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Berlin, eine Stadt der Angestellten

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Hunderttausende von Angestellten

bevölkern täglich die Straßen Berlins,

und doch ist ihr Leben unbekannter als das der

primitiven Volksstämme, deren Sitten

die Angestellten in den Filmen bewundern.

(Siegfried Kracauer, Die Angestellten, 1930)

Der deutsche Journalist, Soziologe und Geschichtsphilosoph Siegfried Kracauer reiste Ende der 1920er Jahre nach Berlin, um sich einen persönlichen Eindruck von der neu heranwachsenden Arbeiterschaft in der Hauptstadt Deutschlands zu verschaffen. Über Wochen beobachte, befragte und interviewte er die Bewohner der Stadt: von der Sekretärin, über den einfachen Bankangestellten und Sachbearbeiter bis zum Betriebsleiter einer großen Fabrik. Seine Gedanken und Erkenntnisse flossen in den Essayband Die Angestellten ein. Berlin schien für seine Feldforschung geradezu prädestiniert. Nirgendwo sonst in Deutschland hatte sich der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft auf so beeindruckende Weise vollzogen wie in dieser Stadt. So stellte Kracauer bei seiner Stippvisite schnell fest: "Berlin ist heute die Stadt der ausgesprochenen Angestelltenkultur; das heißt eine Kultur, die von Angestellten für Angestellte gemacht und von den meisten Angestellten für eine Kultur gehalten wird."1 In den goldenen Zwanzigern, auf dem kurzzeitigen wirtschaftlichen und kulturellen Höhepunkt zwischen zwei monströsen Kriegen, war Berlin zu einer Stadt der Angestellten geworden; mehr als irgendeine andere Stadt in Deutschland. Überall auf den Straßen konnte man den neuen Arbeitertypus sehen und Augenzeuge des Bürokults werden. So ließ der russische Autor Wladimir Nabokov, der selbst von 1922 bis 1939 in Berlin lebte und arbeite, seinen Protagonisten Fjodor in dem Roman Die Gabe in die Straßenbahn einsteigen und gegenüber einem Angestellten mit Aktentasche Platz nehmen. Sein Held musterte sein Gegenüber und sinnierte über den neuen Zeitgeist: „…wegen des Bürokults; deswegen, weil man unweigerlich Zahlen, Geld zu hören bekommt, wenn man seine innere Stimme belauscht (oder eine beliebige Unterhaltung auf der Straße).“2 Woher dieser plötzliche Bürokult? Was waren die Gründe für ihr starkes Aufkommen? Kracauer fasste es knapp zusammen: „Die Gründe für die ungeheure Vermehrung mögen in der Fachliteratur nachgelesen werden. Sie sind im Wesentlichen an die Strukturwandlungen der Wirtschaft geknüpft. Die Entwicklung zum modernen Großbetrieb bei gleichzeitiger Veränderung seiner Organisationsform; das Anschwellen des Verteilungsapparates; die Ausdehnung der Sozialversicherung und der großen Verbände, die das Kollektivleben zahlreicher Gruppen regeln - das alles hat, jedem Abbau zum Trotz, die Ziffern nach oben getrieben.“3 Das kann man positiv lesen. Die Wirtschaft wuchs, und mit ihr der allgemeine Wohlstand. Weniger erfreulich fand Kracauer allerdings, dass Qualität in Quantität umgeschlagen war. Schuld war die Rationalisierung und Mechanisierung der Arbeit: „Seit der Kapitalismus besteht, ist innerhalb der ihm gezogenen Grenzen schon immer rationalisiert worden, aber die Rationalisierungsperiode 1925 bis 1928 bezeichnet doch einen besonders wichtigen Abschnitt… Sie hat das Eindringen der Maschine und der Methoden des „fließenden Bandes" in die Angestelltensäle der Großbetriebe bewirkt…. Durch diese nach amerikanischem Muster vorgenommene Umstellung - sie ist noch lange nicht abgeschlossen - erhalten große Teile der neuen Angestelltenmassen eine gegen früher herabgeminderte Funktion im Arbeitsprozess."4 Das waren nicht unbedingt Neuigkeiten. Bereits 1840 schrieb der französische Aristokratensohn Alexis de Tocqueville in seinem Essay Über die Demokratie in Amerika: „Je stärker das Prinzip der Arbeitsteilung zur praktischen Anwendung gelangt, desto schwächer, beschränkter und abhängiger wird der Arbeiter. Das Handwerk macht Fortschritte, der Handwerker Rückschritte.