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Tote Zahlen

Im Lauf des 19. Jahrhunderts begannen sich die Naturwissenschaften, vor allem die Medizin, mit dem Tabuthema Selbsttötung zu befassen. Im Zuge dieser Entwicklung wurden die ersten, repräsentativen Statistiken in den Staaten Mitteleuropas vorgelegt.

Die aktuellste veröffentlichte „Todesursachenstatistik“ des Statistischen Bundesamts Deutschland zeigt, dass 2009 durch „vorsätzliche Selbstbeschädigung“ – so das offizielle Amtsdeutsch – 9.616 Menschen in Deutschland verstorben sind. Das sind 11,7 Selbsttötungen auf 100.000 Einwohner.

Im Jahr 2009 sind in der Bundesrepublik laut Statistik insgesamt 854.544 Menschen verstorben, das heißt etwa 1,1 Prozent der Todesfälle wurden durch Selbsttötung herbeigeführt.

Im selben Jahr starben 4.330 Menschen bei Verkehrsunfällen, mehr als doppelt so viele (9.616) durch Selbsttötung.

Die Zahl der Männer, die sich das Leben genommen haben, ist dabei mehr als dreimal so hoch wie die Zahl der Frauen: 7.228 Männer stehen 2.388 Frauen gegenüber.

Die Zahl der Selbsttötungsversuche liegt etwa zehn- bis 15-mal so hoch wie die Zahl der Selbsttötungen. Diese Werte beruhen auf Schätzungen, weil die Dunkelziffer, also die Zahl der Selbsttötungsversuche, die nie als solche registriert wurden, extrem hoch ist. Selbsttötungsversuche, von denen außer dem Betroffenen keiner weiß. Bei jungen Frauen ist die Häufigkeit von Selbsttötungsversuchen am größten, bei älteren Männern am niedrigsten.

In wissenschaftlichen und medizinischen Abhandlungen wird bei den Arten der Selbsttötung nach „harten“ und „weichen“ Methoden unterschieden.

Zu den weichen Methoden zählen zum Beispiel die Einnahme von Tabletten oder Drogen sowie Vergiftungen. Zu den harten Methoden zählen Erhängen, Erschießen, Ertränken, Sturz aus der Höhe, Sturz vor einen sich bewegenden Gegenstand und tiefe Stiche und Schnitte. Die harten Methoden führen darüber hinaus zu sichtbaren äußeren Veränderungen des Körpers.

In der Statistik werden die Arten der vorsätzlichen Selbstbeschädigung noch detaillierter typisiert, unterschieden und beschrieben. Die hier aufgeführten Kategorien X60 bis X84 sind die Oberkategorien, die in einzelnen Statistiken noch einmal in mehrere Punkte unterteilt werden.

Von X60 bis X69 werden die diversen Methoden der Selbsttötung durch „vorsätzliche Selbstvergiftung“ unterschieden. Von X70 bis X84 werden die verschiedenen Arten der Selbsttötung durch „vorsätzliche Selbstbeschädigung“ aufgeführt, dazu zählen unter anderem: Erhängen, Ertränken, Erschießen, Verbrennen, sich vor Fahrzeuge werfen oder wahlweise in die Tiefe stürzen.

Im Anhang 1 (S. 284) finden sie die detaillierte Auflistung, wie sie im Bundesamt für Statistik geführt wird.

Die Typisierung X70, die vorsätzliche Selbstbeschädigung durch Erhängen, Strangulierung oder Ersticken, ist in Deutschland in allen Altersgruppen die mit Abstand meistgewählte Methode, sich das Leben zu nehmen.

Nach Altersgruppen unterteilt zeigt die Statistik für 2009 folgendes Bild:

5 bis 10 Jahre1
10 bis 15 Jahre20
15 bis 20 Jahre194
20 bis 25 Jahre372
25 bis 30 Jahre394
30 bis 35 Jahre394
35 bis 40 Jahre513
40 bis 45 Jahre861
45 bis 50 Jahre1054
50 bis 55 Jahre999
55 bis 60 Jahre828
60 bis 65 Jahre610
65 bis 70 Jahre859
70 bis 75 Jahre780
75 bis 80 Jahre616
80 bis 85 Jahre554
85 bis 90 Jahre423
90 und älter144

In der Todesursachenstatistik 2009 werden auch die Zahlen der vorsätzlichen Selbstbeschädigungen nach Bundesländern unterschieden aufgeführt:

BundeslandSelbsttötungen gesamtpro 100.000 Einwohner
Sachsen-Anhalt36015,2
Sachsen62414,9
Thüringen32714,5
Bayern174914,0
Baden-Württemberg140413,1
Bremen8412,7
Hessen76912,7
Hamburg21912,3
Saarland12512,2
Schleswig-Holstein34412,1
Mecklenburg-Vorpommern18511,2
Rheinland-Pfalz43010,7
Brandenburg26610,6
Niedersachsen7789,8
Nordrhein-Westfalen1.6669,3
Berlin2868,3

Die höchste Zahl an Selbsttötungen verzeichnete in diesem Zeitraum das Land Bayern. Die höchste Selbsttötungsrate weist das Land Sachsen-Anhalt auf. Berlin hat mit 8,3 Selbsttötungen auf 100.000 Einwohner die niedrigste Rate. Im Vergleich dazu lag das frühere Westberlin vor dem Fall der Mauer mit weitem Abstand auf Platz 1 der Bundesländerstatistik.

