Читать книгу Das Leuchten der Sterne in uns- Teil Zwei: Ankunft - Kristina C. Stauber - Страница 7

II.

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So waren drei Jahre wie im Flug vergangen. In der Zwischenzeit war Colorado Bundesstaat geworden, hundert Jahre nachdem die Vereinigten Staaten gegründet worden waren.

Manchmal erschien es Eleonore, als ob sie erst gestern aus dem Zug gestiegen wären, ängstlich und bang, was sie erwarten würde.

Und was hatten sie stattdessen gefunden!

Einige Wochen vor Lottas drittem Geburtstag flüsterte Ruth ihr zu: „Sven bekommt ein Geschwisterchen!“

Eleonore riss die Augen auf. „Waaaaas?“

Die Freundinnen saßen in dicke Decken gehüllt auf der Veranda der Hope Ranch und ließen sich das letzte bisschen Herbstsonne, das die bewaldeten Hügel rundherum in einer wahren Farbexplosion leuchten ließ, in die Gesichter scheinen. Sie hatten beide eine Tasse Tee in den behandschuhten Händen und hatten einfach die Ruhe genossen und nur hier und da Belanglosigkeiten ausgetauscht. Ihre Freundschaft war spätestens seit der Ankunft auf der Hope Ranch von der Art, bei der man zusammen auch schweigen konnte und nicht jede Stille mit Worten zu füllen versuchte.

Ruth nickte langsam, während sich ein tief aus ihr herauskommendes Lächeln in ihrem Gesicht ausbreitete.

„Oh, Ruth! Das ist ja wundervoll!“ Eleonore stellte vorsichtig die Tasse ab und schälte sich halb aus einigen Lagen der Decken, in die sie gehüllt waren, damit sie die Freundin umarmen konnte.

„Nun doch?“ Eleonore spielte darauf an, dass Ruth bisher mit ihrem Unternehmen, das sich als äußerst gewinnbringend etabliert hatte, und mit Sven und Gunnar vollauf zufrieden und ausgelastet gewesen war. Ruth hatte immer gesagt, dass sie nichts sehnlicher wollte als ein gemeinsames Kind mit Gunnar, auch wenn sie Sven heiß und innig liebte und er ihr Ein und Alles war. Aber die Zeit war bisher noch nicht reif gewesen: „Der Moment wird kommen, wenn es soweit ist. Aber später! Erst das Geschäft, dann alles weitere.“

Scheinbar hatte sie nun beschlossen, dass die Zeit für „alles weitere“ gekommen war.

„Noch ein Kind auf der Hope Ranch“, murmelte Eleonore versonnen. Sie gönnte Ruth und Gunnar dieses Glück, keine Frage.

Aber eine ganz leise Stimme in ihrem Kopf fragte, ob sie irgendwann auch solch ein Glück finden würde. Eine ungewohnte Stimme.

Bisher war sie doch immer der festen Überzeugung gewesen, dass sie lieber allein durchs Leben ginge, als einen faulen Kompromiss einzugehen oder sich jemandem unterzuordnen – solange sie nur gute Freunde und Zugang zu Wissen und Bildung hatte.

Dass es auch anders ging, hatte sie nun seit drei Jahren vor Augen: Ruth und Gunnar waren der beste Beweis für eine liebevolle und vor allem gleichberechtigte Beziehung, und Ruth steckte in nichts zurück, nur weil sie verheiratet war.

Eleonore drängte den Gedanken ärgerlich zur Seite. Es wäre ja noch schöner, wenn sie anfing, auf Ruth eifersüchtig zu sein. Die wie kein anderer verdiente, glücklich zu sein, nach allem, was sie durchgemacht hatte.

Und Eleonore selbst, sie war doch auch glücklich und gesegnet mit so vielen guten Menschen und Dingen in ihrem Leben!

Und doch, in letzter Zeit erfasste sie hin und wieder eine gewisse innere Unruhe, ein Sehnen nach etwas, das sie nicht genauer greifen oder deuten konnte.

Vielleicht war es nur der Wetterumschwung…

Sie richtete den Blick wieder nach außen, auf Ruth, die vor sich hin strahlte.

„Im Frühjahr wird es da sein, denk nur! Ein kleiner Frühlingsbote!“

Eleonore lächelte.

Ruth langte zu ihr hinüber und ergriff ihre Hand. „Eleonore. Ich muss dir noch etwas sagen. Und weiß Gott, das fällt mir so fürchterlich schwer! Genau genommen habe ich das Gefühl, dass ich dich im Stich lasse! Schließlich bist du ja wegen mir hier gelandet... Wobei ich nicht den Eindruck habe, dass du es bereust. Vielleicht sollten wir aber Ausschau nach einem Mann für dich halten,…“

Eleonore rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Sie spürte, dass da etwas im Busch war.

„Ruth“, unterbrach sie deren Redefluss fast etwas ungeduldig, „was ist es? Sag schon! Wir haben uns doch sonst alles erzählt, das kann doch jetzt nichts wirklich Schlimmes sein?“

„Eleonore, meine süße Eleonore. Gunnar und ich haben beschlossen, ein kleines Grundstück zu kaufen und dorthin zu ziehen. Es ist nicht wirklich weit von hier, aber es liegt noch viel günstiger zu den anderen Höfen und Ranchen, so dass ich schneller die Bestellungen einsammeln kann und wenn das Kind erst da ist, kann ich jede zusätzliche Minute gebrauchen. Und das Unternehmen läuft so gut, ich will nicht länger Manuels und Antonios Hilfe in Anspruch nehmen. Sie haben schon so viel für uns getan. Wir schaffen eigene Fahrzeuge an. Vielleicht stellen wir jemanden ein… Oh Eleonore, ich bin die selbstsüchtigste Person, die es gibt, oder? Aber ich bin ja immer noch hier, es ist wirklich nicht weit, du wirst sehen, wir können uns fast genauso oft sehen…“

Ruth plapperte in dieser Manier noch weiter, aber Eleonore hörte gar nicht mehr richtig hin.

