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Einleitung Schlacht um Charkow – Ein General der Waffen-SS verweigert den Befehl des »Führers«

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Nur zwei Wochen nach der Kapitulation der Reste der 6. Armee in Stalingrad am 2. Februar 1943 schien der deutschen Wehrmacht im Raum Charkow eine zweite militärische Katastrophe bevorzustehen. Seit Anfang Februar strömten die Panzer gleich dreier sowjetischer Armeen über Don und Oskol nach Westen. Zwei deutschen Divisionen, die noch ihre Stellungen in der viertgrößten Metropole der Sowjetunion hielten, drohte die Einschließung.1 An ein Ausweichen schien nicht zu denken. Denn ein Befehl des »Führers« verpflichtete am 13. Februar nochmals ausdrücklich die beiden Großverbände zum Halten von Charkow, und niemand im Hauptquartier der neuen Heeresgruppe »Süd« konnte sich vorstellen, dass der unsinnige Haltebefehl des Diktators keinen Gehorsam finden würde.2 Gehörte doch zu den Verteidigern von Charkow auch die 2. SS-Panzergrenadier-Division »Das Reich«, die zusammen mit der 1. SS-Panzergrenadier-Division »Leibstandarte Adolf Hitler« die Stammtruppe der Waffen-SS bildete. Nicht nur im Reich, auch in ganz Europa genoss der bewaffnete Arm der SS inzwischen den Ruf einer militärischen Elite. Soldaten der Waffen-SS galten vor allem als radikale Kämpfer und als williges Instrument des NS-Regimes. Sie würden keine Gefangenen machen, glaubte damals die deutsche Bevölkerung nach einem Bericht des Sicherheitsdienstes zu wissen, und jeden Gegner restlos vernichten.3 Von diesen Männern, die darauf eingeschworen schienen, ihrem Führer bedingungslos zu folgen, konnte somit erwartet werden, dass sie in Charkow bis zur letzten Patrone kämpfen würden, zumal die Verteidigung der Stadt in der Hand eines bewährten Generals der Waffen-SS lag. Der ehemalige Reichswehrgeneral Paul Hausser war vermutlich nie ein überzeugter Nationalsozialist gewesen, hatte sich aber wie viele Generale mit dem Regime und seinen Verbrechen so weit arrangiert, dass er seit 1935 unter der doppelten Sigrune der SS eine zweite militärische Karriere machen konnte, die ihn inzwischen an die Spitze des I. SS-Panzer-Korps gebracht hatte.

Erst zwei Wochen zuvor war die Masse von Haussers neuem Armeekorps aus Frankreich an die wankende Ostfront verlegt worden.4 Hitler hatte die größten Hoffnungen auf seine Prätorianergarde gesetzt, die mit dem besten Material ausgestattet war, das die Rüstungsschmieden des Reiches zu bieten hatten. Doch statt eine kraftvolle Gegenoffensive führen zu können, waren die beiden Divisionen des SS-Korps schnell von den numerisch überlegenen Sowjets in die Verteidigung gedrängt worden. Müsste nun auch noch Charkow aufgegeben werden, würde nicht nur ein wichtiger Pfeiler der Südfront verloren gehen. Schlimmer noch! Der sorgfältig gepflegte Nimbus der Waffen-SS als unbezwingbare militärische Elite des Regimes wäre zumindest stark angeschlagen. Doch soldatisches Prestige, fanatischer Einsatzwille und elitäres Selbstbewusstsein halfen wenig gegen Kälte, Schnee und einen Gegner, der ständig neue Divisionen in den Kampf werfen konnte.

Im Verlauf des 14. Februar 1943 verschärfte sich die Lage um die Stadt. Die Sowjets saßen bereits in den Außenbezirken, und nur noch ein dünner Schlauch verband am nächsten Morgen die in Charkow kämpfenden Teile des SS-Panzerkorps und der Infanterie-Division »Großdeutschland« mit der übrigen Front. Nachdem erst zwei Wochen zuvor eine ganze Armee des Heeres an der Wolga zugrunde gegangen war, konnte sich niemand vorstellen, dass Hitlers Prätorianer ihrem Führer ein ähnliches Fanal eines heroischen Untergangs verweigern würden. Doch der ehemalige Generalstabsoffizier Hausser, der als Vater der Waffen-SS galt und seit einer schweren Gesichtsverletzung eine Augenklappe tragen musste, dachte in anderen Kategorien. Wenn man die sowjetische Winteroffensive noch vor dem Dnjepr zum Stehen bringen wollte, dann nur mit einer beweglichen Gefechtsführung. Hausser tat das militärisch Vernünftige. Entgegen dem ausdrücklichen Willen des »Führers« erteilte der kampferprobte SS-General am 15. Februar 1943 um 13 Uhr seinen noch in Charkow ausharrenden Truppen den Befehl zum Rückzug aus der Stadt. Gegenüber Himmler und anderen NS-Größen hatte Hausser zwar wiederholt seine Eigenwilligkeit bewiesen. Kaum jemand hätte jedoch erwartet, dass der 63-jährige Offizier in dieser verzweifelten Krisenlage den Schneid aufbringen würde, genau das zu tun, wozu sich die Generalfeldmarschalle Manstein und Paulus im Falle der eingeschlossenen 6. Armee nicht hatten durchringen können. Am 15. Februar 1943 geschah das scheinbar Unfassbare. Hausser gab im letzten Augenblick den Rückzugsbefehl und rettete damit nicht nur seine alte Division »Das Reich«, sondern wohl auch die gesamte deutsche Südfront.

