Читать книгу Warum tut er das? - Lundy Bancroft - Страница 19

Eine kurze Übung

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Bei meinen öffentlichen Vorträgen über Missbrauch beginne ich oft mit einer einfachen Übung. Ich bitte die Zuhörer, alles aufzuschreiben, was sie jemals gehört oder jemals geglaubt haben, woher das Problem eines Missbrauchstäters kommt. Ich lade Sie ein, dieses Buch jetzt für zwei oder drei Minuten zu schließen und eine ähnliche Liste für sich selbst zu erstellen, sodass Sie sich im weiteren Verlauf darauf beziehen können.

Dann bitte ich die Zuhörer, Punkte von ihren Listen aufzurufen, schreibe sie anschließend an die Tafel und ordne sie in drei Kategorien: eine für Mythen, eine für Teilwahrheiten und eine für korrekte Aussagen. In der Regel haben wir am Ende zwanzig oder dreißig Mythen, vier oder fünf Halbwahrheiten und vielleicht ein oder zwei Tatsachen. Die Zuhörer reiben sich die Augen und werden ganz unruhig auf ihren Sitzen, wenn sie überrascht feststellen, dass die gängigen Überzeugungen über die Ursachen von Missbrauch mehr Fantasiegebilde und Missverständnisse enthalten als jedes Quäntchen Wahrheit. Wenn Sie beim Durcharbeiten dieses Kapitels feststellen, dass Ihre eigene Liste hauptsächlich Mythen enthält, sind Sie damit nicht allein.

Für die Partnerin eines misshandelnden oder kontrollierenden Mannes kann es überwältigend sein, all diese falschen Theorien auf einmal unter sich weggezogen zu bekommen. Aber für jeden Stab, den wir aus dem Gebäude aus Missverständnissen über misshandelnde Männer herausziehen, wartet ein Ziegelstein darauf, seinen Platz einzunehmen. Wenn wir fertig sind, wird es Ihrem Partner viel schwerer als zuvor fallen, Sie aus dem Gleichgewicht zu bringen und zu verwirren, und Ihre Beziehung wird für Sie in einer Weise Sinn machen, wie es vorher nicht der Fall war.

Die Mythen über Missbrauchstäter

1. Er wurde als Kind misshandelt.

2. Seine frühere Partnerin hat ihn verletzt.

3. Er misshandelt diejenigen, die er am meisten liebt.

4. Er behält seine Gefühle zu sehr für sich.

5. Er hat eine aggressive Persönlichkeit.

6. Er verliert die Kontrolle.

7. Er ist zu wütend.

8. Er ist psychisch krank.

9. Er hasst Frauen.

10. Er hat Angst vor Intimität und davor, verlassen zu werden.

11. Er hat ein geringes Selbstwertgefühl.

12. Sein Chef misshandelt ihn.

13. Er ist schlecht in Kommunikation und Konfliktlösung.

14. Es gibt ebenso viele misshandelnde Frauen wie misshandelnde Männer.

15. Sein misshandelndes Verhalten ist für ihn genauso schlimm wie für seine Partnerin.

16. Er ist Opfer von Rassismus.

17. Er hat ein Alkohol- oder Drogenprobleme.

Mythos Nr. 1:

Er wurde als Kind misshandelt, und er braucht deswegen eine Therapie.

Die Partnerinnen meiner Klienten glauben meist, dass die Wurzeln des missbräuchlichen Verhaltens des Mannes in der Misshandlung zu suchen sind, die er selbst erlitten hat, und viele Experten teilen dieselbe Fehleinschätzung. Ich höre Erklärungen in der Art von:

„Er beschimpft mich mit all diesen schrecklichen Namen, weil es das ist, was seine Mutter ihm angetan hat.“

„Sein Vater war meist wütend auf ihn und schlug ihn mit einem Gürtel, und wenn ich jetzt mal wütend werde, flippt er einfach aus und fängt an, Sachen durchs Haus zu werfen. Er sagt, das liege daran, dass er tief im Inneren eigentlich Angst vor meiner Wut hat.“

„Seine Stiefmutter war eine Hexe. Ich habe sie kennengelernt, sie ist bösartig. Und jetzt hat er wirklich etwas gegen Frauen.“

Frage 1: Liegt es daran, dass er als Kind misshandelt wurde?

