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Anfang November gehört der ältliche Herr Herbst, auch der Goldene genannt, beinahe schon wieder der Vergangenheit an. An manchen Tagen wogt der Nebel bodennah, an anderen in zwei Kilometern Höhe, dann wieder linst die Sonne fahl und irrlichternd zwischen den Nebelschwaden hervor, durchbricht die Wolkendecke, nur um zu zeigen, dass sie („Huhu!“) immer noch existiert, wie die Diva, von der niemand mehr einen Song erwartet, sondern nur noch eine Erbschaft. Die Berge hüllen sich, sofern sie zu sehen sind, in düsterbraune Schleier, die alle bunten Farben abdecken. Sie benehmen sich wie sehr, sehr alte Leute, denen egal ist, was sie tragen: stumpfe Töne in gedeckten Schattierungen, Wald, Felsen, Wiesen. In Schneeweiß kleidet sich nur der altehrwürdig höchste Berg weit und breit, der Pizol, ein Schweizer, der stolz seine nur im Winterhalbjahr vorhandenen Silbervorräte zeigt. (Sein hartes Gletschergold hat er inzwischen eingebüßt). Der Rest: graubraun, dunkelbraun, grünbraun und braunbraun. Aber die Modeschau dauert nie lange, denn das Licht wird winterlich früh abgedreht, schon liegt der Laufsteg im Dunkeln.

In der Stunde zwischen Tag und Nacht, wenn der Himmel noch hell ist, die Hausfassaden bereits düster, die Straßen schlecht beleuchtet, wenn die Straßenlaternen als Kontrapunkt zum Himmelslicht antreten, die allumfassende Helligkeit schwindet und sich in kleine Lämpchen zusammenzieht, deren Strahlkraft mit dem Verlust des Tages zunimmt, kehrt Ruhe in die Umtriebe der Menschen. Die Luft wird kalt, der erste Frost starrt seit dem Morgen weiß auf den Wiesen, die Atemwolken vor dem Mund gut sichtbar, sogar im Dunkeln. Hannah findet, dass sich auch ihre Umtriebe allmählich zur Ruhe begeben dürfen, ihre Arbeitslust tut es schon längst, aber eine knappe Stunde wird sie noch ausharren müssen. Im Moment gibt es für sie nichts zu tun. Eine vorgemerkte Kundin fällt wegen Krankheit aus, wie überhaupt viele Leute in diesen Tagen an Krankheiten laborieren. Als würde die hierzulande im Mittelalter ausgestorbene Pest immer noch Symptome durch die stillen Gassen husten, ein bisschen Fieber, ein paar Krächzer und jede Menge Schleim, nicht gewillt, in medizinisch fortgeschrittenen Zeiten abzutreten. Die Pest, oder ihr Phantom, greift nach den Menschen, zieht sie an sich und behaucht sie.

Um sich von den peinigenden Bildern zu befreien, stürzt Hannah sich in Arbeit, in eine nicht wirklich vorhandene. Sie ordnet ihre Utensilien, die Klammern, Kämme, Scheren, Papiermanschetten und Gummihandschuhe. Sieht wiederholt der Dämmerung beim Einschleichen zu, dem Abend, der jedes Licht erfolgreich abwürgt und es tot zurücklässt. Die wenigen Leute, die sich unter diesen unheimlichen Vorzeichen noch ins Freie wagen, bilden lebende Scherenschnitte vor der hellen Glastür des Juweliergeschäfts. Ahnungslos willige Opfer der verseuchten Dunkelheit.