Hitlers befürchtetes Donnerwetter blieb aus. Dass Joseph Goebbels am selben Tag in seinem Tagebuch die Hoffnung äußerte, die Waffen-SS möge es erst gar nicht auf eine Einkesselung in Charkow ankommen lassen, lässt sogar darauf schließen, dass die Erwartungshaltung im engeren Kreis des »Führers« eine ganz andere war.5 Zum allgemeinen Erstaunen akzeptierte der Diktator, wenn auch grummelnd, Haussers Entscheidung und beließ dem General sogar sein hohes Kommando. Dass von allen Beteiligten allein der General der Gebirgstruppen, Hubert Lanz, der Haussers Maßnahme nachträglich gebilligt hatte, als verantwortlicher Armeeoberbefehlshaber sein Kommando abgeben musste, quittierte man in Heereskreisen mit Sarkasmus. Nur ein General der Waffen-SS könne es sich eben leisten, ungehorsam zu sein, kommentierte etwa Feldmarschall Erich von Manstein, der Oberbefehlshaber der verantwortlichen Heeresgruppe »Süd«, den erstaunlichen Vorgang.6

Als allerdings Haussers SS-Panzerkorps, nach der Ankunft der 3. SS-Panzergrenadier-Division »Totenkopf« endlich vollständig versammelt, nur vier Wochen später Charkow zurückeroberte, zeigte sich Hitler sehr nachtragend und überging den eigensinnigen General. Demonstrativ ließ er dagegen seine Propaganda den Kommandeur der SS-»Leibstandarte«, Oberstgruppenführer Sepp Dietrich, als Helden von Charkow feiern und verlieh dem alten Haudegen aus der gemeinsamen Kampfzeit die Schwerter zum Ritterkreuz.7


Oberstgruppenführer Sepp Dietrich und Adolf Hitler nach der Rückeroberung Charkows bei einer Ordensverleihung auf dem Obersalzberg am 27. März 1943.

Nach dem Krieg hat Paul Hausser seinen fraglos spektakulären Ungehorsam vor Charkow als willkommenen Beleg für die soldatische Eigenständigkeit der Waffen-SS dargestellt, und noch anlässlich der Bestattung Haussers im Dezember 1972 nannte der ehemalige SS-Brigadeführer Otto Kumm vor einer riesigen Trauergemeinde den Entschluss von Charkow ein zweites »Tauroggen«.8 Man war sich in diesen Kreisen gegenüber allen Anwürfen der Nachkriegsöffentlichkeit einig. Die Männer und Führer der Waffen-SS hätten keineswegs innerlich dem Regime nahegestanden und sklavisch jeden Befehl Hitlers ausgeführt. Ihre Divisionen hatten im Verlauf des Zweiten Weltkrieges an jeder Front in Europa gekämpft, und kaum eine Division des Heeres hatte es nicht begrüßt, die Waffen-SS an ihrer Seite zu haben. In Wahrheit seien sie daher Soldaten wie andere auch gewesen und nur formal ein Teil der SS.

