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Mitten auf dem Kriegspfad: Rumegies (1693–1713)

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Ende des 17. Jahrhunderts verlief eine der wichtigsten Linien in der Kriegführung mitten durch das französischsprachige Dorf Rumegies in der Nähe von Lille, an der Grenze zwischen Flandern und Frankreich. Der Pfarrer der Gemeinde, die aus 84 Familien bestand, hieß Alexandre Dubois. Seine Tagebücher zeigen ihn als engagierten, klugen und sympathischen Kirchenmann mit einem leichten Hang zur Ironie. Zudem war er bemerkenswert gut darüber informiert, was in Europa vor sich ging.

In dieser Region gaben sich in- und ausländische Armeen fast zwanzig Jahre lang die Klinke in die Hand, in Kriegen zwischen dem Frankreich Ludwigs XIV. und den Niederlanden, die sich mit England, Spanien und einer Liga deutscher Fürsten verbündeten. Dubois’ Schriften beschreiben, was damals in und um Rumegies herum passierte.

Die Geldknappheit im Dorf begann im Jahr 1691, als das Königshaus neue lokale Behörden einrichtete, die einzig und allein dazu dienten, der Krone Geld zu verschaffen. Das Dorf war gezwungen, sich diese Behörde zu „kaufen“.

Im Jahr 1693 trat der Herzog von Württemberg auf den Plan, 20.000 Mann hinter sich, und verlangte auf einmal „Beiträge“. Rumegies wurde eine immense Abgabe von 30.000 Gulden auferlegt.

Man nahm im weiteren Umkreis des Dorfes Geiseln und schickte sie nach Gent, wo sie bleiben sollten, bis die Zahlung geleistet war. Doch ein Sieg der Franzosen bei Neerwinden, „zum Ruhme Frankreichs und zum Ruin unseres Dorfes“, leitete die Zahlungen in die Hände der Franzosen um, und obgleich diese die Abgabe auf 18.000 Gulden senkten, gab es erbitterte Klagen. Die Lebensmittelpreise waren gestiegen; die Wohlhabenderen mussten zusehen, wie mit den Abgaben ihre Überschüsse schwanden, und die ärmeren Leute konnten sich bald kein Brot mehr leisten. In jenem Jahr war in der Gegend kein Getreide geerntet worden. Doch der Pfälzische Erbfolgekrieg (1688–1697) ging weiter.

Im Winter und Frühjahr 1694 verhungerten unablässig Menschen, und Tag für Tag kamen mehr Fremde in die Kirche von Rumegies, um Dubois um Brot zu bitten. Im Jahr 1695 führte die Krone eine allgemeine Kopfsteuer ein, um den Krieg zu finanzieren, trotz der Tatsache, dass auch alle „Beiträge“ für den Unterhalt der königlichen Armeen ausgegeben wurden. Im Juni jenes Jahres griff man in den Weizenfeldern von Rumegies 17 spanische Soldaten auf – sicherlich Deserteure der frankreichfeindlichen Truppen –, die das Korn von den Halmen schabten. Die Dorfbewohner töteten einen von ihnen, die übrigen 16 konnten flüchten.

Die Getreidepreise in der Region Rumegies waren für die meisten Menschen weiterhin zu hoch, und Dubois wettert gegen die „Neureichen“, die rechtzeitig Getreide gebunkert hatten und nun im Verkauf hohe Gewinne einstrichen.

1697 regnete es so viel, dass es im Dorf eine ziemlich schlechte Ernte. Das Einzige, was man ernten konnte, war Roggen. In seinen Einträgen des Jahres 1698 schreibt Dubois über drei Brüder einer ortsansässigen ‚Problemfamilie‘. Einer hatte ein Pferd gestohlen und wurde gehängt, einer beendete sein Leben als Galeerensklave, und der dritte hatte erst im französischen und dann im spanischen Heer gekämpft, war dabei fünfmal desertiert und hatte jedes Mal die Prämie für neue Rekruten eingestrichen.

An die Hungersnot von 1699 sollte man sich noch lange erinnern. „Hunderte“ standen täglich Schlange, um nach Brot zu betteln. Doch schon kurze Zeit später rüstete man sich wieder zum Krieg (1701) und erhob erneut eine Kopfsteuer, dieses Mal ohne zeitliche Begrenzung; fünf Jungen wurden aus dem Ort wurden gezwungen, sich einer Miliz anzuschließen, drei weitere mussten in die Armee des Königs eintreten.

Wieder ein paar Jahre später (1708) belagerte eine niederländische Armee mit Unterstützung der Briten die Stadt Lille, und von August bis Dezember wurde die gesamte Region von plündernden französischen Soldaten überrannt, Reitern, die Heu für ihre Pferde stahlen.

Auf das ohnehin schon schwierige Jahr folgte ein nasser und kalter Winter, der bis April 1709 andauerte. Doch auch der Frühling brachte für Rumegies keine Entspannung. Die französische Armee war gezwungen, sich zurückzuziehen.