Zur Ablenkung ruft sie sich das Familientreffen an Allerheiligen in Erinnerung. Sie fuhr – wie jedes Jahr - in ihr Heimatdorf, nach Schlins, in dem sie zwar nicht mehr wohnt, das sie aber immer noch als ihre Heimat betrachtet, und traf sich mit Eltern, Schwester, angeheirateten Onkeln, blutsverwandten Tanten und zahlreichen Cousinen am Familiengrab, das in ihrer Phantasie offen stand. Dort fror man ein bisschen und trat herum und versuchte, mit einem einzigen Kerzenlicht warm zu werden und die kalten Toten zu vergessen, die unter den Füßen lagen. Beziehungsweise deren verrottende Reste. Danach ging man zusammen in ein Gasthaus und erst am späten Abend auseinander. Bei ihrer Schwester bahnt sich eine Hochzeit an, eine der Cousinen verkündete ihre Schwangerschaft, drei weitere schleppten bereits kleine Kinder mit, was den Weiterbestand der Familie sichert. Auf dem Kopf ihres Vaters zeigten sich mehr graue Haare als je zuvor. Vielleicht hätte manch anderer Mann nun geseufzt: wenigstens Haare. Aber an den vorhandenen Haaren sieht man den Alterungsprozess: zuerst Flaum, dann braun, dann fast schwarz, dann ein bisschen weiß und bald schlohweiß. Während die Mutter aufblüht, seit ihre Töchter ausgezogen sind, behauptet der Vater, dass er, alleingelassen von seinen Kindern, nur noch altere. Das Leben langweile ihn zusehends, das Haus sei still und zu groß geworden, wie ein Synthetik-Pullover, der, einmal zu heiß gewaschen, die Form und den Kontakt zum Körper verloren hat und nicht mehr wärmt. Wenn ihr Vater sich in einer solch wehmütigen Stimmung suhlt, neckt Hannah ihn oft: wegen ihr müsse er nicht schauspielern, er könne ruhig zugeben, Ihre Abwesenheit zu genießen, weil er endlich in Ruhe fernsehen kann. Dann hellt sich seine Miene auf, er zeigt mit dem breiten Zeigefinger, in dessen Rillen die harte Arbeit brennt, auf sie und bestätigt: „Genau, so ist es. Eure Sendungen waren schrecklich!“ Er lässt sich erklären, welche Soaps seine Töchter inzwischen verfolgen, um sich in seiner negativen Meinung bestätigt zu sehen. Nicht in Bezug auf die Töchter, sondern auf die Filme.

Je länger der Abend währte, desto höher stiegen die Fete und der Alkoholpegel, die Kinder trugen mit der Erhöhung des Lärmpegels zum allgemeinen Trubel bei, sprangen herum und schrien, bis ihre Eltern unter den missbilligenden Blicken der anwesenden Gäste beschlossen, nach Hause zu gehen und den Nachwuchs ins Bett zu stecken.

Sie denkt gerade an die Stimmung, die sie zu vorgerückter Stunde mit vereinten Kräften und explosivem Gelächter produziert hatten, als die Türe aufschwingt und Herr Bergmann oder Permann oder Berman eintritt. Der Pheromon-Mann jedenfalls. Er bringt einen Schwall kalter Luft mit, Holzrauch, Kamingestank und Frost, den er besser draußen gelassen hätte. Bei ihr stellt sich, da zum dritten Mal, bereits Routine ein, sowie sie ihn sieht. Er kommt wagemutig immer ohne Voranmeldung, was sich nur noch Männer mit kurzen Haaren und noch schnelleren Haarschnitten leisten können. Ihr fällt dazu ein Sprichwort ein: Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Irgendwann wird er mit Bedauern wieder weggeschickt werden, mit dem Hinweis, in den vollen Terminkalender lasse sich keine noch so kleine Lücke zwängen, er solle ein anderes Mal kommen. Aber an diesem Tag nicht, an diesem Tag verschwendet sie Zeit ohne Ende. Wenn auch nicht unbedingt für ihn. Sie hält sich zuerst im Hintergrund, scheinbar intensiv mit ihren Utensilien beschäftigt, in der Hoffnung, von Arbeit verschont zu bleiben, aber es ist klar, was gleich passieren wird. Prompt ordnet die Chefin an: „Hannah, übernimmst du bitte“, und nickt in besagte Richtung. Ungern pickelt sie sich von ihren Tagträumen los und nimmt dem Kunden den dicken Mantel ab. 1A-Qualität, warm, echter Loden, das Erzeugeretikett wird sie ein andermal studieren. Sie dirigiert ihn (den Mann, nicht den Mantel) zu ihrem Platz.