Eine willkommene Stütze fand diese Kernthese der Ehemaligen durch die Behauptung, dass die ständigen politischen Indoktrinationsversuche Himmlers ebenso wie die Schulungsunterlagen seines Rasse- und Siedlungshauptamtes nie wirklich ernst genommen worden seien. Der Weltanschauungsunterricht habe, so Hausser in seinem großen Rechtfertigungswerk, in der Truppe kaum Wirkung erzielt.9 Der Mann der Waffen-SS habe sich stets als Träger einer »neuen soldatischen Idee« gefühlt, doch »nie als Ordenskrieger«, beteuerte Felix Steiner, die zweite große Leitfigur der Waffen-SS.10 Selbst ein sachlicher und insgesamt kritischer Autor wie der Spiegelredakteur Heinz Höhne schien noch in den 1960er-Jahren diese Argumentation zu bestätigen, wenn er von einer im Kriegsverlauf immer stärker werdenden Distanz zwischen der Truppe und Himmler sprach.11

Von den Gräueltaten und den Massenmorden der Allgemeinen SS habe man nichts oder nur sehr wenig gewusst. Robert Brill, der ehemalige Hauptabteilungsleiter des SS-Ergänzungsamtes, dürfte vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg seine Richter zum Erstaunen gebracht haben, als er erklärte, die Alliierten hätten den Männern der Waffen-SS mit der Aufdeckung von Himmlers Verbrechen »ein großes Rätsel aufgegeben«.12 Viele andere Schriften ehemaliger Soldaten der Waffen-SS flankierten derartige Schutzbehauptungen. So scheute sich etwa Albert Frey, der vormalige Kommandeur des 1. SS-Panzergrenadier-Regimentes, nicht, in seinen Memoiren zu behaupten, erst kurz vor Kriegsende von der Existenz des Konzentrationslagers Mauthausen Kenntnis erhalten zu haben.13 Gewiss aber war Frey als langjähriger Angehöriger des Führerkorps der SS-»Leibstandarte« am 7. September 1940 im lothringischen Metz dabei gewesen, als Himmler unverblümt von den Massenerschießungen der SS-Totenkopfverbände in Polen gesprochen hatte.14

Ein weiteres beliebtes Element der Nachkriegsapologie war die Behauptung der Ehemaligen, die Waffen-SS sei die erste europäische Armee gewesen, die Europa vor dem Bolschewismus zu verteidigen versucht habe. Exgeneral Felix Steiner sprach sogar von einer »europäischen Schicksalsgemeinschaft«, die alle europäischen Freiwilligen umfasst und innerlich verbunden habe.15 Tatsächlich dienten bis Kriegsende 200.000 Ausländer allein aus den besetzten Gebieten Westeuropas in ihren Reihen, doch jenseits des propagandistischen Topos eines gemeinsamen Kampfes gegen die bolschewistische Barbarei existierte keine echte gemeinsame geistige Grundlage. Hitler wusste konsequent jede konkrete Zusage über die Gestaltung eines nationalsozialistischen Nachkriegseuropas zu vermeiden, und mit Himmlers Traum eines pangermanischen Europas mochten sich selbst die niederländischen Nationalsozialisten um Anton Adriaan Mussert nicht anfreunden.16

Nachweisbare Kriegsverbrechen der Waffen-SS wurden in späteren Darstellungen entweder gar nicht erst erwähnt oder wie im Fall des Massakers von Malmedy/Baugnez bagatellisiert.17 Die Wahnsinnstat von Oradour-sur-Glane, der im Juni 1944 642 Männer, Frauen und Kinder des französischen Dorfes im Limousin zum Opfer gefallen waren, deuteten die Ehemaligen zum Exzess eines einzelnen SS-Offiziers um, während Erich Kernmayr, ein Angehöriger der SS-»Leibstandarte«, wiederholt von seinen alten Kameraden gedrängt wurde, die angebliche Ermordung von 4000 russischen Kriegsgefangenen im Juli 1941 in seinen Memoiren zu verschweigen.18

Den wegen massiver Kriegsverbrechen angeklagten Tätern gelang es sogar, sich als Opfer einer alliierten Siegerjustiz zu inszenieren. So schrieb etwa im Oktober 1952 der ehemalige SS-Obersturmbannführer Jochen Peiper voller Larmoyanz in seiner Landsberger Gefängniszelle: Wer anfänglich noch gemeint habe, dass einer blindwütigen Politik die Augen durch Wahrhaftigkeit zu öffnen seien, bald erfahren musste, dass dort nur wenig Gerechtigkeit zu erwarten sei, wo zu demagogischem Zweck eine blutrünstige Figur an die Wand gemalt werden solle.19