Ihr war es tatsächlich, als ob man ihr den Boden unter den Füßen wegzog.

Natürlich konnte sie verstehen, was Ruth sagte. Und natürlich endete ihre Freundschaft nicht damit. Aber irgendwie, da hatte Ruth schon ganz Recht mit ihrer Befürchtung, fühlte sie sich doch plötzlich allein gelassen.

Sie waren doch alle irgendwie eine Art Familie auf der Hope Ranch!

Das konnten Gunnar und Ruth doch nicht einfach aufbrechen…

Mechanisch sagte sie: „Das ist wunderbar, Ruth. Natürlich müsst ihr euch auf eigene Füße stellen. Ich komm‘ vorbei und helf' dir, wenn das Kleine da ist. Das wird kaum ein Unterschied zu jetzt!“

Sie drückte Ruths Hand, die noch immer in ihrer lag. Ihr Verstand begriff die Worte, die sie selbst sagte, aber in ihrem Hals formte sich ein schwerer Kloß.

Sie nahm die Tasse wieder auf.

„Es wird kalt. Komm, wir sollten rein gehen. Du in deinem Zustand solltest sowieso nicht in der Kälte sitzen!“

Sie war um einen leichten Ton bemüht, aber sobald sie in ihrem Zimmer war, das sie mittlerweile natürlich allein bewohnte, liefen ihr Tränen die Wange herab. Zornig wischte sie diese mit der flachen Hand weg.

Was war nur los mit ihr?

Es blieben doch noch Anna und Erik und die kleine Lotta, Manuel und Antonio.

Sie hatte so viel, was ihr Leben mit Freude füllte, sie hatte angefangen, Sven zu unterrichten, sie konnte mittlerweile Bücher führen und eine Ranch verwalten, sie sprach sogar Schwedisch – Gott allein wusste, wofür das gut sein sollte!

Da kam es doch nicht darauf an, dass Ruth ein paar Meilen fort zog.

Aber sie hatte in Ruth immer ein wenig eine große Schwester oder Beschützerin gesehen, auch wenn sie selbst oft genug auf Ruth aufgepasst hatte. Ruths fröhliche, leichtfüßige Art hatte nicht nur auf sie abgefärbt, die Nähe hatte ihr auch Sicherheit gegeben.

Das Verhältnis zu den anderen war, obwohl innig und eng, nicht damit zu vergleichen.

Aber es gab nun einmal immer wieder Veränderungen im Leben! Sie zog geräuschvoll die Nase hoch. Es wäre doch kleinlich von ihr und egoistisch obendrein, dem völlig verständlichen Wunsch Ruths, sich etwas Eigenes mit ihrem Mann aufbauen zu wollen, im Wege zu stehen. Das war nicht die Eleonore Williams, die sie sein wollte, die solche Gedanken hatte!

Entschlossen und ärgerlich schniefte sie ein letztes Mal.

Und wer wusste schon, wofür die Veränderung gut sein sollte.

Hatte sie nicht selbst immer gesagt, dass alles seinen Sinn hatte?

Außerdem hatte Ruth ihr erzählt, dass sie erst im Frühjahr umziehen würden. Genug Zeit also, sich an den Gedanken zu gewöhnen!

* * *

„Ms Williams? He da! Ms Williams!“

Eine hagere männliche Person kam auf sie zugeeilt. Sie erinnerte von weitem an eine Krähe.

Eleonore verstaute gerade die letzten Einkäufe auf dem Wagen.

Sie war mit Robert, einem der Rancharbeiter, und Sven, der so lange gequengelt hatte, bis er mitdurfte, nach Silver Springs gefahren.

In den letzten Jahren war das Dorf zu einem kleinen Städtchen angewachsen, es ging auf der Hauptstraße mittlerweile wesentlich lebhafter zu. Es gab nicht mehr nur einen Saloon sondern gleich mehrere. Den Männern, die in den Minen arbeiteten, saß das Geld stets locker, wenn sie in den Ort kamen. Und das nicht nur beim Alkohol: Am Weg aus der Stadt stand ein schmuckes Haus, bei dem stets die Gardinen zugezogen waren und Eleonore konnte sich schon ungefähr vorstellen, was dahinter vor sich ging.

Die Silbervorkommen der Gegend hatten immer mehr Leute angezogen, so dass die Person, die nun auf sie zukam, einigen Passanten ausweichen musste, es herrschte Hochbetrieb um diese Uhrzeit.

Als die Krähe endlich nähergekommen war, erkannte Eleonore schließlich, wer da so laut ihren Namen krakeelte, dass die Leute schon anfingen, sich umzudrehen: Es war der Pfarrer, der Lotta getauft und Gunnar und Ruth getraut hatte. Seit diesen Ereignissen hatte sie ihn nicht mehr gesehen, vielleicht einmal aus der Ferne, aber sobald Ebenezer Washington nun vor ihr stand, hatte sie wieder dieses diffuse Gefühl, auf der Hut sein zu müssen.

Er hingegen schien hocherfreut, sie zu sehen. Ohne zu fragen, ob sie es eilig hatte oder weiter wollte, begann er ein Gespräch.

„Ms Williams! Habe ich es mir doch gleich gedacht! Ich habe Sie schon von weitem wiedererkannt, wenn ich das so frei heraus bemerken darf.“

Die Kälte ließ seinen Atem zu weißen Wölkchen werden. Er wirkte nicht mehr so linkisch, wie noch vor ein paar Jahren, merkwürdig fand sie ihn trotzdem. So blieb sie unverbindlich.