Vorwürfe, zu viel geredet zu haben, plagen ihn diesmal nicht, obwohl er auch einen Monat zuvor Dinge verraten hat, die nicht einmal seine Freundin weiß. Das eine oder andere davon wird sie, die Freundin, zwar noch erfahren, sofern ihre Beziehung lang genug währt (er sieht aber kein Problem darin, wenn sie es nicht erfährt) und misst den Details, die er im Salon von sich gibt, keine Bedeutung mehr bei. Mehrere Wochen mussten ausreichen, um etwaige Informationslecks zu entdecken. Er fand keine, die ihm geschadet oder Spott eingetragen hätten. Die Friseurin erzählt vielleicht Außenstehenden nichts oder kennt nur verschwiegene Personen. Die sonstigen Ohrenzeugen im Raum scheinen viel nicht mitzubekommen, was ihn nicht weiter wundert: Die Gespräche sind von Wasserrauschen und Föhngebläse untermalt. Das Heulen und Plätschern, das Reden und Surren bilden eine Lärmkulisse, die viele Worte schluckt. Er entspannt sich sofort und nimmt angenehm überrascht das gute Gedächtnis der Friseurin zur Kenntnis: Sie fragt ihn nicht mehr, ob er Zeitschriften anzuschauen wünsche. Er seinerseits weicht von der Routine ab und bejaht die Frage nach einem Getränk. Er bittet um einen Tee, egal welchen, da ihn seit einigen Stunden Halsweh plagt. Das Halstuch, das er trägt, (Seide?!! Oder Kaschmir?) legt er aus demselben Grund nur ungern ab. Sie errät, was ihm zusetzt, und stellt einleitend fest: „Ja, viele sind im Moment krank. Sie haben Recht, wenn Sie heißen Tee trinken und ein Halstuch tragen. Es herrscht Eiseskälte.“

„Naja.“ Seine Stimme krächzt leicht, zumindest anfangs, wenn er zu reden beginnt. Gehindert durch seine lädierten Stimmbänder vertieft er das Thema nicht. Genaugenommen brennen auch seine Wangen, der Kopf fühlt sich dumpf an, nicht so, als habe er Fieber, das hat er nicht. Aber so, wie sich eine Verkühlung ankündigt, die sich unter Umständen zu einer Krankheit auswächst. Seine Zehen stoßen klamm an das Innenleder der Schuhe. Allein der Gedanke, nach dem Friseurbesuch stundenlang zu arbeiten, lässt ihn frösteln. Er hätte an einem anderen Tag kommen sollen, aber er gehört zu den unflexiblen Menschen: wenn er sich am Morgen vornimmt, den monatlichen Friseurtermin am selben Tag zu erledigen, bringt ihn kurz darauf beginnendes Halsweh nicht davon ab. Als Zugeständnis an seine Abgeschlagenheit schließt er leidend die Augen, lehnt sich zurück und versucht, an nichts zu denken. Erst der Geruch nach Hagebuttentee lässt ihn die Augen wieder öffnen.

„Ich weiß nicht“, sagt die Friseurin, „ob der Tee genehm ist. Ich mag ihn gerne.“

Er nickt, da ihm am Tee momentan hauptsächlich die Hitze zusagt. Für ihn gibt es nur einen Tee gibt, der schrecklicher schmeckt, als Hagebuttentee (nämlich Kamillentee). Für Diskussionen darüber fehlt ihm gerade die Energie. Auch die Tatsache, dass er den Tee in einer einfachen Tasse serviert bekommt, (Teebeutel und Zucker bereits enthalten, ebenso der Löffel) kommentiert er nicht, obwohl ihm die Bemerkung auf der Zunge liegt, sie möge doch einmal das Café seiner Schwester mit ihrem Besuch beehren, denn dort serviert man Tee so, wie man das in einem anständigen Lokal macht: mit Kännchen, verschiedenen Zuckersorten, einem Schnitz Zitrone und einem Becherchen Rahm, alles auf einem kleinen Tablett angeordnet, samt einem leeren Schälchen für den benutzten Teebeutel, den man zuvor selber ins Wasser gehängt hat, damit der Tee nach Wunsch ziehen kann. Er hilft manchmal bei seiner Schwester aus und hätte so ein Tablett blind zusammenstellen können.