Mehrere Forschungsstudien haben die Frage untersucht, ob Männer, die Frauen missbräuchlich behandeln, tendenziell Überlebende von Kindesmissbrauch sind, doch dieser Zusammenhang hat sich als nicht stichhaltig erwiesen. Andere Vorhersagen, weshalb Männer gegenüber Frauen wahrscheinlich missbräuchlich sind, haben sich als weitaus zuverlässiger herausgestellt, wie wir sehen werden. Vor allem Männer, die anderen Männern gegenüber gewalttätig sind, waren als Kinder oft Opfer von Misshandlungen – aber bei Männern, die Frauen angreifen, ist der Zusammenhang viel weniger klar. Die einzige Ausnahme bilden jene Täter, die Frauen gegenüber brutale körperliche Gewalt anwenden oder Furcht einflößend sind; bei ihnen zeigt sich oft, dass sie als Kinder selbst misshandelt wurden. Mit anderen Worten, eine schlechte Kindheit führt nicht dazu, dass ein Mann zu einem Täter wird, aber sie kann dazu beitragen, einen misshandelnden Mann besonders gefährlich zu machen.

Wäre missbräuchliches Verhalten das Produkt einer emotionalen Verletzung in der Kindheit, könnten die Missbrauchstäter ihr Problem durch Psychotherapie überwinden. Aber es ist praktisch noch nicht vorgekommen, dass ein misshandelnder Mann infolge einer Therapie substanzielle und dauerhafte Veränderungen in seinem Muster der Misshandlungen vorgenommen hat. (In Kapitel 14 werden wir die Unterschiede zwischen Psychotherapie und einem speziellen Missbrauchsprogramm erläutern, weil letzteres manchmal gute Ergebnisse bringen kann.) Er kann andere emotionale Schwierigkeiten überwinden, er kann Einsicht in sich selbst gewinnen, aber sein Verhalten setzt er fort. Tatsächlich wird es in der Regel schlimmer, wenn er die Therapie dazu benutzt, neue Entschuldigungen für sein Verhalten und raffiniertere Argumente zu entwickeln, um zu beweisen, dass seine Partnerin psychisch instabil ist, sowie kreativere Wege zu finden, um ihr das Gefühl zu vermitteln, für sein emotionales Leid verantwortlich zu sein. Misshandelnde Männer sind manchmal Meister herzerweichender Geschichten und machen vielleicht die Erfahrung, dass Berichte über Misshandlungen in der Kindheit eine der besten Methoden sind, um Mitleid zu erregen.

Für einige misshandelnde Männer ist der Ansatz, die Schuld auf die Kindheit zu schieben, aus einem anderen Grund zusätzlich attraktiv: Indem er sich darauf konzentriert, was seine Mutter falsch gemacht hat, kann er einer Frau die Schuld für seine Misshandlung von Frauen geben. Diese Erklärung kann auch der misshandelten Frau selbst zusagen, denn sie ergibt Sinn, was sein Verhalten angeht, und bietet ihr jemanden, auf den sie gesichert wütend sein kann – denn wütend auf ihn zu werden, wirkt sich immer schlecht für sie aus. Die Gesellschaft im Allgemeinen und die Psychologie im Besonderen sind oft auf diesen Zug aufgesprungen, anstatt sich den harten Fragen zu stellen, die missbräuchliches Verhalten gegenüber der Partnerin aufwirft. Die Misshandlung von Frauen durch Männer ist so weit verbreitet, dass man, wenn man nicht irgendwie den Frauen die Schuld geben kann, gezwungen ist, eine Reihe unbequemer Fragen über Männer und über weite Teile der männlichen Denkweise zu stellen. Daher mag es bequemer erscheinen, das Problem einfach der Mutter des Mannes vor die Füße zu legen.