„Reverend Washington! Ich hoffe, Sie erfreuen sich bester Gesundheit!“ Unauffällig lugte sie an ihm vorbei, aber Robert war noch in das Gespräch mit dem Ladenbesitzer vertieft. Keine Chance, sich schnell und unauffällig loszueisen.

Die Krähe merkte von alldem nichts. Er rieb sich vergnügt die Hände.

„Bestens, es geht mir bestens. Ich habe ein großartiges Projekt, an dem ich gerade arbeite.“

Er machte eine bedeutungsschwere Pause und wartete, dass Eleonore nachhakte. Sie tat ihm den Gefallen, nicht ohne vorher ein Gähnen unterdrücken zu müssen. Dieser Mann hatte wirklich eine merkwürdige Ausstrahlung.

„So?“, fragte sie also artig, während sie aus dem Augenwinkel das geschäftige Treiben um sich herum beobachtete.

Es herrschte eine hektische Betriebsamkeit in Silver Springs, alle bevorrateten sich für den nahenden Winter. Pferdefuhrwerke rumpelten an ihnen vorbei.

„Also, es gibt ja nun doch mittlerweile viele Kinder in der Gegend, auf den Farmen. Und ich bezweifele doch, dass die Eltern immer die Zeit aufbringen, die Kinder im rechten Glauben zu erziehen und ihnen eine gottgefällige Bildung zukommen zu lassen!“, fuhr der Reverend fort. „Und da hatte ich eines Sonntags nach dem Gottesdienst diese Eingebung…“

Wieder sah er sie bedeutungsschwer an, Bewunderung heischend. Eleonore gab sich einen Ruck. Robert schien sich mit dem Ladenbesitzer gerade in Fahrt zu reden, das konnte dauern, was auch immer er da gerade diskutierte. Nun gut, dann würde sie eben mitspielen. Innerlich grinste sie bei der Vorstellung, wie sie später Ruth davon erzählen und sie kichern würden wie die Hühner.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Washington zu.

„Was Sie nicht sagen, Reverend. Der Herr meint es gut mit Ihnen, was?“

Er musterte sie einmal von oben bis unten, was ihr einen unangenehmen Schauer über den Rücken laufen ließ.

„Ja, Ms Williams. Ich werde diesen armen Kindern eine gute Bildung zukommen lassen und dafür Sorge tragen, dass sie den rechten Pfad der Tugend einschlagen.“

Er senkte die Stimme und kam ihr ein wenig zu nahe.

„Ich beobachte seit Monaten entsetzt, wie das Laster mehr und mehr Einzug hält, ja geradezu Fuß fasst, hier in Silver Springs! Wir müssen das Übel an der Wurzel packen und schon den Kindern ein gottgefälliges Leben aufzeigen. Sonst wird es zu spät sein.“

Er erhob nun Stimme und Zeigefinger: „Oh ja, es wird zu spät sein!“

Dramatisch pausierte er.

Da meldete sich Svens Piepsestimmchen vom Wagen. Auf Schwedisch fragte er Eleonore: „Was sagt der Mann da für Sachen?“

Als sie sich zu ihm drehte, wäre sie ob der Komik des Anblickes fast in lautes Lachen ausgebrochen. Während Ebenezer Washington seine Ansprache gehalten hatte, hatte Sven auf dem Wagen gesessen, den Reverend wie ein interessantes aber fremdartiges Studienobjekt angestarrt und dabei in aller Seelenruhe in der Nase gebohrt.

Eleonore, deren Schwedisch mittlerweile durch den täglichen Umgang mit Anna und ihrer Familie sehr gut, wenn auch einfach war, antwortete automatisch in der Muttersprache des Jungen: „Nimm den Finger aus der Nase, Sven. Der Mann erzählt uns, wie er die Kinder auf den richtigen Weg bringen will.“

Ebenezer Washington starrte sie unverhohlen an.

„Sie können sich in der Sprache des Einwanderer-Jungen verständigen!“

Sie wandte sich wieder zu ihm.

„Aber ja, Reverend. Spricht etwas dagegen? Ich versuche auch manchmal, den Unterricht auf Schwedisch abzuhalten, aber das ist eher schwierig und dann eher ein Unterricht für mich als für Sven.“

Das hatte sie gesagt, ohne einen Gedanken zu verschwenden, ob sie sich damit vielleicht eine längere Abhandlung darüber einfing, was recht sei und was der Herr nicht so gerne sah.

Aber nach kurzem Nachdenken, bei dem dieser Diener des Herrn die Stirn in sehr bedeutungsschwere Falten gelegt hatte, sagte er: „So so, Sie unterrichten… Ms Williams, nennen Sie mich vermessen, aber ich könnte bei meinem kleinen Projekt durchaus Unterstützung gebrauchen. Ich brauche jemanden, der die schöngeistigen Dinge unterrichtet und sich um die Mädchen kümmert. Ein paar grundlegende Dinge sollen die Mädchen ruhig lernen, da bin ich sehr progressiv eingestellt. Und es kann ja nicht viel schaden, solange man es nicht übertreibt“, führte er eifrig aus.

Eleonore wusste nicht, ob sie lachen oder zornig werden sollte, aber diese Entscheidung blieb ihr erspart, denn endlich war Robert fertig. Er trat zum Wagen, sah den Pfarrer und zog den Hut: „Sir!“

Dann setzte er sich auf den Bock und wartete, dass Eleonore ihm folgte.

Diese nickte dem Geistlichen zu, sagte so freundlich es ihr gegenüber diesem Menschen möglich war: „Guten Tag, Reverend. Viel Erfolg bei Ihrem Vorhaben“, und schwang sich zu Robert auf das Fahrzeug.