Ganz gegen ihre Gewohnheit fragt Hannah wiederholt nach, ob die Wassertemperatur passe. Ihre Einbildungskraft liegt nahe an ihrem Einfühlungsvermögen. Sie wäre im Mittelalter an der eingebildeten Pest gestorben. Weil sie sieht, dass ihn fröstelt, fröstelt sie auch, weshalb sie sich so oft nach der Wassertemperatur erkundigt, dass sie allmählich nervt. Er nickt jedes Mal müde und lässt sie gewähren. Sie hält die Temperatur konstant heiß und versucht die Viren und Bakterien, die ihn gerade dicht besiedeln, aus ihren Gedanken auszuklammern, beziehungsweise mental abzutöten. Sie bedauert, nicht wie der Zauberlehrling das Wasser von allein marschieren lassen zu können. Ihrer Meinung nach stellt das Haarewaschen in Zeiten von Seuchen einen zu engen Körperkontakt dar. Trotzdem trocknet sie seinen Kopf anschließend gründlich ab und beginnt mit dem üblichen Schnitt. Der Chemiker scheint nicht in der Laune zu sein, auch nur zuzuhören, wenn sie plaudert, weshalb sie neben dem Reden gleich das Zuhören mit übernimmt: „Sie müssen nichts sagen, nein, aber ich möchte etwas beichten.“

Oje, denkt er, obwohl ihm auch das Denken nicht leicht fällt, gleich gesteht sie, dass sie ihrer Freundin von unseren Gesprächen erzählt, weiß, wie meine Schwester heißt und welches Café sie führt … daher registriert er erst zeitverzögert, wovon sie wirklich spricht: „Das war nicht der einzige Grund für das Klavier. Jedes Instrument klingt im Grund langweilig, wenn man darauf üben muss, da mache ich mir gar keine Illusionen. Der wahre Grund ist der: Mein Großvater hatte eines. Er war das, was man unter einem einfachen Menschen versteht, aber hochmusikalisch, der Vater meines Vaters. Ich durfte ihn als Kind immer in seinem Heimatort in Salzburg besuchen, auf dem Land. Das müssen Sie sich vorstellen: ein Bauernhof…“

„Er war Bauer?“. Er hätte seine Stimme schonen sollen, aber Ungereimtheiten interessieren ihn.

„Ja. Und...“

„Entschuldigen Sie,…hrm… wenn ich Sie unterbreche, aber das möchte ich jetzt schon wissen: Sie wollen sich einen Bauernhof erheiraten, obwohl Ihr Opa einen hat?“

„Er hat ihn nicht mehr, das heißt, mein Opa lebt nicht mehr und der Hof wurde verkauft. Mein Vater wollte kein Bauer sein, er ist Schlosser geworden, meine Tante hat anderweitig geheiratet, auch keinen Bauern. Und, um das gleich noch zu erklären: mein Opa wurde nicht alt, er war dreiundsechzig, ich erst 12, als er starb. Zu dem Zeitpunkt konnte ich seinen Hof nicht übernehmen, wie Sie sich denken können. Aber lassen Sie mich erzählen, warum ein Klavier: mein Opa konnte spielen, das glauben Sie nicht. Sie hätten es hören müssen. Sicher, ich war ein Kind, aber viele Leute bestätigen mir heute noch, dass mich meine Erinnerung nicht trügt. Sie sagen, so sei es gewesen. Er hat gespielt wie ein Gott. Naja, vielleicht nicht sooo gut, aber eben einfach … Ich bin als Kind neben ihm gesessen, wenn er gespielt hat, vor allem in den Weihnachtsferien. Im Sommer kam er aufgrund der vielen Arbeit kaum dazu, aber an Weihnachten, im Winter, wenn einem Bauern doch die Zeit so reichlich wie Manna vom Himmel fällt, habe ich ihm stundenlang zugehört und mit offenen Augen geträumt. Verstehen Sie, ihn hat nie ein anderes Instrument begleitet, es hat auch niemand dazu gesungen. Nur das Klavier. Pur. Aber die Melodien, lustige, traurige, schwere, freche, schnelle, langsame: kunterbunt durcheinander. So spielen zu können wäre mein Traum. Mein Vater hat die Noten geerbt, sie liegen bei meinen Eltern zuhause in einem Schrank im Wohnzimmer, drei ganz dicke Stapel. Die Noten hat sich mein Opa in der Stadt besorgt. Im Laufe seines Lebens kam einiges zusammen. Manchmal haben ihm Freunde Noten zum Namenstag oder zu Weihnachten geschenkt.“

