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Den Sonntag verbrachte ich damit, mir fast pausenlos Gedanken über den Jungen zu machen. Wieso hatte er mich an dem Springbrunnen im Einkaufszentrum so eindringlich angeschaut, wieso hatte er kurz darauf nicht mehr auf der Bank gesessen, woher hatte er von der Explosion wissen können, wie um alles in der Welt hatte er mich retten können und wieso hatte er sich danach innerhalb weniger Sekunden aus dem Staub gemacht, ohne auch nur ein einziges Wort zu mir zu sagen? All diese Fragen huschten ununterbrochen durch meinen Kopf und allmählich bereiteten sie mir Kopfschmerzen.

Ich dachte auch daran, dass ich ihn mir gestern Abend zweimal eingebildet hatte, obwohl diese Halluzinationen äußerst real auf mich gewirkt hatten. Doch wieso sollte er auf Erics Party gewesen sein und wieso sollte er mich auf meinem Heimweg heimlich verfolgt haben? Das ergab doch überhaupt keinen Sinn, ich musste es mir eingebildet haben.

Als ich am Sonntagabend mit Mama und Steven die Nachrichten schaute, wurde auch die Explosion in dem Einkaufszentrum erwähnt; allerdings schien es noch keinerlei Erklärung dafür zu geben. Es wurde berichtet, dass weiter eifrig nach einer Ursache gesucht wurde und dass es „an einer Wunder grenzte“, dass sich niemand dabei verletzt hatte.

Wieder dachte ich an den Jungen, der dieses „Wunder“ vollbracht hatte und fragte mich unweigerlich, ob ich ihn jemals wieder sehen würde.

In dieser Nacht schlief ich sehr unruhig; immer wieder tauchte der wunderschöne Junge mit den unglaublichen blauen Augen in meinen Träumen auf. Entweder starrte er mich einfach nur an oder er stürzte sich auf mich und rettete mich vor einer Lawine aus Schuhen, manikürten Fingernägeln und Tequilagläsern.

Am Montagmorgen war ich ziemlich durch den Wind und brauchte etwas länger als normalerweise, um mich fertig für die Schule zu machen.

Als ich schließlich fertig war, verabschiedete ich mich von meiner Mutter (Steven war schon längst auf der Arbeit) und verließ unser Haus.

Ich stieg in den silbergrauen Audi A1, den Steven mir letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte und fuhr aus unserer Einfahrt hinaus. Während ich das Auto vom Hof hinunter bugsierte, dachte ich nach wie vor über den Jungen nach. Das große eiserne Tor schloss sich wieder hinter mir, als ich den Hof verlassen hatte. Ich wollte gerade losfahren, die Straße hinunter, als urplötzlich ein großer schwarzer Geländewagen aus der Einfahrt unserer Nachbarn kam und ich nur durch eine Vollbremsung einen Zusammenstoß verhindern konnte.

Den Fahrer konnte ich nicht sehen, doch ich drückte zweimal wütend auf die Hupe, um ihm klar zu machen, dass er mich zu Tode erschreckt hatte. Er reagierte nicht darauf, sondern fuhr vor mir auf die Straße und brauste dann davon.

Ich schloss für einen Moment die Augen, um mich von meinem Schreck zu erholen, dann stöhne ich genervt und schüttelte missbilligend den Kopf. Als ich weiterfuhr, war der Junge erstmals aus meinen Gedanken vertrieben. Stattdessen ärgerte ich mich weiter über den Nachbarn, der mich fast plattgefahren hätte.

Unglücklicherweise war unsere Wohngegend voller solcher Idioten; in unserer Nachbarschaft lebten nur reiche arrogante Schnösel, die niemanden außer sich selbst leiden konnten und glaubten, die Welt drehte sich bloß um sie, wie das Exemplar, das mir soeben die Vorfahrt genommen und beinahe mein geliebtes Auto zerstört hätte.

Im Vorbeifahren warf ich einen Blick auf das Haus, aus dessen Einfahrt der Geländewagen gekommen war. Das Haus hatte in den letzten paar Wochen leer gestanden, doch ich wusste von meiner Mutter, dass dort dieses Wochenende endlich wieder Leute eingezogen waren.

Offenbar genau die richtige Sorte für unser Wohnviertel, dachte ich genervt.

Ich fuhr unsere Straße hinab an den ganzen furchtbaren Villen vorbei. Je weiter ich wegfuhr, desto kleiner und gewöhnlicher wurden die Villen.

Schließlich hielt ich vor einem großen modern geschnittenen Haus, dessen Fassade aus außergewöhnlich vielen Panoramafenstern bestand, drückte einmal kurz auf die Hupe und wartete, bis Eric herauskam, damit wir gemeinsam zur Schule fahren konnten. Eric wohnte am Rand unserer Wohnsiedlung, weshalb ich auch gut zu Fuß von ihm nach Hause gehen konnte.

