmitzten Leuchten in den Augen. Seine Stimme entsprach seiner äußeren Anmut. Seine Worte schienen sie völlig zu überrumpeln. Er sah förmlich, wie sich ihre Gedanken überschlugen. Sie sah ihn an und war wie verloren. Alles andere versank.

„Kismet, Maktub - Schicksal!!?“, entfuhr es ihr, um selbst auch die Situation mit Humor zu meistern. Sie räusperte sich verlegen. Rote Flecken erschienen auf ihrem Gesicht. Ihre eigene Stimme klang ganz seltsam in ihren Ohren, weil sie nie so gesprochen hatte, weil ihr etwas ausrutschte, was sie nicht kontrollieren konnte und weil sie das ungute Gefühl beschlich, sie würde nicht rational handeln.

Bei Laura, dem kühlen und sachlichen Typ, hatte der Verstand immer das Kommando gehabt. Alles, was dem Verstand nicht unterlag, war fatal.

Er lächelte wieder, um ihr die Verlegenheit zu nehmen. Sein Lächeln war einnehmend und verlieh ihm eine sympathische Ausstrahlung, die seine Gegenwart wohltuend erscheinen ließ.

Sie merkte, wie sie etwas zögerlich sein Lächeln erwiderte und ihre Hand ausstreckte, um Gelassenheit bemüht. „Laura, bin die Neue, wohne oben auf der Terrasse!“, sagte sie nach einer Weile und versuchte, ihre Gefühle mit keinem Wort zu verraten. Ohne auf die Antwort zu warten, eilte sie zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppen hinauf, die das letzte Stockwerk mit der Terrasse verbanden.

„Sherif ist mein Name und ich wohne eine Etage tiefer“, warf er ihr hinterher.

Zögernd brachte er die Frage heraus, ob sie gerne mit ihm und Freunden essen möchte.

„Heute Abend geben wir eine kleine Party. Wir essen zusammen oben, auf der Terrasse. Ich würde mich freuen, wenn du kommst!“

Es folgte ein Moment des Schweigens, das sich eine Weile hinzog. „Wie schaut es aus?“

Sie drehte sich langsam um, öffnete den Mund, aber sie brachte kein Wort heraus. Ihr Herz raste irgendwie und schnürte ihr die Kehle zu. Ein klein wenig Farbe stieg in ihre Wangen.

„Komm einfach vorbei, wenn dir danach ist, eine Schüssel wird schon für dich übrigbleiben“, rief er ihr scherzend hinterher und schaute ihr zu, wie sie weiter leichtfüßig die Treppe hinaufflog, als wäre sie schwerelos.

Er wünschte sich sehnlichst, dass sie kommen würde.

Oben angekommen, drehte sie sich halb um und sah, dass er ihr kopfschüttelnd immer noch hinterher blickte und auf eine Antwort wartete. Er schob in gespielter Enttäuschung seine Unterlippe vor und zog leicht eine bittende Grimasse. Sie sah die gespannte Erwartung in seinen Zügen.

Sie wischte sich die hellblonden Haarsträhnen aus dem Gesicht, nickte knapp und hielt dann den Daumen mit einem Zwinkern hoch. Sie bemühte sich, ihre Begeisterung zu zügeln, aber ihre blauen Augen sprachen Bände. Ein Lächeln umspielte ganz langsam ihre Lippen und ihre Augen leuchteten. Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich keuchend mit dem Rücken dagegen.

Eine nie zuvor gefühlte Verliebtheit flammte in ihr auf. Sie hatte nie geglaubt, solcher Empfindungen überhaupt fähig zu sein. Sie, die immer dachte, dass es nichts in der Welt gebe, was ihre unumstößliche Vernunft aus dem Gleichgewicht bringen könnte, streckte nun beide Armen in den Himmel, quiekte vor Freude und jubilierte innerlich.

Sie wusste, dass der Verstand nicht mehr das Kommando hatte. Aber das war ihr in diesem Moment egal. Sie wusste nur, dass sie sich im warmen Strahl der Liebe sonnte und dass sie es genießen wollte, solange es währte. Sie schloss ihre Augen ganz fest, so als wollte sie das neue Gefühl aufs Tiefste auskosten.

„Ich fürchte, ich habe nicht gründlich durchdacht, was ich tue. Ich werde mich aber nicht umstimmen lassen“, murmelte sie zu ihrer inneren Stimme, als wollte sie sich überzeugen. Wie sagte ihre Oma Hildegart immer: „Der Blitz schlägt nicht zwei Mal in denselben Baum ein.“

Sie senkte ihre Lider, als gäbe sich der vernünftige Teil in ihr geschlagen und lauschte auf das wilde Klopfen ihres Herzens in der Hoffnung recht zu behalten.

„Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt“, dachte sie.

Sie schwieg einen Moment, weil sie denjenigen bewunderte, der diese unsterblichen Worte erdacht hatte. Blaise Pascal.


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