Washington blickte verdattert drein, nickte dann aber auch und rief ihnen hinterher: „Denken Sie darüber nach, Ms Williams. Es soll Ihr Nachteil nicht sein!“

„Was ‘n das für ‘n Vogel?“, brummte Robert. „Hat der dir eben etwa ‘nen Heiratsantrag gemacht?“

Eleonore schüttelte es bei der Vorstellung. „Um Gottes willen, nein. Er wollte mich als Lehrerin anheuern,…“

* * *

Der Winter brach herein, ein weiteres Weihnachtsfest verging, fröhlich wie die vorherigen. Antonio und Eleonore spielten im Wechsel Weihnachtsweisen auf dem Klavier und alle sangen dazu. Mittlerweile kannte jeder Melodie und Texte der Lieder der anderen: spanische, englische, schwedische. Es war wie immer ein buntes Durcheinander. Lotta lief wie ein kleiner Wirbelwind aufgeregt zwischen allen herum und erzählte atemlos und mit roten Wangen, sie hätte die Weihnachtswichtel gesehen, ganz bestimmt! Der Weihnachtsbaum stand prächtig in der Mitte des Wohnzimmers und verbreitete einen wunderbaren Duft.

Eleonore fühlte sich zu Hause und gleichzeitig einsam.

In Gedanken war sie wieder bei den bevorstehenden Veränderungen.

Hätte Ebenezer Washington gewusst, auf welch fruchtbaren Boden somit seine Saat gefallen war, als er von seinem kleinen Vorhaben berichtet hatte, er hätte sich vergnügt die Hände mit den langen Fingern gerieben.

Und während in Ruths Leib das Kind wuchs und gedieh, formte sich in Eleonore der Entschluss, auf das Angebot des Pastors zurückzukommen, so abwegig es ihr zu Beginn auch vorgekommen war.

Aber jetzt, da sich alles änderte, schien es an der Zeit, für frischen Wind auch im eigenen Leben zu sorgen.

Und unterrichten war doch alles, was sie immer gewollt hatte.

Irgendjemand musste den Kindern doch etwas Vernünftiges beibringen, Eleonore konnte sie ja nicht dem verkorksten Gedankengut der frommen Krähe überlassen.

Eine Stimme warnte sie vor dem Mann. Ihr Bauchgefühl war kein gutes, wenn sie mit ihm sprach. Aber wenn ihre Rechnung aufging und er ihre Unterstützung auch im Frühjahr noch haben wollte, dann würde er nach ihren Spielregeln spielen müssen. Außerdem hätte sie ja alle ihre Freunde noch in der Nähe.

Ruth würde oft in die Stadt kommen, ebenso die Hope Ranch-Bewohner.

Und zur Abwechslung nach dem eher ruhigen, wenn auch arbeitsamen Leben auf der Ranch, wäre es sicherlich eine Bereicherung in jeglicher Hinsicht, mehr unter Leute zu kommen. Sie war doch jung! Ein wenig Vergnügen hatte noch niemandem geschadet. Sie dachte an die Kirmes zurück, damals in London…

Was für ein anderes Leben das gewesen war, was für eine andere Eleonore.

Ob es in Silver Springs auch hin und wieder eine Kirmes geben würde? Ob dort getanzt wurde?

Sie sprach mit niemandem über ihre Idee, zuerst war es ja nur ein abstraktes Gedankenspiel gewesen. Aber je mehr der Gedanke sich breit machte, je mehr sie ihm Zeit gab zu reifen, umso mehr erschien er ihr als logische Konsequenz aus den neuen Entwicklungen: Wenn alles andere im Umbruch war, dann war es vielleicht auch für sie an der Zeit, etwas Neues zu wagen.

Der Gedanke war spannend und aufregend, je mehr sie darüber nachdachte.

Mit dem Pastor würde sie schon zurechtkommen – das wäre ja gelacht – sie war doch mittlerweile erwachsen geworden im Vergleich zu der Eleonore, die aus Meadow Park geflohen war, und der Eleonore, die in New York angekommen war.

Gleichzeitig fühlte sie sich ein klein wenig bedeutend und wichtig, obwohl sie sich für diese Eitelkeit schämte, dass sie die Aufgabe übernehmen würde, den Kindern im County die Grundlagen fürs Leben beizubringen.

Sobald der Schnee geschmolzen war, müsste sie Ms Golding davon im nächsten Brief berichten. Die würde begeistert sein!

Und als schließlich die erste Schneeschmelze vorüber war, als die Tage wieder etwas länger wurden, da suchte sie Ebenezer Washington auf.

Sie war mit Gunnar nach Silver Springs gefahren und während er sich um die Einkäufe kümmerte, hatte sie ihm nur knapp erklärt, sie müsse etwas erledigen. Seiner Art entsprechend hatte er nicht weiter nachgefragt. Gedanklich war er ohnehin beim Bau des neuen Hauses, mit dem die Männer nun, da es milder wurde, begonnen hatten. Es war nicht klar, ob es fertig werden würde, bevor das Kind kam. Wahrscheinlich würde das Kleine also noch auf der Hope Ranch das Licht der Welt erblicken.

Eleonore fragte sich zum Haus des Pastors durch.

Sie strich sich das Haar glatt, das sie an diesem Tag extra streng zurückgebunden hatte, zog ihr Tuch enger um sich und streckte das Kinn vor. Dann nahm sie ihren Mut zusammen und klopfte an.

Es rührte sich nichts. Sie klopfte nach einer Weile nochmals, lauter diesmal.

Da tat sich etwas. Sie hörte Schritte, dann wurde die Tür geöffnet: Eine griesgrämige ältere Frau stand in der Tür.