“5 Zur Veranschaulichung mag man sich ein Diagramm aus zwei Graphen vorstellen, die bislang in enger Beziehung zueinander standen. Der eine stellt das Bildungsniveau der Arbeiter dar, der andere den geistigen Anspruch an seine Tätigkeit. Es ist ein menschlicher Wesenszug, erlangtes Wissen zu mehren und von Generation zu Generation weiterzugeben. Aber zu jenem Zeitpunkt als Taylors Scientific Management die Fabriken und Verwaltungen der ganzen Welt eroberte, liefen die beiden Graphen plötzlich auseinander. Das Bildungsniveau der Bevölkerung nahm zu, aber der Anspruch vieler Tätigkeiten fiel kläglich ab. C. Wright Mills schätzte, dass in den 1930er Jahren allein in den USA zwischen 10 bis 12 Millionen Angestellte unter dem Niveau ihrer Fähigkeiten arbeiteten.6 In Deutschland sah es nicht viel anders aus. Allein dieser Umstand ist schon bedauerlich genug. Aber es kam noch schlimmer. Gerade diejenigen, die sich für die Herabsetzung des Anspruchs verantwortlich zeichneten, forderten deswegen keineswegs geringere Qualifikationen von ihren Bewerbern. Ganz im Gegenteil, man setzte die Messlatte der Einstellungskriterien ständig höher. Neben den geforderten Schulabschlüssen mussten die Bewerber und Mitarbeiter auch immer aufwendigere Tests über sich ergehen lassen. Selbst psychologische Tests wurden üblich. In einer Verwaltungsmitteilung einer Kommanditgesellschaft aus dem Jahr 1927 heißt es: „Jeder wird an den Posten gestellt, den er nach seiner Fähigkeit, Kenntnissen, psychischen und physischen Eigenschaften, kurz: nach der Eigenart seiner ganzen Persönlichkeit am besten auszufüllen imstande ist. Der richtige Mensch an der richtigen Stelle.“7 Dass das unsinniges Geschwätz war, war Kracauer schnell bewusst geworden. Die Arbeiter, denen er begegnete, fühlten sich meist unterfordert und gelangweilt. Sie waren überqualifiziert und fanden keine Gelegenheit, ihre wahren Fähigkeiten anzuwenden. Und Persönlichkeit spielte, wenn überhaupt, erst auf den höheren Rängen der Hierarchie eine Rolle. Dumm nur, dass dorthin nur die wenigsten kamen, denn die Aufstiegschancen lagen in der Bürowelt mittlerweile bei nahezu Null. Das bestätigten nicht nur die betroffenen Angestellten, sondern auch Funktionäre, Betriebsräte und Abgeordnete. Der Weg nach oben war von vornherein verstellt. Nicht Fähigkeiten oder die richtige Persönlichkeit entschieden, sondern Dünkel. So nahm ein hochrangiger Wirtschaftsfunktionär gegenüber Kracauer auch kein Blatt vor dem Mund: „Man ist in ihr durch Geburt, durch gesellschaftliche Beziehung, durch die Empfehlung hoher Beamter und wichtiger Kunden; selten durch Leistungen aus den Betrieb heraus.“8 Der Prozess der Verdummung setzte ein, wenn man sich endlich durch die aufwendigen Bewerbungsverfahren gekämpft hatte und es in einen der Angestelltensäle oder Verkaufsräume geschafft hatte. Wie eine Marionette hatte man den Anweisungen der Vorgesetzten Folge zu leisten und die anspruchslose Arbeit auszuführen. Gegen den täglichen Stumpfsinn zu protestieren, hätte schnell Konsequenzen nach sich gezogen: „Aus den ehemaligen Unteroffizieren des Kapitals ist ein stattliches Heer geworden, das in seinen Reihen mehr und mehr Gemeine zählt, die untereinander austauschbar sind…. Es hat sich eine industrielle Reservearmee der Angestellten gebildet."9