Die Klienten, die ausgiebig an Therapie- oder Behandlungsprogrammen wegen Drogenmissbrauch teilgenommen haben, klingen manchmal selbst wie Therapeuten – und einige wenige waren es tatsächlich auch –, wenn sie die Begriffe der Populärpsychologie oder der Lehrbuchtheorie übernehmen. Ein Klient versuchte, mich zu intellektuellen Debatten zu verleiten mit Kommentaren wie: „Nun, Ihre Gruppe folgt einem kognitiven Verhaltensmodell, das erwiesenermaßen Grenzen hat, um ein so tiefes Problem wie dieses anzugehen.“ Ein missbrauchender Mann, der in der Sprache der Gefühle bewandert ist, kann seiner Partnerin das Gefühl geben, verrückt zu sein, indem er jede Auseinandersetzung in eine Therapiesitzung verwandelt, bei der er ihre Reaktionen unter ein Mikroskop legt und sich selbst die Rolle zuweist, ihr „zu helfen“. Er kann ihr z. B. die emotionalen Probleme „erklären“, die sie verarbeiten muss, oder er kann ihre Realität analysieren, weil sie „fälschlicherweise“ glaubt, dass er sie misshandelt.

Ein missbrauchender Mann schmückt vielleicht sein Leiden aus der Kindheit aus, wenn er entdeckt hat, dass es ihm hilft, sich der Verantwortung zu entziehen. Das National District Attorney’s Association Bulletin berichtete über eine aufschlussreiche Studie, die an einer anderen Gruppe destruktiver Männer durchgeführt wurde: an Missbrauchstätern von Kindern. Der Forscher fragte jeden einzelnen, ob er selbst als Kind sexuell missbraucht worden sei. Stolze 67 Prozent der Probanden sagten ja. Der Forscher teilte den Männern dann jedoch mit, dass er sie einem Lügendetektortest unterziehen und ihnen dieselben Fragen erneut stellen werde. Die Zahl der bejahenden Antworten fiel plötzlich auf nur noch 29 Prozent. Mit anderen Worten: Missbrauchstäter jeglicher Art sind sich meist bewusst, wie weit sie damit kommen, wenn sie sagen: „Ich missbrauche, weil mir dasselbe angetan wurde.“

Obwohl der typische misshandelnde Mann bemüht ist, ein positives öffentliches Image aufrechtzuerhalten, trifft es zu, dass einige Frauen missbrauchende Partner haben, die für alle unangenehm oder einschüchternd sind. Was ist mit diesem Mann? Sind seine Probleme die Folge der Misshandlung durch seine Eltern? Die Antwort lautet sowohl ja als auch nein; es hängt davon ab, über welches Problem wir sprechen. Seine Feindseligkeit gegenüber der Menschheit mag aus der Grausamkeit seiner Erziehung herrühren, aber er missbraucht Frauen, weil er ein Missbrauchsproblem hat. Die beiden Probleme hängen zusammen, sind aber unterschiedlich.

Ich sage nicht, dass Sie kein Mitgefühl für das Leid Ihres Partners in seiner Kindheit haben sollten. Ein missbrauchender Mann verdient dasselbe Mitgefühl wie ein nicht missbrauchender Mann, nicht mehr und nicht weniger. Aber ein nicht-misshandelnder Mann benutzt seine Vergangenheit nicht als Vorwand, um Sie zu misshandeln. Mitleid mit Ihrem Partner kann eine Falle sein, wenn Sie sich dadurch schuldig fühlen, weil Sie sich seiner Misshandlung widersetzt haben.