„Ja, bitte?“

Sie hatte eine Zahnlücke im Unterkiefer und wischte sich die Hände an der Schürze ab, während sie Eleonore unverhohlen musterte. Sie musste die Haushälterin sein.

„Ich möchte zu Reverend Washington, bitte!“

Sie versuchte, ihrer Stimme einen bestimmten Ton zu geben, aber das, was sie herausbrachte, klang nach einer piepsenden Maus.

„Der is‘ nich‘ da!“

„Oh!“

Damit hatte sie irgendwie nicht gerechnet. In Gedanken hatte sie das Gespräch in allen Varianten durchgespielt. Dass sie ihn schlichtweg nicht antreffen würde, war ihr dabei gar nicht in den Sinn gekommen.

„Hören Sie, ich hab‘ nich‘ den ganzen Tag Zeit!“, herrschte die Frau sie an. Eleonore überlegte. „Können Sie ihm ausrichten… Sagen Sie, hat er schon seine Schule eingerichtet?“

Die Frau kratzte sich am Ellbogen und musterte Eleonore erneut.

„Haben Sie Kinder, die Sie unterrichten lassen wollen? Der Unterricht beginnt bald. Ich glaub‘, es sind noch Plätze frei, aber ich weiß‘ nich‘ so genau. Er redet da ja nich‘ so viel drüber, der feine Herr. Is‘ mir ja auch egal… Soll ich ihm was ausrichten?“

Eleonore zögerte wieder.

„Nein, danke.“ Sie ließ die Schultern hängen. „Ich komme bei Gelegenheit wieder.“

* * *

„Uuuuarrrrrggggr. Es tut so weeeeeeh! Verdammte Scheiße, warum hat mir das keiner gesaaaaaagt…“

Ruth lag auf dem Bett, Schweißperlen auf der Stirn.

Es war soweit, der neuste Bewohner der Hope Ranch kündigte sich an.

Anna saß ruhig am Bett und hielt Ruths Hand. Eleonore dachte an die Geburt von Lotta zurück und betete, dass dieses Mal alles besser laufen würde. Aber nun wusste sie ungefähr, was sie erwartete und diesmal war Anna in ihrer ruhigen Art als ihre Unterstützung dabei.

„Ich bring den Kerl uuuummmmaaaaaaggr.“ Ruths Schimpfen ging in einen Schmerzensschrei über und dann in ein lautes Hecheln. Als sie sich wieder etwas gefasst hatte, setzte sie die Tirade nahtlos fort. „Er ist schuld! Die Schmerzen, das ist alles seine Schuld. Wenn er mich nicht geschwäng… aaaaahhh... verdammter Dreck!“

Eleonore biss sich auf die Lippe, um nicht zu lachen. Sie wusste, dass Ruth Schmerzen hatte, aber solange sie schimpfte wie ein Liverpooler Waschweib, musste alles in Ordnung sein.

Sie sah zu Anna hinüber. Die saß immer noch völlig unberührt da, tupfte Ruth den Schweiß von der Stirn und redete ihr monoton und beruhigend zu.

Eleonore wusste, dass Gunnar draußen im Sonnenschein stand und unruhig auf und ab ging, sie hörte die Stiefel auf den Holzbohlen vor der Hütte. Durch die Ritzen zog der Geruch von Tabak herein. Er schien vor Nervosität zu rauchen.

Anna sagte auf Schwedisch, was Ruth nie richtig gelernt hatte und somit auch nun nicht verstehen konnte: „Geh einmal raus zu ihm und sag ihm, dass alles gut läuft. Ich glaube, er denkt an Svens Mutter und ist voller Sorge. Aber Ruth ist eine Kämpferin, sie ist robust und stark!“

Ruth rührte sich wieder, die nächste Wehe setzte ein, aber sie herrschte Anna und Eleonore darüber an:

„Herrgottnochmalverdammthörtgefälligstaufübermichzulästern“, und hängte eine ganze Reihe weiterer Flüche an.

Eleonore blinzelte gegen die Helligkeit an, als sie aus dem abgedunkelten Raum hinaus in die gleisende Aprilsonne trat. Die Vögel jubilierten, dass es eine wahre Freude war. Gunnar war mit zwei langen Schritten bei ihr. Sein Griff um ihr Handgelenk schmerzte fast.

„Alles ist gut, Gunnar, beruhige dich! Sie schimpft wie ein Rohrspatz, das ist ein gutes Zeichen, alles läuft so, wie es soll!“ Etwas sanfter fügte sie hinzu und tätschelte dabei beruhigend seine Hand: „Wirklich, Gunnar!“

Sein Griff lockerte sich etwas. Eine ganze Weile standen sie so da und hingen ihren Gedanken nach. Ruth war gedämpft von drinnen zu hören, wie sie immer wieder fluchte. Dann war es wieder still. Und plötzlich war ein lautes Protestgeheul zu hören, das nur aus einer Säuglingskehle stammen konnte. Gunnar und Eleonore sahen sich verdutzt an.

„Was, so schnell?“, wunderten sie sich beide gleichzeitig. Dann war Gunnar auch schon in der Hütte, Eleonore lief ihm hinterher.

Und tatsächlich, da war Anna mit einem kleinen Bündel, das sie mit Tüchern trockenrieb. Ruth war erschöpft in die Kissen zurückgesunken, streckte aber die Arme ungeduldig aus.

Als Anna aufblickte, hatte sie Tränen in den Augen. Eleonore erschrak, aber als sie sah, dass Anna dabei lächelte, erkannte sie, dass es Rührung war.

Anna legte Gunnar das winzige Bündel in die großen starken Hände und drehte sich dann zu Eleonore. Die machte einen langen Hals, weil sie das kleine Ding auch sehen wollte, aber Anna zog sie in den Vorraum.

„Lass ihnen einen kleinen Moment“, flüsterte sie.