Trotz alledem erfreuten sich Bürojobs großer Beliebtheit, vor allem beim Nachwuchs. So findet sich beispielsweise in einem damaligen Fragebogen der Berufsberatungsstellen des Zentralverbandes der Angestellten, aus dem Kracauer zitiert, folgendes Frage-, Antwortspiel wieder: „Warum wollen Sie kaufmännischer Angestellter werden?“ – „Weil mir dieses Fach gefällt.“ „Welche Branche?“ – „Dekorateur“

„Warum gerade diese?“ –

„Weil es eine leichte und saubere Arbeit für mich ist.“

Ein anderer antwortete auf dieselbe Frage: „Weil ich gerne Kopfarbeit mache“ und ein weiterer: „Ich möchte gerne verkaufen.“ –

„Warum wählen Sie kein Handwerk?“ –

„Ich möchte gerne in Fabriken arbeiten.“

Im Zuge seiner Recherche besichtigte Kracauer auch eine Berliner Fabrik und ließ sich vom redseligen Direktor herumführen. Der Betriebsleiter war sehr stolz, behaupten zu können, dass die kaufmännische Verarbeitung des Arbeitsprozesses, „…bis ins letzte Detail durchrationalisiert ist.“

Der Bericht gibt einen wunderbaren Einblick in die damals vorherrschende Arbeitsweise der Angestellten. Startpunkt seines Besuches war das Büro des Direktors. Dort stand Kracauer vor zwei merkwürdigen Kästen, die ihn an „Rechentafeln für Kinder“ erinnerten. Auf dicht nebeneinander gespannten Schnüren hingen bunte Kügelchen, deren genaue Position dem Direktor signalisierten, welche Prozesse sich gerade in seinem Betrieb abspielten. Eine Art Statusbericht in Echtzeit. Der Direktor führte Kracauer als Erstes in einen Raum, der gefüllt war mit hohen Regalen, in denen unzählige Heftchen fein säuberlich sortiert auslagen. Sie enthielten die Informationen jedes einzelnen genau festgelegten Arbeitsvorgangs in der Fabrik; beginnend mit dem Auslösen eines Auftrages, über die spezifische Fertigungsfolge bis zum finalen Versand der fertigen Ware. Jeder erdenkliche Arbeitsprozess ließ sich hier aufrufen und nachvollziehen. Aber die Seele des Betriebes befand sich in einem anderen Raum: eine Hollerith-Lochkartenmaschine der Tabulating Machine Company (aus dem Unternehmen wurde später IBM). Die Maschine wertete Informationen aus, die zuvor auf Lochkarten aus Pappe oder Blech binär codiert wurden. Die Frauen, die sie bedienten, verbrachten fast ihren gesamten Arbeitstag damit, die Lochkarten anzulegen, die Maschine nach einer bestimmten Reihenfolge zu füttern und die Karten wieder sorgfältig abzulegen. Auf Kracauers Frage, ob die Tätigkeit nicht zu eintönig wäre, erklärte der Betriebsdirektor beruhigend: „Die Mädchen lochen nur sechs Stunden und sind während der übrigen zwei Stunden als Kontoristinnen beschäftigt. So wird Überanspruchung vermieden. Das vollzieht sich in einem bestimmten Turnus, so dass jede Angestellte an alle Arbeiten kommt. Aus hygienischen Gründen schalten wir überdies von Zeit zu Zeit kurze Lüftungspausen ein.“10

Der Takt der Maschinen forderte die permanente Aufmerksamkeit von den Angestellten. Diese „untersteht der Kontrolle des Apparats, den sie kontrolliert, und muß, im Verein mit dem Geräusch in den Maschinensälen, die Nerven umso mehr beanspruchen, je weniger der Gegenstand lockt, dem sie zu gelten hat.“11