Den Verfolgungen und Verunglimpfungen nach dem Krieg standen die Ehemaligen gekränkt und fassungslos gegenüber.20 Doch bald immer besser untereinander vernetzt, verteidigten sie mit einer Vielzahl von Veröffentlichungen ihr angeblich sauberes Soldatentum und erlangten in der Bundesrepublik sogar zeitweilig das Deutungsmonopol in der Kriegsgeschichtsschreibung der Waffen-SS.21 Demnach sei sie eine militärische Elite gewesen, die während des Krieges die wiederholte Anerkennung der Heereskameraden gefunden habe, auch wenn renommierte Heerführer wie Erich von Manstein später nichts mehr davon wissen wollten. Über die drei Stammdivisionen der Waffen-SS legten ehemalige Offiziere auf der Basis von Erlebnisberichten und Militärakten bis Anfang der 1980er-Jahre mehrbändige Divisionsgeschichten vor, die das kämpferische Heldentum der SS-Soldaten und ihr Leiden sehr detailreich beschrieben. Obwohl die Verfasser auch Aktenmaterial verarbeiteten und gerne aus etlichen lobenden Tagesbefehlen der vorgesetzten Heeresbefehlshaber zitierten, war der wissenschaftliche Wert dieser Publikationen doch eher gering.22 Den Anforderungen an eine präzise kriegsgeschichtliche Studie entsprach noch am ehesten die 1982 erschienene zweibändige Geschichte der 12. SS-Panzer-Division »Hitlerjugend« des ehemaligen Ersten Stabsoffiziers der Division Hubert Meyer. Sie liefert immerhin nüchterne und akribisch recherchierte Gefechtsbeschreibungen auch unter starker Berücksichtigung britischer, kanadischer sowie amerikanischer Militärarchivalien und Tagebücher.23 Über die Beteiligung etlicher Divisionsangehöriger an Kriegsverbrechen in den ersten Tagen der Invasion schweigt sich der Verfasser allerdings ebenso aus wie seine alten Waffenkameraden.

Im Kern waren die Überlebenden der Waffen-SS mit ihrem Narrativ von den »Soldaten wie andere auch« in der Bundesrepublik so erfolgreich, dass selbst ein deutscher Bundeskanzler noch im April 1985 in einem Brief an US-Präsident Ronald Reagan sich zu behaupten traute, die auf dem Bitburger Soldatenfriedhof begrabenen 49 Angehörigen der Waffen-SS seien als junge Soldaten ebenso Opfer gewesen wie alle Soldaten des Zweiten Weltkrieges.24

Dabei hatte der Hamburger Historiker Bernd Wegner schon 1982 seine inzwischen als Grundlagenwerk geltende Dissertation über »Hitlers politische Soldaten« veröffentlicht und darin klar nachgewiesen, dass die Angehörigen der Waffen-SS bei allem in ihrer Mehrheit wohl untadeligen Verhalten aufgrund ihrer strukturellen Einbindung in das NS-Unrechtssystem, der weltanschaulichen Prämissen ihres Soldatentums und der politischen Zielsetzungen der Schöpfer ihrer Truppe zu keinem Zeitpunkt »Soldaten wie andere auch« gewesen seien. Wegners Fazit lautete: Die Geschichte der Waffen-SS könne nicht einfach abgelöst von der Geschichte der SS als Ganzer betrachtet werden.25

Längst hat die wissenschaftliche Forschung die strukturellen Verknüpfungen der Waffen-SS mit der Allgemeinen SS weitgehend offengelegt und aufgezeigt, dass personelle Wechsel zwischen den einzelnen Organisationen der SS keineswegs die Ausnahme gewesen sind. Schon die Ausbildung der zukünftigen SS-Führer erfolgte seit 1934 gemeinsam an den beiden SS-Junkerschulen in Braunschweig und Bad Tölz, und Theodor Eickes berüchtigte KZ-Aufseher waren seit 1939/40 integraler Bestandteil der Waffen-SS. Seine drei ältesten Standarten bildeten den Stamm der 3. SS-Division »Totenkopf«, und umgekehrt wurde die 11. SS-Totenkopfstandarte 1940 Haussers SS-Division »Reich« zugeteilt.26 Etliche Soldaten der Waffen-SS leisteten sogar, wenn auch nicht immer freiwillig, Dienst in den Einsatzgruppen an der Ostfront. Martin Cüppers wiederum hat nachgezeichnet, dass die drei bewaffneten SS-Brigaden des Kommandostabes Reichsführer-SS in der ersten Phase des Russlandskrieges Seite an Seite mit den Einsatzkommandos des Sicherheitsdienstes gemordet und geplündert haben.27 Sollte es Paul Hausser im verklärenden Rückblick wirklich entgangen sein, dass der ehemalige Reitlehrer an seiner Braunschweiger SS-Junkerschule, Franz Magill, als Abteilungskommandeur der 1. SS-Kavallerie-Standarte für den Tod von mindestens 14.000 Juden in Weißrussland im August 1941 verantwortlich war? Aus Himmlers berittenen Massenmördern war schließlich im Oktober 1943 die 8. SS-Kavallerie-Division »Florian Geyer« als echte Division der Waffen-SS entstanden.28