„…mens… Namenstag?“

„Ja, kommt Ihnen das komisch vor? Dort auf dem Land feiert man den Namenstag mehr als den Geburtstag, zumindest damals, und so lang ist das ja noch nicht her. Also hat er die Noten zum Namenstag bekommen. Und ich kann sie nicht einmal lesen.“

„Hrm…Dann sollten Sie das wirklich lernen.“

„Bleibt noch das Klavier. Das hat mein Vater nicht mitgenommen, er kann nicht spielen und hat gesagt: `So wie er werde ich das nie können, was soll ich also mit einem Klavier.´ - Er hat es einem Musiker in Salzburg abgetreten.“

„Kchk.. .. Herrgott, der Hals! Kaufen Sie sich ein Keyboard, ein E-Piano oder etwas Ähnliches.“

„Nein. Wenn, dann müsste es ein Flügel sein.“

„Jeder fängt klein an.“

„Ich nicht, ich fange gar nicht an. Nur wenn ich ganz viel Geld hätte, würde ich mir einen Flügel kaufen und ihn mir ins Wohnzimmer stellen. Also ins neue Wohnzimmer, im alten wär kein Platz. Und dann kämen, wenn ich ihn ansehe, Erinnerungen hoch. An das staubtrockene Heu im Dachboden. An den See, der gerade einmal zehn Rennminuten vom Hof entfernt war. An die Kühe im Stall, die ich mit der Heugabel gefüttert habe. Das war immer eine Zeit ohne Schule, unbeschwert.“

„Wenn …hrmm…Sie Klavierkonzerte besuchen…“ Immer wieder klingt seine Stimme kratzig, daher versichert sie, die ihre Rolle als Alleinunterhalterin genießt, hastig: „Reden Sie nicht, Sie müssen gar nichts sagen, das erledige ich. Aber wissen Sie, ich besuche keine Klavierkonzerte.“

„..rum nicht ?“

„Schsch“, macht sie und vergleicht die Haarlänge an den Ohren. Links noch ein Spitzchen weggeschnitten, dann passt sie. „Was glauben Sie? Dass ich mich ernsthaft in ein Klavierkonzert setze? Ich soll mich zuerst fein anziehen und dann mitten unter diesen … vornehmen Leuten sitzen, die alle mit ihren Programmen rascheln und verhalten hüsteln und streng schauen, wenn man niesen muss? Als würde man absichtlich niesen! Und in dem engen Rock, den ich tragen müsste, könnte ich mich gar nicht bewegen? Die klebrigen Knie übereinander gequetscht? Und mit dem dünnen Jäckchen wäre mir außerdem kalt, weil im Saal die Türen offenstehen... in diesen Sälen stehen doch immer die Türen zum Gang offen. Wissen Sie, Klaviermusik muss man allein genießen, mit dicken Hüttenpatschen an den Füßen, einem Tee vor sich… die Luft darf dann ruhig nach Jauche stinken oder nach Vanillekipfeln duften... die hat meine Oma immer gebacken. Die meiner Oma waren besser als die von Ihrer. Ganz bestimmt. Auch wenn Sie wahrscheinlich widersprechen wollen.“

Er kann von seiner Oma überhaupt nicht behaupten, dass sie gebacken hätte. Sie kann wahrscheinlich gar nicht backen. Wenn er an Vanillekipfeln denkt, spürte er eine vage Sehnsucht nach einer Erinnerung, die er gar nicht hat, vielleicht nach den prall gefüllten Kekssäckchen, die man in der Konditorei bekommt, sofern man sie sich leisten will. „…Klavierkonzerte.“ krächzt er, der Anfang des Satzes verdorrt in seinem Hals.

