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INDIVIDUELLE EXISTENZ UND ÖFFENTLICHE VERNUNFT Vorwort zur Neuausgabe der ersten Kant-Biographien aus dem Jahr 1804

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Wenn es nicht eine durchsichtige Ablenkung vom eigenen Leben wäre, könnte man einen Skandal der Philosophie darin sehen, dass ein prominenter Denker des 20. Jahrhunderts die Ansicht vertreten hat, über das Leben eines Philosophen brauche man nicht mehr zu wissen, als dass er geboren wurde, gelebt hat und gestorben ist. Die triviale Bemerkung, mit der man alles Leben über einen Kamm scheren kann, sollte die besondere Abstraktionsleistung der Philosophen akzentuieren: Sie sehen von allen Nichtigkeiten des individuellen Daseins ab, um sich ausschließlich den grundlegenden Bedingungen des Seins zuzuwenden.

Wenn es einen Philosophen gibt, der das Interesse an den allgemeinen Prinzipien des Erkennens und Handelns zum zentralen Gegenstand seines Philosophierens gemacht hat, dann ist es Immanuel Kant. Als „Transzendentalphilosoph“ hat er sich der Erkundung des Prinzipiellen auf neue Weise und mit weithin anerkanntem Erfolg gewidmet. Zwar hat seine kritische Philosophie nicht jeden überzeugt, aber es ist unbestritten, dass ihr Erfinder sich ihr in beispielloser Konzentration gewidmet hat. Dabei hat er seine Geburtsstadt Königsberg nicht verlassen, hat dort in einem kaum gestörten Gleichmaß gelebt und ist da auch gestorben. Insofern scheint er dem Diktum Heideggers auf ideale Weise zu entsprechen. Er wurde geboren, lebte und starb, ohne bleibende Spuren zu hinterlassen – von seinen Gedanken abgesehen.

In der Tat: Kant ist nicht, wie wir es von Platon wissen, auf einem Sklavenmarkt als Ware feilgeboten worden; er wurde nicht, wie Seneca, in die Verbannung geschickt; seine philosophische Eigenständigkeit zog ihm zwar den Argwohn und die Missgunst seiner akademischen Kollegen zu, aber er war, anders als Descartes, Spinoza und Rousseau, keiner politischen Verfolgung ausgesetzt. Ihm blieb auch das Schicksal seines älteren Zeitgenossen Christian Wolff erspart, der wegen seiner positiven Bewertung einer nicht-christlichen Ethik vom preußischen König unter Androhung der Todesstrafe des Landes verwiesen wurde.

Kant wurde lediglich die Amtsenthebung und die Aufkündigung aller Bezüge angedroht, weil er sich kritisch über die Amtskirche geäußert hatte. Dieser Gefahr konnte er sich durch Konzilianz in den Umgangsformen, wenn auch mit unbeirrter Festigkeit in der Sache, entziehen; sie war aber erst gebannt, als der König zwei Jahre später starb.

Allein dieses biographische Detail macht deutlich, dass auch ein nicht verfolgter, nicht verheirateter, kinderloser Philosoph ein Leben hat, über das man etwas wissen muss, wenn man sein philosophisches Werk verstehen will. Die kirchenkritische Religionsphilosophie Kants begreift man nicht, wenn man nicht weiß, dass der Autor unter der liebevollen pietistischen Obhut seiner früh verstorbenen Mutter aufgewachsen ist, in Schule und Studium aber ausreichend Gelegenheit hatte, die protestantische Orthodoxie und deren unversöhnliche Haltung gegenüber Pietisten, Katholiken, Juden und den damals sogenannten Zigeunern kennenzulernen. Deshalb kam für Kant nur ein Glaube aus aufgeklärter „liberaler Gesinnung“ infrage. Ihm wollte er in seiner Religionsphilosophie ein philosophisches Fundament und einen institutionellen Leitfaden geben.