War es ein Zufall, dass erst mit dem Abtreten der Generation der »alten Weltkriegskämpfer« und ihrer geschickt agierenden Wortführer seit den 1990er-Jahren eine Renaissance der Militärgeschichtsschreibung in Deutschland stattfand? Die in der Bundesrepublik lange verpönte Disziplin etablierte sich seit der Debatte um die Wehrmachtsausstellung überraschend schnell im deutschen Wissenschaftsbetrieb. Dies verdankte sich aber durchaus nicht einer Rejustierung des ideologischen Koordinatensystems der Zunft, sondern beruhte auf einem gewandelten Verständnis der Thematik. Die neue Militärgeschichte als »Geschichte der organisierten Gewalt« betrachtet Armeen und Militärs nicht mehr länger als isolierte Organisationen, sondern als Teil von Staat und Gesellschaft. Sie fragt nicht mehr nach der Zahl der eingesetzten Bataillone und interessierte sich auch kaum noch für Bewaffnungen, Schlachtfelder oder Operationspläne. Eine neue Generation von Militärhistorikern bemühte sich stattdessen um ein breiteres Verständnis von Streitkräften, fragte nach Strukturen, Herkunft, Bildung und Mentalitäten der Akteure und wagte sich zuletzt sogar wieder auf das lange umstrittene Feld der Biografie.29

Auch die Historiografie der Waffen-SS profitierte von diesem Paradigmenwechsel durch eine Vielzahl von Studien zu Einzelaspekten. Sozialstruktur und weltanschauliche Prägung der Soldaten der Waffen-SS sind inzwischen gut erforscht, auch liegen mittlerweile etliche Publikationen zu ihrer Funktion als NS-Propagandahelden oder zu ihrer Verwicklung in Kriegsverbrechen auf fast allen europäischen Kriegsschauplätzen vor.30 Alle diese auf Aktenmaterial basierenden Studien haben die langlebige Legende vom reinen Soldatentum der Waffen-SS überzeugend entlarvt und überdies gezeigt, dass so gut wie alles, was im Krieg und vor allem danach an Behauptungen und Darstellungen über Himmlers Krieger produziert wurde, häufig nicht mehr als Mythen der Propaganda oder zuletzt sogar Selbstbetrug der Überlebenden war.

Allein das markige Bild von der Waffen-SS als militärischer Elite des Regimes blieb bis heute – trotz sehr guter Quellenlage für die Zeit von 1940–1943 – von der Forschung ausgespart und unangetastet. Nach wie vor gelten zumindest einzelne Divisionen der Waffen-SS als militärische Eliteverbände, die durch harte Ausbildung, weltanschauliche Indoktrination und überdurchschnittlich gute Ausrüstung wiederholt kritische Lagen an allen Fronten meistern konnten.31 Noch in den 1960er-Jahren sprach der Spiegeljournalist Heinz Höhne von einem »ungewöhnlichen Siegeszug durch die Kriegsgeschichte« und der amerikanische Historiker George Harwyn Stein glaubte resümieren zu können, dass die Elitepanzerdivisionen der Waffen-SS den Zusammenbruch des Regimes vielleicht sogar um zwei Jahre verzögert hätten.32 Obwohl der Potsdamer Militärhistoriker Sönke Neitzel bereits 2002 mit Verweis auf Karl-Heinz Friesers Buch »Blitzkrieg« auf den Erkenntnisgewinn einer quellennahen und kritischen Operationsgeschichte verwiesen hat, blieb eine Analyse der militärischen Schlagkraft der Waffen-SS jenseits aller Propagandalegenden und posthumen Selbstdarstellungen bis heute ein Desiderat der Forschung. Bisher habe man, so resümiert Neitzel, nur wenig gesicherte Erkenntnisse über die Waffen-SS in ihrer eigentlichen Aufgabe – dem Fronteinsatz.33 Auch Jens Westemeiers stark überarbeitete Studie über Jochen Peiper und die Waffen-SS konnte die Lücke nicht füllen.34 Die vorliegende Arbeit wird sich daher im Rahmen einer kritischen Gesamtdarstellung der Geschichte der Waffen-SS besonders der Frage nach den militärischen Qualitäten von Himmlers Kriegern widmen. Schließlich ist nicht entscheidend, so der britische Militärhistoriker John Keegan, was Armeen sind oder waren, sondern wie sie tatsächlich auf den Schlachtfeldern kämpften.35 Allein darin hat sich immer noch das wahre Gesicht von Streitkräften gezeigt.

Die Waffen-SS

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