Für die letzten 30 Jahre folgt die Zahl der Selbsttötungen in Deutschland einem deutlich fallenden Trend:

1980 lag sie bei 18.451 (24,6 je 100.000 Einwohner)

1990 lag sie bei 13.924 (17,4 je 100.000 Einwohner)

2000 lag sie bei 11.065 (13,0 je 100.000 Einwohner)

2009 liegt sie bei 9.616 (11,7 je 100.000 Einwohner)

Die sogenannte dunkle Jahreszeit von Oktober bis März weist im Gegensatz zur allgemein verbreiteten Annahme keine höheren Zahlen an Selbsttötungen auf als die Sommermonate April bis September. In einer Statistik aus dem Jahr 2006 zeigen die Monate Mai und Juli die höchsten Zahlen an Selbsttötungen.

Eine steigende Tendenz zeigt das durchschnittliche Sterbealter bei vorsätzlichen Selbstbeschädigungen. Seit 1980 stieg es bei Männern um etwa fünf Jahre auf 54,7 Jahre, bei Frauen um zwei Jahre auf 59,0 Jahre (Statistik 2006).

Mediziner und Pharmazeuten weisen eine deutlich höhere Rate an Selbsttötungen auf als die Allgemeinbevölkerung. Bei den Ärzten liegt die Rate mehr als dreimal so hoch wie bei den Männern, bei den Ärztinnen ist die Rate mehr als fünfmal so hoch wie der Durchschnittswert der Frauen (2006).

Diese überraschende Tatsache ließe sich auf den berufsbedingten Stress der Mediziner und die fast tägliche Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod erklären. Eine andere Begründung wäre in der Tatsache zu finden, dass Ärzte und Pharmazeuten im Gegensatz zu restlichen Bevölkerung über das Expertenwissen zur Selbsttötung verfügen.

Von den deutschen Zahlen zu den internationalen: Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben jährlich weltweit etwa eine Million Menschen durch Selbsttötung. Zehn- bis 20-mal so hoch ist die geschätzte Zahl der gescheiterten Versuche.

Das entspricht circa 14,5 Todesfällen je 100.000 Menschen.

Oder: Alle 40 Sekunden nimmt sich auf dieser Erde ein Mensch das Leben!

Die weltweite nach einzelnen Staaten unterschiedene Statistik der WHO finden Sie im Anhang 2. Ein Blick auf diese Tabelle zeigt:

Angeführt wird diese Statistik von Weißrussland (35,1/2003)2 und Südkorea (31,0/2009). Auf Rang 4 folgt bereits Russland mit 30,1 Selbsttötungen pro 100.000 Einwohner, auf Platz 10 liegt Japan mit 23,7 Selbsttötungen auf 100.000 Einwohner.

Vergleicht man auf dieser Tabelle die sonnigen Länder des südlichen Europas mit den Staaten Skandinaviens, dann scheint die Sonne des Südens eindeutig positiv auf das Lebensgefühl einzuwirken:

Finnland (20,1/2005), Dänemark (13,6/2001), Schweden (13,2/ 2004) und Norwegen (11,5/2005) haben alle höhere Selbsttötungsraten als Portugal (11,0/2003), Spanien (7,8/2005), Italien (7,1/ 2002) oder Griechenland, das mit 3,5 Selbsttötungen pro 100.000 Einwohnern das europäische Schlusslicht bildet.

Ob das jedoch der Sonne, dem vorherrschenden Katholizismus, der geringeren Niederschlagsmenge, dem längeren Tageslicht oder dem Blau des Mittelmeeres zuzuschreiben ist, bleibt pure Spekulation.

Oder warum liegt die Selbstmordrate in Neuseeland (13,2/2004), einem grünen Paradies am Ende der Welt, um mehr als das Dreifache höher als in einem Land wie Mexiko (4,1/2005), das seit Jahren von sozialen und politischen Spannungen gezeichnet ist.

Eines der ärmsten Länder Europas, Albanien (4,0/2003), hat eine Selbsttötungsrate, die um mehr als das Vierfache niedriger ist als im reichen Frankreich (17,6/2005). Wo würde Gott wohl lieber leben?

Die Statistiken über Selbsttötungen ließen sich hier noch über viele Seiten zu einem fast unendlichen Zahlenwerk fortsetzen.

Am Ende lassen sich nur Vergleiche ablesen: Dass zum Beispiel in islamischen, hinduistischen und buddhistischen Staaten die Rate der Selbsttötungen niedriger ist als in den christlichen Ländern Europas. Es gibt Unterschiede zwischen Männern und Frauen, zwischen den einzelnen Altersgruppen, zwischen Jahreszeiten und Berufsgruppen, selbst zwischen einzelnen Wochentagen.

Aber je mehr Zahlen sich sammeln, desto mehr tritt das Schicksal des einzelnen Menschen in den Hintergrund.

Statistiken zeigen auf, wer sich umbringt, wie, wann und wo.

Aber selbst Hunderttausende Zahlen in zahllosen Tabellen und Graphen aufgereiht, ausgewertet und verglichen werden keine einzige Antwort auf die Frage geben können:

Warum?

Ich bringe mich um!

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