Um der wachsenden Monotonie entgegenzuwirken, leitete man einige Gegenmaßnahmen ein, etwa die zeitliche Begrenzung besonders ermüdender Tätigkeiten und mehr Abwechslung durch andere Arbeiten. Im engen Korsett des Scientific Managements war dies aber nur sehr begrenzt möglich. Manchmal redete man das Problem der Monotonie auch einfach klein. So zitierte Kracauer aus einer aktuellen Abhandlung zur Monotonieforschung: „Manche Menschen leiden sehr unter der monotonen Arbeit, andere dagegen fühlen sich ganz wohl dabei. Man darf nämlich nicht verkennen, dass durch die Monotonie einer immer gleichen Tätigkeit die Gedanken für andere Gegenstände frei werden. Der Arbeiter denkt dann an seine Klassenideale, rechnet vielleicht im stillen mit allen seinen Gegnern ab oder sorgt sich um Frau und Kinder. Die Arbeit aber geht ihm inzwischen weiter von der Hand. Die Arbeiterin, besonders soweit sie noch als junges Mädchen glaubt, die Berufstätigkeit sei für sie nur eine vorübergehende Erscheinung, träumt während der monotonen Arbeit von Backfischromanen, Kinodramen oder vom Brautstand; sie ist fast noch weniger monotonieempfindlich als der Mann.“12

Bessere Bildung, bessere Manieren, bessere Kleidung. Die Angestellten entwickelten so langsam ein eigenes Klassenbewusstsein. Und sie suchten die soziale Distanz zu den Fabrikarbeitern. Dabei war der Unterschied zum Proletariat oft geringer, als sie ahnten. Zwar bezogen die meisten von ihnen im Gegensatz zu den auf Stunden- oder Tagesbasis bezahlten Fabrikarbeitern ein regelmäßiges Gehalt und mit etwas Glück auch gewisse Sozialleistungen, aber es war kaum genug, um auf Dauer etwas Erspartes beiseitezulegen. Im Grunde genommen war man genauso abhängig vom Job und dem Wohlwollen der Chefs wie die Fabrikarbeiter. Eine Kündigung hätte sie nicht weniger schwer getroffen. Erschwerend kam noch hinzu, dass die Angestellten eine größere Neigung zum Prestige- und Statusdenken entwickelten. Waren sich die Fabrikarbeiter ihrer Klasse bewusst und suchten den sozialen Zusammenhalt lieber unter ihren Kollegen, fuhren die Angestellten ihre Ellbogen aus und blickten neidisch auf ihre Vorgesetzten und Chefs. Es war ein Dilemma: Sie wollten mehr sein, als sie tatsächlich waren, und das erzeugte bei ihnen ein ständiges, unterschwelliges Gefühl von Unsicherheit und Abstiegsangst. Es war ein neu zu beobachtendes Phänomen, das man später Statusangst nennen sollte; die Angst von heute auf morgen sozial abzurutschen.

Dass das Gefühl nicht ganz unbegründet war, sollte sich tatsächlich schon bald zeigen. 1926 konstatierte der Arbeitssoziologe Emil Lederer noch: „Eine einheitliche Arbeiterschicht ist in Bildung begriffen. Die Gruppierung der Bevölkerung nach Klassengesichtspunkten hat seit der Zeit vor dem Krieg große Fortschritte gemacht.“13 Hier keimte etwas, dass man Jahre später, zu Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders, die Entstehung des deutschen Mittelstandes nennen sollte. Aber vorerst kam es anders. 1929 war das Jahr der Weltwirtschaftskrise. Wirtschaftlicher Abschwung, Inflation und Massenarbeitslosigkeit erstickten, was gerade erst begonnen hatte, zu blühen. Nur drei Jahre nach der Zeichnung eines optimistischen Bildes musste Emil Lederer resignierend feststellen, dass sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen für das Gros der Angestellten wieder verschlechtert hatten. So hieß es in einer Ausgabe der Neuen Rundschau: „… Teilen auch die kapitalistischen Zwischenschichten heute bereits das Schicksal des Proletariats“.14

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