Manchmal sage ich zu einem Klienten: „Wenn Sie so in Kontakt mit Ihren Gefühlen aus Ihrer missbräuchlichen Kindheit sind, dann sollten Sie wissen, wie sich Missbrauch anfühlt. Sie sollten in der Lage sein, sich daran zu erinnern, wie erbärmlich es war, grundlos niedergemacht und in Angst versetzt zu werden und gesagt zu bekommen, dass der Missbrauch Ihre eigene Schuld sei. Sie sollten deswegen eher weniger dazu neigen, eine Frau zu misshandeln, und nicht mehr, nachdem Sie es selbst durchgemacht haben.“ Sobald ich diesen Punkt anspreche, hört er in der Regel auf, seine schreckliche Kindheit zu erwähnen. Er will nur dann auf seine Kindheit aufmerksam machen, wenn er sie als Ausrede benutzt, sich nicht zu verändern, nicht aber, wenn es ein Grund ist, sich zu ändern.

Mythos Nr. 2:

Seine frühere Partnerin hat ihn schrecklich misshandelt, und jetzt hat er als Folge davon ein Problem mit Frauen. Er ist ein wunderbarer Mann, und nur wegen ihr ist er jetzt so geworden.

Wie wir bei Fran in Kapitel 1 gesehen haben, kann die bittere Vorgeschichte eines Missbrauchstäters durch seine emotionale Zerstörung vonseiten seiner Ex-Frau oder -Freundin einen starken Einfluss auf seine gegenwärtige Partnerin haben. Meist erzählt der Mann seine Geschichte in der Version, dass seine Ex-Partnerin ihm das Herz gebrochen habe, indem sie ihn betrogen hat, vielleicht mit unterschiedlichen Männern. Wenn Sie ihn fragen, wie er es herausgefunden hat, antwortet er, dass „jeder“ davon wusste oder dass seine Freunde es ihm erzählt haben. Vielleicht sagt er auch: „Ich habe sie selbst dabei erwischt, wie sie mich betrogen hat“, aber wenn man ihn drängt zu erzählen, was er tatsächlich gesehen hat, stellt sich oft heraus, dass er nichts gesehen hat, oder dass er sie spät in der Nacht mit einem Kerl reden oder in seinem Auto fahren sah, „deswegen wusste ich es“.

Er kann andere Wunden beschreiben, die er von einer früheren Partnerin davongetragen hat: Sie hat versucht, ihn zu kontrollieren; sie wollte ihm keine Freiheit lassen; sie erwartete, dass er sie von vorne bis hinten bedient; sie hetzte die Kinder gegen ihn; aus reiner Rachsucht „ließ sie ihn sogar verhaften“. Was er beschreibt, sind normalerweise seine eigenen Verhaltensweisen, aber er schreibt sie der Frau zu, sodass er das Opfer ist. Auf diese Weise kann er bei seiner neuen Partnerin Sympathien gewinnen, vor allem weil so viele Frauen – leider – wissen, was es heißt, misshandelt zu werden, sodass sie Empathie für seine erlittene Qual haben.

Der misshandelnde oder kontrollierende Mann kann eine Fülle von Ausreden aus seinen früheren Beziehungen ziehen und zum Beispiel dafür verwenden, dass er die Freundschaften seiner jetzigen Partnerin kontrolliert und sie beschuldigt, ihn zu betrügen: „Es liegt daran, dass meine Ex-Partnerin mich so schlimm verletzt hat, indem sie mich so oft betrogen hat, und deshalb bin ich so eifersüchtig und kann dir nicht vertrauen.“ Oder dafür, dass er einen Tobsuchtsanfall bekam, als sie ihn bat, er möge hinter sich aufräumen: „Meine Ex-Partnerin hat jede meiner Bewegungen kontrolliert, und so macht es mich jetzt wütend, wenn ich das Gefühl habe, dass du mir sagst, was ich tun soll.“ Oder aber dafür, dass er eigene Affären hat oder nebenbei andere Liebesinteressen verfolgt: „Letztes Mal wurde ich so verletzt, dass ich jetzt wirklich Angst davor habe, mich zu binden, und deshalb möchte ich mich weiterhin mit anderen Menschen einlassen.“ Er kann zu jeder seiner kontrollierenden Verhaltensweisen eine passende Ausrede erfinden.

Ich empfehle folgenden Grundsatz zu beachten, wenn ein wütender oder kontrollierender Mann Behauptungen über Ex-Frauen in seinem Leben aufstellt:

Warum tut er das?

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