Es dauerte nicht lange und er sprang die Steintreppe vor dem Haus hinunter und stieg zu mir ins Auto.

„Hey Kleine“, sagte er und ich drückte wieder aufs Gaspedal.

„Hey“, erwiderte ich lächelnd, während ich mich in den morgendlichen Berufsverkehr einfädelte.

„Danke für die Clownsvisage übrigens“, sagte Eric und verengte seine Augen zu Schlitzen. „Ich vermute einfach mal, dass ich die dir verdanke?“, fügte er sarkastisch hinzu.

Ich grinste und nickte, so als wäre ich besonders stolz auf diese Aktion. „Gern geschehen.“ Ich schielte zu ihm herüber und fügte hinzu: „Hast es ja gut wieder abbekommen.“

„Hat mich aber ein paar Stunden und ein paar Schichten Haut gekostet“, gab Eric trocken zurück.

Ich schüttelte lachend den Kopf. „Das kommt davon, wenn man auf einer Party einschläft“, meinte ich.

„Eine Party, auf der du Gast bist“, korrigierte Eric mich und wir tauschten einen kurzen grinsenden Blick aus.

Wir hatten unsere Wohnsiedlung inzwischen hinter uns gelassen und fuhren jetzt eine Straße hinunter, an deren Seiten sich keine Villen mehr, sondern ganz normale Ein- oder Mehrfamilienhäuser befanden.

„Heute Morgen hatte ich schon fast einen Unfall“, sagte ich nach einer Weile.

Eric sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Wie denn das?“, wollte er wissen.

Ich stieß einen genervten Seufzer aus. „Wie’s aussieht, sind die neuen Nachbarn eingezogen“, antwortete ich. „Jedenfalls hat ihr blöder Geländewagen mir vorhin die Vorfahrt genommen und meinen kleinen Audi beinahe platt gemacht.“

„Oh Mann“, sagte Eric, dann grinste er belustigt. „Dann passen sie ja in eure Wohngegend.“

Ich verzog mein Gesicht zu einer Grimasse und verdrehte die Augen. „Sieht so aus“, seufzte ich.

„Im Moment scheinst du ungewöhnlich viele Beinahe-Unfälle zu haben“, murmelte Eric nachdenklich.

Ich schnaubte.

„Hast du dich denn mittlerweile von dem Ereignis im Einkaufszentrum erholt?“, wollte Eric wissen.

Ich zwang mich dazu, den mysteriösen Jungen nicht allzu weit in meine Gedanken hineinzulassen. Schweigend nickte ich.

„Gestern in den Nachrichten hieß es, die Ursache sei immer noch unklar“, sagte Eric nachdenklich, „und dass es ein Wunder sei, dass niemandem etwas passiert ist.“

„Naja, wenn dieser komische Junge nicht gewesen wäre, dann wäre mir ganz schön viel passiert“, meinte ich.

Daraufhin schwiegen wir eine Weile, bis Eric mich schließlich fragte, ob wir Millie mit zur Schule nahmen.

Ich nickte und hielt zwei Minuten später vor Millies Haus an. Sie stand bereits an der Straße und erwartete uns. Zum Glück hatte mein Auto vier Türen und so konnte Millie jetzt bequem hinten auf die Rückbank steigen.

„Der Typ von der Party hat sich gestern wieder bei mir gemeldet“, lautete ihre genervte Begrüßung.

Prompt breitete sich ein Grinsen auf meinem Gesicht aus. „Ist nicht dein Ernst?“, entgegnete ich amüsiert.

„Irgendjemand hat ihm wohl meine Handynummer gegeben“, seufzte Millie. „Jetzt muss ich mir wohl eine neue besorgen.“

„Tja, er war ja am Samstag schon total anhänglich“, grinste ich und fädelte mich wieder in den Verkehr ein. „Und jetzt hat er sich offenbar zu einem professionellen Stalker entwickelt.“

Millie stöhnte genervt. „Ich will’s nicht hoffen.“

Eric wandte sich zu ihr um und fragte vergnügt: „Dein wievielter Stalker wäre das denn?“

Millie funkelte ihn an. „Ich hoffe, du warst nicht derjenige, der ihm meine Nummer gegeben hat.“

Eric schüttelte den Kopf, grinste aber weiterhin breit. „Nö, aber ich finde es trotzdem lustig.“

„Ist es aber nicht“, entgegnete Millie.

„Ach, das ist doch nicht dein erster Stalker, Millie, du kennst dich doch damit aus und weißt, was zu tun ist“, meinte Eric, wandte sich wieder nach vorne und lehnte sich in seinem Sitz zurück.