In vergleichbarer Weise sind alle philosophischen Leistungen des Philosophen nur vor einem biographisch erhellten Lebenshintergrund angemessen zu verstehen. Vom „Selbstdenker“, der Immanuel Kant war und der er sein wollte, erfassen wir nur wenig, wenn wir nicht wissen, unter welchen Umständen sich sein „Selbst“ gebildet und behauptet hat und wie es von seinen Zeitgenossen beurteilt worden ist. Und wenn man nicht weiß, mit welcher Energie sich das Ich des Theoretikers des ‚Ich denke‘ und des ‚Ich will‘ nicht nur in seinen Schriften, sondern auch im alltäglichen und im akademischen Leben behauptet hat, wird man nie erkennen, wie groß der existenzielle Anspruch in den scheinbar blutleeren Formeln der Transzendentalphilosophie ist. Wer alle Fragen der Philosophie in die eine Frage ‚Was ist der Mensch?‘ zusammenfasst, und fordert, die Menschheit solle in der Person eines jeden einzelnen Menschen exemplarisch werden, der hat Anspruch darauf, auch als dieser eine Mensch in den Blick genommen zu werden.

Man kann noch etwas grundsätzlicher werden: Kant hat schon in den Schriften seiner vorkritischen Zeit Zweifel an der Gültigkeit der Gottesbeweise erkennen lassen und ihnen nur eine begrenzte Reichweite zugestanden. In seinem Hauptwerk, der Kritik der reinen Vernunft, unterzieht er sie bekanntlich einer vollkommenen Destruktion, die es verbietet, überhaupt von einer „Existenz“ Gottes zu sprechen. Recht verstanden kann Gott nicht zu den Gegenständen gerechnet werden, die innerhalb oder außerhalb der Welt vorkommen können.

Bekannt ist aber auch, dass sich Kant mit diesem negativen Resultat nicht zufriedengibt. In den nachfolgenden beiden Kritiken wird Gott als Garant des Sinns allen Handelns vorgestellt: Wann immer sich der Mensch nicht damit begnügt, nur die ethischen Pflichten zu erfüllen, sondern darüber hinaus auf ein erfülltes Leben oder eine Vollendung der Kultur hofft, muss er auf die Wirksamkeit eines Gottes vertrauen. So wird die geglaubte Existenz Gottes allein auf die faktische Existenz des Menschen gegründet. Damit ist es der Lebenswandel des Einzelnen, der zur Annahme eines höchsten Wesens berechtigt.

Die gewohnte metaphysische Hierarchie zwischen Gott und Mensch ist damit, um einen Lieblingsbegriff Kants zu verwenden, „revolutioniert“. Es ist nicht mehr die Existenz Gottes, sondern die Existenz des Menschen, auf die der Sinnzusammenhang des Ganzen gründet. Die Ordnung der Werte balanciert auf der Spitze des Daseins eines um Vernunft bemühten Individuums. Es kann zwar niemals sicher sein, ob es wirklich moralisch ist, gleichwohl sind der Sinn der Kultur und die Zukunft der menschlichen Gattung auf die Ernsthaftigkeit im Vernunftgebrauch eines jeden Einzelnen gegründet. Und da soll es ausreichen, zu wissen, dass einer gelebt hat, aber nicht, wie ihm dies gelungen ist?

Selbst wenn vor Kant das Leben einzelner Philosophen völlig uninteressant gewesen sein sollte: nach ihm kann es so nicht mehr sein – und dies allein aus philosophischen Gründen. Denn es ist das individuelle Leben, die exemplarisch gelebte Existenz, das unter dem Anspruch der Vernunft geführte Dasein, das die Perspektive auf eine menschliche Kultur eröffnet. Nicht von ungefähr kommen im Umfeld der kritischen Philosophie die Begriffe der Lebens-, der Experimental-, ja, der Existenzphilosophie in Umlauf. Sie zeigen an, dass es nicht nur interessant und in vielerlei Hinsicht historisch aufschlussreich ist, von den näheren Umständen eines philosophischen Lebens zu wissen; sie machen auch deutlich, dass schon der Zugang zum Gehalt philosophischer Fragen nicht gefunden werden kann, wenn man nicht weiß, wem sie sich wie aufgedrängt haben und unter welchen Bedingungen ein Denker glauben konnte, mit ihnen einen Sinn zu verbinden.