Eleonore folgte ihr verdattert ins Freie.

„Wie,… Wie konnte das so schnell gehen?“, fragte sie verwirrt.

Zu ihrem Erstaunen griff sich Anna die Zigarette, die Gunnar hastig ausgeklopft und auf die Fensterbank gelegt hatte und entzündete sie wie selbstverständlich mit dem letzten Streichholz aus der Schachtel, nahm einen Zug und blies den Rauch dann langsam wieder aus.

Eleonore stand der Mund offen. „Anna! Du rauchst???“

Anna sah sie schuldbewusst an, dann starrte sie verwundert auf die Zigarette, als ob sie so etwas zum ersten Mal sah.

„Oh! Eigentlich nicht!“ Sie musste lachen und fing an zu husten und so standen Eleonore und Anna in der wärmenden Frühlingssonne und lachten, bis ihnen die Seiten schmerzten.

Eleonore fing sich als erste wieder. „Komm, wir sollten wieder rein gehen!“

„Ja, lass uns nach dem Rechten sehen. Das ging wirklich schnell. Ein ungeduldiges Kerlchen! Und eine kräftige Mutter.“

„Es ist ein Junge?“

„Ja, Sven hat einen Bruder bekommen.“

* * *

„Lucas, ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“

Ebenezer Washington sah erwartungsvoll in die Runde.

Das kleine Kind sah völlig deplatziert in seinen Händen aus und er hielt es linkisch von sich fort.

Eleonore schluckte. Ein Grund mehr für sie, den Reverend endlich anzusprechen und nach der Stelle als Lehrerin zu fragen. Wenn er sich gegenüber allen Kindern so verhielt, dann würde wohl keiner seiner Schutzbefohlenen jemals Freude am Lernen haben.

Als die kleine Taufzeremonie vorüber war, trat Eleonore wie zufällig zu Ebenezer Washington.

Es war Anfang Juni und bereits drückend heiß. Wenn es so bliebe, würde der Sommer viel zu trocken werden. Eleonore wusste, dass die Farmer sich Sorgen machten.

Die Zeremonie hatte vor Ruths und Gunnars neuem Heim stattgefunden, in das sie vor zwei Wochen gezogen waren.

Ruth hatte Eleonore voller Stolz herumgeführt, ihr alles gezeigt und erklärt.

Eleonore musste neidlos anerkennen, dass Gunnar und die Männer ganze Arbeit geleistet hatten, das Haus war solide, praktisch aufgeteilt und dank der Einrichtung, die Anna, Ruth und sie selbst gemeinsam in Angriff genommen hatten, fühlte man sich gleich wohl, sobald man die Schwelle überschritt.

„…und ich hoffe doch, dass wir dein süßes Gesicht hier möglichst oft zu sehen bekommen, Ms Williams!“, hatte Ruth gesagt, den kleinen Lucas so selbstverständlich auf dem Arm, als ob sie nie etwas anderes gemacht hätte. Eleonore hatte nur genickt, wieder mal mit einem Kloß im Hals. Was war nur los mit ihr? Das musste sich ändern! Es würde sich ändern, wenn sie erst die neue Aufgabe in Angriff nahm.

„Mr Washington, Reverend? Auf ein Wort?“

Die Krähe hatte sich gerade mit einem riesigen weißen Stofftaschentuch über das Gesicht gewischt. Er setzte die Brille umständlich wieder auf und sah sie dann in einer Mischung aus Überraschung und seiner ihm eigenen Aufgeblasenheit an.

„Ms Williams! Wie geht es Ihnen? Lange habe ich Sie nicht mehr gesehen! Ist es nicht herrlich, jetzt haben wir wieder einen Erdenbürger zu einem Christenmenschen gemacht. Mit dieser Taufe,…“

„Reverend Washington“, fiel Eleonore ihm ungeduldig ins Wort. „Sagen Sie, die Schule, von der Sie mir im Herbst berichtet hatten.“

Ebenezer strich sich langsam über das dunkle Haar, das aber ohnehin wie stets geradezu anzementiert saß, und musterte sie wieder mit einem dieser Blicke, die sie nicht leiden konnte.

„Ja, Ms Williams?“

Er lauerte darauf, was sie nun sagen würde, das konnte sie sehen. Vielleicht konnte er sich bereits denken, was sie von ihm wollte? Ob die Haushälterin ihm von ihrem Besuch zu Beginn des Frühlings erzählt hatte?

Sie hatte seitdem keine Gelegenheit mehr gehabt, ihn zu sprechen. Die Taufe des kleinen Lucas war somit das erste Zusammentreffen seit langem. Sie hatte sich am Morgen selbst Mut zugesprochen, dass sie ihn fragen würde, dass sie nichts zu befürchten hätte. Aber wie merkwürdig es war, sich selbst zu ermutigen. Noch immer trug sie den Plan nur mit sich herum, hatte mit niemandem darüber gesprochen. Hatte sie befürchtet, dass man es ihr ausreden würde? Es gar missbilligen? Sich lustig machen über Ebenezer Washington und sich um sie sorgen, weil er solch ein komischer Vogel war? Aber sie war erwachsen, sie konnte auf sich selbst Acht geben und auch ihre eigenen Entscheidungen treffen!

Washington sah sie noch immer mit einem undurchdringlichen Blick an. Eleonore spürte, wie sich der Schweiß in ihrem Nacken am Haaransatz sammelte. Diese Hitze machte sie völlig fertig!

Sie holte Luft. „Also, Reverend Washington. Die Schule. Haben Sie damit begonnen?“

Er blinzelte einmal kurz, ohne den Blick von ihr zu nehmen.

„Ja, Ms Williams, und ich möchte behaupten, das Projekt läuft ganz wunderbar.“ Er machte wieder eine von seinen nervraubenden Pausen.