„Schonen Sie um Gottes Willen Ihre Stimme!“ Sie schnippelt eifrig an seinen Nackenhaaren herum. „Sonst ist sie bald ganz weg. Dann müssen Sie Ihren 100 Untergebenen mit Fingern deuten, wie Sie die Cocktails gemischt haben möchten. In Ihrem eigenen Interesse sagen Sie nichts. Ich brauch Sie nicht zum Reden, ich kann mich sehr gut allein unterhalten...“ (Daran zweifelt er keine Sekunde) „...und Sie… nein, nicken oder den Kopf schütteln dürfen Sie keinesfalls.“ Sie überlegt kurz, was sie ihm überhaupt erlauben soll, dann kommt ihr die rettende Idee: „Sie heben eine Hand, wenn Sie „ja“ meinen und beide, wenn Sie „nein“ meinen. Also, wollten Sie sagen, dass ich wenigstens einmal in meinem Leben ein Klavierkonzert besuchen muss?“ Anstatt ihre Anordnungen zu befolgen, schüttelt er den Kopf, was sie mit einem kleinen Wutschrei quittiert. „Beide Hände“, ruft sie, „für `Nein´ beide Hände heben!“

Sie muss es in ihrer Aufregung etwas zu schrill geschrien haben, denn Analena flüstert ihr, einen Stapel sauberer Handtücher auf dem Arm, im Vorbeigehen zu: „Die Chefin schaut schon, Hannah!“

Oh, das stimmt leider. Sie bedankt sich für die Warnung und fährt leiser an ihren Kunden gewandt fort: „Sie meinten, dass Ihnen Klavierkonzerte gefallen?“ Er hebt beide Hände. Allein die richtige Anzahl von Händen zu heben scheint ihm heute ein schwieriges Unterfangen. Sogar die Unterscheidung zwischen eins und zwei bereitet Mühe.

Beneidenswert mühelos überlegt dagegen sie: „Wir haben von Ihrer Oma gesprochen. Hat sie mit Klavierkonzerten zu tun?“

Diesmal hebt er eine Hand. Ja.

„War sie irgendwann für Kulturveranstaltungen zuständig?“

Beide Hände. Nein. „Mich“, sagt er heiser, „hat sie in….“

„In Klavierkonzerte geschleppt?“ Er nickt. Mit Vehemenz bremst sie seinen aus dem Nicken hochfahrenden Kopf ab. „So eine Oma war das also? Meine hat Musik, abgesehen von Opas Stücken, höchstens im Radio gehört. Ziemlich laut, weil ihre Ohren schon reichlich … lahm – na, Sie wissen schon.“

„… alt?“

„Meine Oma? Nein, sie wurde auch nicht alt. Sie war von vornherein ein bisschen älter als mein Opa, aber dann hat sie ihn nicht lang überlebt. Und Klavier spielen konnte sie überhaupt nicht. So, jetzt noch die Haare oben. Leichter Seitenscheitel wie immer?“

„Hrm…Ja.“ Sein Kopf hält still, er scheint sich gemerkt zu haben, dass sie Nicken nicht ausstehen kann.

„Gut. Aber gegen die Schuppen… egal. Sie wollen einfach Schuppen haben, das ist in Ordnung. Wissen Sie was, ich lege Ihnen noch ein trockenes Handtuch um den Hals, vielleicht hilft es ja ein wenig gegen die Zugluft. Und möchten Sie noch einmal eine Tasse Tee?“

„Ger...“ Er räuspert sich. „Gern. Hrben Sie vielleicht auch Minze?“ Der Blick, den sie ihm zuwirft, hätte ihn beinahe abgemurkst.