Es wäre eine Kleinigkeit, sämtliche philosophischen Probleme ad absurdum zu führen, allein weil sie seit Jahrtausenden ohne verbindliches Ergebnis verhandelt worden sind. Doch die Tatsache, dass sie die größten Denker immer wieder auf neue Weise fesseln konnten, gibt uns die Gewähr, dass sie ein Gewicht für alle Menschen haben – auch über ihre nach uns fortbestehende Unbeantwortbarkeit hinaus. Folglich ist es das jetzt bestehende Interesse an unserem jetzt zu führenden Dasein, das uns die Gleichgültigkeit gegenüber der Existenz der vor uns lebenden Denker verbietet. Sobald die in ihnen wirksame individuelle Vernunft öffentlich zur Darstellung kommt, hat sie die Chance, zu einer allgemeinen Kraft im Dasein der Menschen zu werden.

Wer an der selbst philosophisch angelegten Herleitung des Interesses an der Biographie großer Philosophen zweifelt, der lese die hier in einer Neuausgabe vorgelegten ersten Biographien über Immanuel Kant. Sie konnten noch in seinem Todesjahr in einem Band versammelt werden. Es sind Berichte aus erster Hand – von Autoren, die Kant aus persönlichem Umgang kannten. Dadurch sind sie den schon vorher im Umlauf befindlichen literarischen Versuchen sowie allen später folgenden Biographien unendlich überlegen. Die drei Autoren, Borowski, Jachmann und Wasianski, schreiben unter dem Eindruck des lebendigen Umgangs mit dem soeben Verstorbenen. Die kleinen Fehler, die ihnen aus der Nähe der Betrachtung unterlaufen, sind belanglos gegenüber der frischen Wiedergabe des Eindrucks, den Kant trotz seiner bescheidenen Lebensweise auf sie gemacht hat.

Ich gestehe gern, dass mir der dritte Text der liebste ist. Der Diakon Wasianski, der Kants Student und Hilfskraft war, ihm nach zehnjähriger Abwesenheit von der Universität im Jahre 1790 wieder begegnete und auf Kants Betreiben in seinen Freundeskreis aufgenommen wurde, ist der treue Begleiter und schließlich auch der verständige Helfer der letzten Lebensjahre. Wie er in anmutiger Prosa vom Schwinden der Lebenskräfte des Philosophen berichtet, der an „Marasmus“ (also am natürlichen Verfall der Lebenskräfte) sterben wollte, ist ein Protokoll menschlicher Größe, die selbst unter den Bedingungen menschlicher Demenz nicht verloren gehen muss.

Im Einvernehmen mit dem Verlag wurde die von Rudolf Malter verfasste Einleitung zur älteren Neuausgabe der drei Biographien beibehalten. Sie enthält Erläuterungen zu den drei Autoren und die unverzichtbaren Hinweise auf die Verlässlichkeit der drei Biographien. Malter stützt sich wesentlich auf die nun schon fast hundert Jahre zurückliegenden Einsichten Karl Vorländers, die er im Detail referiert. Inzwischen haben wir das Glück, eine Biographie hinzuziehen zu können, die Manfred Kühn 2003 vorgelegt hat. Auf sie sei abschließend mit Nachdruck verwiesen.1 Auch mein eigener Versuch, den biographischen Hintergrund des systematischen Zusammenhangs von Vernunft und Leben auszuleuchten,2 sei nicht verschwiegen.

Berlin/Hamburg, den 25. Februar 2012

Volker Gerhardt

1 Manfred Kühn, Kant. Eine Biographie, München 2003.

2 Volker Gerhardt, Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002.

Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen

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