Eleonore biss sich auf die Zunge. Sie hasste es zu heucheln, aber sie wusste auch, dass sie leichter ihr Ziel erreichen würde, wenn sie ihm ein wenig Honig ums Maul schmieren würde.

„Solch ein gottgefälliges Werk, das Sie da tun, Mr Washington, so weit von der Zivilisation entfernt!“

Sie brachte es nicht über sich, einen bewundernden Augenaufschlag zu vollführen.

Ebenezer Washington schien sich aufzuplustern, als er diese Worte vernahm.

„Ja, ich stelle mich der Prüfung, die der Herr mir auferlegt hat! Und es ist meine Aufgabe, diesen armen Christenmenschen etwas Charakterformung zu ermöglichen, nicht wahr? Wer sollte es denn auch sonst machen, hier draußen? Ich bringe gerne dieses Opfer, auch wenn ich nun nicht mehr so viel Zeit für das Studium der Bibel und das stille Gebet aufbringen kann, wie ich gerne wollte.“ Fromm senkte er den Blick und betrachtete seine langen Finger. Er trommelte mit den Fingerspitzen der rechten Hand gegen die der linken.

Seine Selbstgefälligkeit machte sie nervös.

Fragte er sich nie, was der Herr dazu sagte?

Sie gab sich einen Ruck. „Ich habe mich gefragt, ob Sie noch immer eine zweite Kraft gebrauchen können? Wie Sie wissen, unterrichte ich Sven und ich habe als Gouvernante gearbeitet, habe also durchaus Erfahrung im Umgang mit kleinen Schülern…“

Dass ihre Karriere als Gouvernante von kurzer Natur gewesen war, hatte ihn nicht zu interessieren. Es zählte nur, was sie konnte und wusste und das war ausreichend, dessen war sie fast sicher.

Er musterte sie prüfend, sagte aber nichts.

„...es wäre doch zu Ihrem Vorteil, es bliebe mehr Zeit für die anderen wichtigen Dinge in Silver Springs… und das Bibelstudium natürlich“, beeilte sie sich zu sagen.

Hinter Washingtons Stirn arbeitete es.

„Ms Williams, ich bin doch überrascht!“, antwortete er schließlich. „Mein Eindruck war, dass Sie sich nicht dafür interessieren. Und nun dieser plötzliche Sinneswandel?“

Seine Stimme hatte einen kaum hörbaren scharfen Klang. Fragend zog er die Augenbrauen hoch. Sein Blick war bohrend.

Eleonore wand sich. Fast hätte sie einen Rückzieher gemacht. Eine kleine Stimme in ihrem Kopf wisperte ihr aber zu, dass der bequemste Weg nicht immer der richtige war und so stotterte sie etwas von Gottgefälligkeit, den armen Kleinen hier draußen in der Wildnis, die ja nichts hatten, und der Eingebung, die sie nach dem Gespräch im Herbst gehabt hatte, dass es doch ihre Pflicht als guter Christenmensch sei, diese wunderbare Arbeit nach ihren Kräften zu unterstützen.

So sehr war sie darauf fixiert, seine Zustimmung zu erheischen, dass sie nicht auf die Idee kam, dass ihre Worte missdeutet werden könnten, als sie von ihrer Bewunderung für seine Arbeit sprach und davon, dass er es sicherlich nicht bereuen würde, ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie sah nicht das beunruhigende Glühen in seinen Augen, das aufglimmte, während sie davon redete, dass sie sich gerne als Lehrerin einstellen lassen würde.

Sie schämte sich einzig ein wenig dafür, dass sie ihm schmeichelte, um die Stelle zu bekommen, aber sie wollte so dringend unterrichten, und beruhigte sich damit, dass es ja bloß um eine kleine Notlüge ging, zu der sie griff.

Dass der Pastor irgendetwas anderes im Sinn hatte, als ihre fachliche Unterstützung in seiner Schule, als er zustimmte, sie einzustellen, ohne auch nur eine einzige weitere Frage zu stellen oder Stichproben ihres Wissens hören zu wollen, das kam Eleonore an diesem heißen Junitag nicht in den Sinn.

* * *

Ruth hatte dahingehend ein deutlich ausgeprägteres Gespür.

Als Eleonore die Freundin schließlich in ihren Plan, nach Silver Springs zu ziehen, einweihte, war sie sich mit dem Reverend schon über alle Details einig geworden. Sie war stolz auf sich, dass sie diese Dinge ganz alleine geregelt hatte, ohne den Rat der anderen. Sie fühlte sich unabhängig und sehr erwachsen, als sie Ruth alles erzählte.

Die starrte sie ungläubig an, machte den Mund auf und wieder zu, als ob sie sich bremsen müsse.

Dann aber konnte sie sich doch nicht mehr zurückhalten und es brach aus ihr hervor: „Eleonore, meine kleine, kluge Eleonore, bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Das klingt überhaupt nicht nach dir. Du bist doch sonst immer so besonnen!“

Eleonore fühlte sich, als ob man ihr ins Gesicht geschlagen hätte. Sie hatte damit gerechnet, dass Ruth sie bewundern würde für ihre Zielstrebigkeit und ihre klare Vorstellung von dem, was sie erreichen wollte.

Und nun sah Ruth sie an wie jemanden, der eben erklärt hatte, dass er seinen Tee morgen mit der Königin von England einnehmen wolle.

Eleonore wollte gerade etwas erwidern, als die Tür aufflog und Sven von draußen hereingerannt kam. Er streckte die kleine, ziemlich verdreckte Hand vor sich aus und war ganz außer Atem. „Schau nur, schau nur, ein dicker Käfer! Der hat sich genau auf mein Bein gesetzt! Auf meinem Knie ist er gelandet.“ Eleonore sah geistesabwesend auf das Insekt, das träge auf Svens Hand krabbelte. Als sie seine Begeisterung nicht teilte, drehte er sich zu Ruth. Die tätschelte ihm den Kopf und sah dabei fragend zu Eleonore, als ob sie noch immer auf eine Erklärung wartete.