Diesmal holt sie den Tee nicht selber (mit so einem scharfen und stinkenden Gebräu gibt sie sich nicht ab), sondern winkt Analena zu sich und erteilt ihr den Auftrag. Sie selbst plaudert ungestört weiter (er kann sie ja mit seiner lädierten Stimme nicht allzu oft unterbrechen): „Von Ihrer Oma erzählen Sie mir das nächste Mal, wenn es Ihnen wieder besser geht. Inzwischen schwärme ich Ihnen von meinen Großeltern und den herrlichen Ferien auf dem Land vor. Sie kennen die Gegend vielleicht, hügelig, mit viel Raum und Himmel und schönen Seen, im Herbst und Winter ein wenig nebelig, aber was Nebel anbelangt, sind wir hier ja auch nicht verwöhnt. Und dazu alles, was man als Kind zum Glücklichsein braucht: Ferien, MärchenCDs und -DVDs, Tiere, Schlamm, gutes Essen.... Meine Oma hat immer hervorragend gekocht. Wärme – im Sommer von der Sonne, im Winter von dem Holzofen, den man in der Stube neben der Küche beheizt hat, und dort bin ich meistens herumgelungert. Also im Winter jetzt. Im Sommer war ich überall, nur nicht im Haus. Da musste man mich regelmäßig draußen suchen gehen. Damals ging ich sogar schwimmen. Aber mit dem Winter, mit Minusgraden – manchmal lag auch Schnee, meistens nach Weihnachten, nie davor – verbinde ich immer das Klavier. Ja…“ Sie lacht verschmitzt, „Sie dürfen mich ruhig beneiden.“ Auf ihr Lachen folgt ein abgrundtiefer Seufzer. Der Sommerduft von geschnittenem Gras. Im düsteren Stall das Klirren der Ketten am Hals der Kühe, deren zuckende, mit Nummerntäfelchen versehene Ohren, das langsame Mahlen der weichen Lippen und der Speichel, der ihnen träge aus dem Maulwinkel troff. Der in den Sonnenstrahlen tanzende Staub, gepuderte Wege, aufgewühlt von schweren Traktoren. Die Schwäne, die wie stolze Hochseeschiffe durch den Löwenzahn wankten (Ja, sie kamen durchaus auch an Land). Daneben das silbrig wogende Schilf, der kalt kitzelnde Morgentau zwischen den Zehen. Das sanfte Plätschern der Wellen, die glitzernden Steine im zitternden Wasser, die Fischer in grünen Gummilatzhosen, das panisch-orange Blinklicht vor dem schwarz heraufziehenden Sturm. – Es passiert ihr öfter: Manchmal weilt sie bei der Arbeit gedanklich in den Ferien ihrer Kindheit. Ihr Kopf liegt in der Streuobstwiese unter den reifenden Äpfeln, die Hände zwirbeln Grashalme um die Fingerknöchel… Analena bringt den Tee. Weg, alle Erinnerungen zerstoben. Gereizt wartet sie, bis der Kunde ein paar Schlucke getrunken hat. Die Hitze im Hals scheint ihm gutzutun, denn mit nunmehr klarer Stimme sagt er: „Paradiesisch.“

„Der Tee?“ Sie beäugt ihn misstrauisch.

„Der auch, ja. Und die Ferien. Hrrm.“ Er muss sich doch wieder räuspern.