Am 27. Mai fiel eine plündernde Armee von mehr als 10.000 Söldnern aus der Niederländischen Republik in die Diözese Saint-Amand ein, zu der die Pfarrei Rumegies gehörte. Binnen weniger als drei Monaten starben 180 Dorfbewohner. Alexandre Dubois beschreibt die Eindringlinge mit Bildern, die er Schilderungen des Jüngsten Gerichts entnimmt. Niemand im Dorf verstand die Sprache der Niederländer; sie waren bewaffnet „mit Pistolen, Bajonetten, Schwertern und großen Stäben … und sie zerstörten alles. Sie nahmen fünfzig Kühe und dreißig Pferde; und nachdem sie nach Belieben alles stahlen, dessen sie habhaft werden konnten, … taten sie einigen Frauen Gewalt an und töteten mehrere Dorfbewohner durch Stockhiebe.“ Sie brachen auch in die Pfarrkirche ein, „plünderten und entweihten sie“ und verprügelten unseren Chronisten, Dubois. Ihre „Gesichter zeigten nichts als Blutdurst … sie lieferten Rumegies ihrer Wut aus“.

Dubois und die Dorfbewohner flohen. Aber als sie zwei, drei Tage später zurückkamen, war von ihren Häusern „nichts mehr übrig als die Mauern“: Da gab es „keine Türen, keine Fenster, kein Glas, kein Stückchen Metall mehr – und was noch schlimmer war: keinen einzigen Ballen Heu. Tatsächlich gab es keinen einzigen mehr in der gesamten Region Tournai, und das führte dazu, dass im folgenden Winter fast alle Tiere starben.“ Dubois bekam mit, dass auch Dorfbewohner an Unterernährung starben: Bis Weihnachten waren viele Menschen tot, aber unter ihnen war nicht einer von denen, die genug zu essen gehabt hatten: „Die meisten Toten hatten weder Geld gehabt noch Unterwäsche noch Stroh, auf dem sie schlafen konnten.“ Und das Brot, das die Menschen aßen, war von einer Art, wie es „im Jahr zuvor nicht einmal die Hunde gefressen hätten“.

Ostern 1710 kam eine Armee nach Rumegies, die sich auf dem Weg zur Belagerung von Douai befand. Die Soldaten stahlen alles, was ihnen in die Finger kam. Ein Jahr später musste das Dorf sechs Wochen lang Soldaten eines hannoverschen Infanterie-Regiments beherbergen – und versorgen. Im März 1712 hausten zehn Tage lang französische Kavalleristen im Ort, die Holz, Fuhrwerke, Pferde und Heu mitnahmen: „Wären sie noch länger geblieben, wir wären gezwungen gewesen, das Dorf zu verlassen. Diese Herren nehmen alle Pferde … Sie halten sie so lange, wie sie wollen, bis sie abgenutzt sind, sie geben ihnen nichts zu fressen und geben auch ihren Besitzern nichts dafür. Sie treiben unsere armen Bauern zur Verzweiflung.“ Zwischen 1709 und 1713 fiel die Nachbarstadt, Saint-Amand, mehrmals in neue Hände, wurde zwischen niederländischen und französischen Armeen hin- und hergereicht, und jedes Mal musste Rumegies so viel Heu, Werkzeuge, Geld und Lebensmittel bereitstellen, dass für die Dorfbewohner nichts mehr blieb. Am Ende musste Rumegies, wie alle Nachbardörfer auch, seine Ländereien verkaufen, um die armen Leute in der Gemeinde ernähren zu können – und das für weniger als die Hälfte des üblichen Wertes.

Der Priester beendet seine Beschreibung der Ereignisse von 1709 mit einem Bericht von niederländischen Soldaten, die die drei Glocken der Dorfkirche abmontierten und fortschaffen wollten. Als es ihnen nicht gelang, versuchten sie frustriert, sie zu zerschlagen. Als auch das nicht klappte, setzen sie eine der Glocken so stark in Schwung, bis sie vom Glockenturm fiel. Und als die Glocke nach dem Auftreffen auf dem Boden noch immer intakt war, schmissen sie eine zweite Glocke hinterher, die auf der ersten landete. Dadurch entstanden an beiden Glocken feine Risse, so dass sie schließlich eingeschmolzen und neu gegossen werden mussten. Das wurde in Tournai gemacht und war ziemlich teuer; am Sonntag, dem 29. Oktober 1713, wurden die neuen Glocken geweiht.

Die Szene mit den Glocken erinnert an die religiös motivierten Kämpfe des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) oder der Hugenottenkriege (1562–1598). Die Soldaten Ludwigs XIV. hatten 1681 die protestantische Stadt Straßburg eingenommen und dort den Katholizismus wieder durchgesetzt; und als der französische König im Jahr 1685 das Edikt von Nantes (1598) aufhob, verstießen von einem Moment auf den anderen alle französischen Protestanten gegen das Gesetz. Die Gewalt, die die niederländischen Soldaten den „papistischen“ Kirchenglocken von Rumegies antaten, war also vermutlich eine Reaktion auf die Unterdrückung der protestantischen Kirche in Frankreich. Zweifellos marschierten in ihren Reihen auch französische Hugenotten.

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