„Sven, das ist ja ein wahnsinnig beeindruckender Krabbel-Käfer. Schau, da drüben steht ein Krug mit frischer Limonade. Nimm dir einen Becher und dann wieder raus mit dir!“

Sven ließ sich nicht lange bitten, er verbrachte derzeit jede freie Minute draußen und erkundete das neue Grundstück. Es gab so viel zu entdecken für einen kleinen Abenteurer wie ihn.

Als seine trappelnden Schritte verklangen, fragte Ruth: „Wissen Antonio und Manuel davon?“

Eleonores Ohren rauschten. Sie merkte, wie die ganze Ungeduld, die sie in den letzten Monaten gespürt hatte, sich jetzt Luft machen wollte. Ruths Nachfrage war berechtigt und war einzig auf ihre Sorge um die Freundin und das Misstrauen dem Reverend gegenüber zurückzuführen, aber das sah Eleonore nicht.

Ungewohnt scharf gab sie zurück: „Was ist dein Problem, Ruth? Warum sollte ich Antonio oder Manuel fragen? Kann ich nicht selbst über mich bestimmen? Und was geht dich das an? Du hast doch alles, was du willst! Deine Vergangenheit hast du weit hinter dir gelassen, dein Geschäft läuft gut, du hast ein eigenes Heim, einen wundervollen Ehemann und Kinder! Und nun gönnst du mir nicht, dass ich mir auch eine Aufgabe suche und endlich das mache, was ich will? Unterrichten! Andere bilden, mich selbst bilden!“

Sie holte tief Luft und fühlte die Tränen in sich aufsteigen. Bevor diese anfangen konnten, über ihre Wangen zu laufen, sprach sie trotzig weiter:

„Lass mich doch auch meinen Weg gehen! Erträgst du nicht, dass ich eine Entscheidung getroffen habe, ohne dich und deinen unergründlichen Schatz an Lebenserfahrung zu Rate gezogen zu haben? Hast du mich um Rat gefragt, als du beschlossen hast, fort zu ziehen? Und meinst du etwa, nur du weißt, wie die Welt funktioniert, nur weil du mal ganz weit unten warst?“

Sie funkelte Ruth böse an. Ihre ganze Unzufriedenheit, die ganze Einsamkeit, die sie in sich gespürt hatte, suchte sich jetzt einen Weg nach draußen, auch wenn sie wusste, dass es sich dabei um völlig unbegründete Gefühle handelte, denn niemand ließ sie im Stich. Aber Ruth hatte sie auf dem falschen Fuß erwischt und so waren die bösen Worte ausgespuckt, bevor sie sich versah.

Ruth schaute sie an, ohne etwas zu sagen. Dann drehte sie sich von Eleonore weg, sah aus dem Küchenfenster und schluckte hörbar.

„Eleonore, du solltest wissen, dass ich dich wie eine Schwester liebe, du bist für mich wie meine Familie. Ich bin dir wie keinem Menschen sonst zu Dank verpflichtet. Und was du eben gesagt hast, macht mich traurig, denn es ist nicht gerecht. Und wenn du dich im Stich gelassen fühlst, warum sprichst du dann nicht mit mir?“

Sie sah Eleonore nun direkt an und Tränen glänzten in ihren Augen. Sie ging einen Schritt auf Eleonore zu und wollte deren Hände ergreifen, aber die wich zurück. Ruths Arme blieben in einer hilflosen Geste in der Luft hängen. Eindringlich sah sie Eleonore an. „Ich mache mir Sorgen! Es war nicht bloß zum Scherz, dass ich dich vor dem Reverend gewarnt habe! Ich traue ihm keinen Deut über den Weg! Ich weiß, dass du unterrichten willst, Eleonore, und ich weiß auch, dass du es kannst. Ganz wundervoll kannst du es! Aber doch nicht in Silver Springs. Dann siehst du den Reverend jeden Tag! Es ist eine Sache, ob er hin und wieder ein Kind tauft, wobei ich sogar schon überlegt hatte, ob wir Lucas irgendwie ohne ihn getauft bekommen. Aber du musst ihn dann jeden Tag ertragen, diesen bigotten Kerl!“

„Aber irgendwer muss doch auf die Kinder aufpassen!“ Eleonore fühlte Verzweiflung in sich aufsteigen. Zusammen mit der Ungeduld und Wut, die sie gleichzeitig spürte, verursachte es ihr Bauschmerzen. Sie fühlte sich elend und alleine.

Und dann kamen die Tränen.

„Ach, Eleonore!“ Ruth nahm sie in die Arme, wiegte sie hin und her und fing gleich an, mitzuweinen.

„Ich will doch nur das Beste für dich. Ich dachte, du machst irgendwann deine eigene Schule auf. Auf der Hope Ranch. Oder es zieht dich wieder zurück in eine Stadt. Oder Silver Springs ist eines Tages so gewachsen, dass du dort Großes bewirken kannst. Dir fällt was ein, du bist so klug! Aber willst du wirklich mit Reverend Washington unterrichten…? Was ist, wenn er ganz andere Absichten hat?“

Eleonore löste sich aus der Umarmung. Sie zog die Nase hoch. „Sei nicht albern, Ruth! Es kann für ihn gar kein Zweifel daran bestehen, dass ich einzig und allein unterrichten will. Die Idee, dass… das ist völlig absurd,… du siehst Gespenster!“

Das Leuchten der Sterne in uns- Teil Zwei: Ankunft

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