„Ja. Aber nicht immer. Man benötigte uns bei der Arbeit auf dem Hof, an glühend heißen Sommertagen eine Qual. Sie glauben, dass die Hitze Sie versengt. Und tragische Ereignisse gab es auch: einmal sind zwei Hennen in die Klärgrube gefallen und ertrunken. Der Hund meiner Großeltern warf in einem Frühling fünf Welpen. Einer davon wurde von einem Auto angefahren, das auf den Hof einbog. Man musste ihn einschläfern lassen. Jedes Ereignis für sich der halbe Weltuntergang. Und dann gab es da noch meine Schwester, die habe ich Ihnen wohlweislich verschwiegen. Ich möchte nämlich jetzt nicht behaupten, dass wir nie gestritten hätten. Im Gegenteil. Wenn Sie sich einen Hahnenkampf vorstellen, bei dem die Federn nur so stieben... so hat sich das zwischen mir und meiner Schwester abgespielt. Weil sie älter war, blieb sie meistens siegreich. In einem Winter wurde sie außerdem sehr krank, hatte hohes Fieber und delirierte. Sie hat sich im Bett aufgesetzt, auf die gegenüberliegende Zimmerwand gedeutet und geschrien: „Bär! Bär! Bär!“ Nonstop, stereotyp. Gespenstisch. Viele meiner Gruselgeschichten stammen original von meiner Schwester. Wir konnten sie kaum beruhigen. Am nächsten Tag wusste sie nichts von ihrem Zoo. Außerdem ist sie schlafwandeln gegangen, hat sogar einmal mitten in der Nacht das Haus verlassen und an der Haustür geklingelt. Können Sie sich unseren Schrecken vorstellen? Ein paar Tage danach noch glaubte ich, es sei nicht meine Schwester gewesen, die da nächtens vor der Tür stand, sondern ein Geist, der sie ersetzte. Bis sie sich wieder so verhalten hat, wie meine Schwester. Da wusste ich: Sie ist echt. Was wäre das für eine Tragödie gewesen, wenn sie damals davongelaufen und im See ertrunken oder unter ein Auto geraten wäre? Immer wieder hat sie mir Angst eingejagt und mir mit Vorliebe am späten Abend Gruselgeschichten erzählt. Wenn ich traumatisiert zu meinen Großeltern in die Stube hinaus tappte, weil ich nicht einschlafen konnte, und sie zur Rede gestellt wurde, wusste sie von nichts. Ganze Romane hat sie erzählt, die allerdings unbrauchbar waren, weil niemand dieses Grauen lesen hätte wollen. Aber abgesehen davon – war es meistens schön, ja.“

Ihre Arbeit nähert sich dem Ende. Diesmal greift sie zum Föhn und trocknet seine Haare sehr gründlich. Ihm muss immer noch ein bisschen kalt sein. Sie zumindest friert. Er trink seinen grässlichen Tee, lehnt sich zurück und starrt vollkommen fertig vor sich hin, macht sogar die Augen zu. Seine Haare trocknen im beginnenden Fieber, sie legt den Föhn zur Seite, fährt mit der Bürste ein letztes Mal über den dunklen Schopf und fegt die Haarspitzen von Hals und Schultern. Wie immer nimmt sie den Umhang zusammen. Der Schnittabfall landet auf dem Boden. Als er seine Frisur im Spiegel sieht, nickt er zustimmend und steht steif und ungelenk auf.

An der Kassa krächzt er ein „Danke“, drückt ihr wieder fünf Euro Trinkgeld in die Hand und dreht sich zur Garderobe um. Sie hilft ihm in den Mantel (das Etikett zu entziffern gelingt ihr auch diesmal nicht) und fühlt sich wie ein Kavalier der alten Schule. Im letzten Moment fällt ihr das Halstuch auf dem Tisch vor dem Spiegel ein, doch Analena war schneller und reicht es ihm.

„Mütze?“, fragt Hannah. Sie hört sich an wie ihre eigene Mutter. Der Gedanke, er könnte gesundheitlich angeschlagen mit so kurzen Haaren und unbedecktem Kopf in die kalte Nachtluft hinaustreten, behagt ihr nicht.

„Nein“, krächzt er, nickt grüßend und tritt auf die Straße.

Dort fährt ihm der Frost in die Glieder, die sich schwer und träge anfühlen, Arme und Beine aus Blei, das Hirn wie vernebelt.

Am nächsten Tag glüht er im Fieber und wälzt das, was ihm die Friseurin am Vortag erzählt hat, wie eine Steinlawine im Kopf herum. Die Worte scheinen als Echo vielstimmig widerzuhallen, Sätze verlorenzugehen, Satzfetzen in Endlosschleife hängen zu bleiben. Hitze und Schweiß schwächen seinen Körper, der Kopf dröhnt. Erst, als das Fieber nach drei Tagen langsam sinkt, vermag er wieder klar zu denken.



HaarLos

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