Millie schien es vorzuziehen, darauf nicht einzugehen. Stattdessen wandte sie sich mir zu. „Wie geht’s dir, Am’?“, fragte sie.

Ehe ich antworten konnte, rief Eric: „Amelia hatte heute schon fast einen Unfall.“

Ich runzelte belustigt meine Stirn und warf Millie im Rückspiegel einen Blick zu. Sie sah mich fragend an und ich erzählte ihr von dem schwarzen Geländewagen, der aus der Einfahrt gerast kam und mich zu Tode erschrocken hatte.

„Oh je“, sagte Millie, als ich auf den Schulparkplatz fuhr. „Das klingt ja nach einem typischen Nachbarn für eure Gegend.“

„Hab ich auch gesagt“, grinste Eric.

Ich verdrehte meine Augen und parkte in einer freien Parklücke. Wir stiegen aus dem Wagen aus, ich schloss ihn ab und wir machten uns auf den Weg ins Gebäude.

Als wir bei unseren Spints stehen blieben und ich meinen öffnete, lehnte Millie sich mit dem Rücken gegen ihren und fragte lustlos: „Hast du die Physikhausaufgaben gemacht?“

Ich schmunzelte. „Du etwa nicht?“

Statt zu antworten verzog Millie ihr Gesicht zu einer Grimasse.

„Hast in Gedanken wohl schon Ferien, was?“, spottete Eric.

Millie verengte ihre Augen zu Schlitzen und funkelte ihn böse an.

Eric grinste nur und sagte: „So, ich muss los. Wir sehen uns in der Pause.“ Und mit einem letzten Augenzwinkern drehte er sich um und lief den Flur runter, wo seine Freunde bereits in der Tür zum Klassenzimmer auf ihn warteten.

Ich packte meine mitgebrachten Bücher und Ordner in meinen Spint und nahm nur die Unterlagen für die erste Stunde in die Hand.

Plötzlich richtete Millie sich unvermittelt auf und fuhr mit ihrer Hand durch ihr langes blondes Haar. Stirnrunzelnd sah ich sie an, doch ihr Blick war starr geradeaus gerichtet, auf irgendetwas – oder irgendjemanden – hinter mir.

„Wer ist denn das?“, hauchte sie aufgeregt.

Ich folgte ihrem Blick, konnte allerdings niemand wirklich Interessanten entdecken. „Wen meinst du?“, erwiderte ich verwirrt.

„Wer auch immer es gewesen ist, er ist gerade in den Klassenraum gegangen, in dem wir jetzt Unterricht haben“, meinte Millie und klang so entzückt, dass ich mir ein Lachen verkneifen musste.

Kopfschüttelnd ging ich auf unseren Klassenraum zu.

Millie folgte mir aufgeregt. „Das bedeutet, er kommt in unsere Klasse!“

„Na und?“, fragte ich achselzuckend.

„Na und?“, wiederholte Millie ungläubig und packte mich am Arm. „Wie sehe ich aus?“

Ich grinste und musste mich zusammenreißen, um nicht wieder die Augen zu verdrehen. „Gut“, antwortete ich und ging an Millie vorbei in den Klassenraum. Wer auch immer unser neuer Mitschüler war, er musste ziemlich hübsch sein, um Millie derartig aus der Fassung zu bringen. Ich schaute mich jedoch nicht großartig im Raum um, sondern setzte mich direkt an meinen Platz und wartete darauf, dass Millie sich zu mir gesellte. Ich schlug meinen Ordner auf und trommelte mit den Fingern auf dem Tisch herum, als Millie endlich das Klassenzimmer betrat. Mit einem halb belustigten, halb genervten Stirnrunzeln stellte ich fest, dass sie sich auf dem Flur offenbar noch ein wenig nachgeschminkt hatte. Sie stolzierte geradezu in den Raum hinein, schüttelte ihre blonde Mähne kurz, warf einen auffälligen Blick nach hinten in die letzte Reihe und ließ sich dann endlich neben mir nieder.

Ich beobachtete sie fasziniert. „Muss ja ziemlich gut aussehen“, wisperte ich ihr belustigt zu.

Sie wandte sich mir zu und starrte mich an. „Ziemlich gut?“, wiederholte sie. „Hast du ihn denn noch gar nicht gesehen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, und jetzt will ich mich lieber auch nicht umdrehen“, sagte ich leise.

„Ziemlich hübsch ist die Untertreibung des Jahrhunderts“, murmelte Millie ernst, als unser Physiklehrer Mr. Fisher das Klassenzimmer betrat. Augenblicklich wurde es ruhig und Mr. Fisher begrüßte uns freundlich. Er war einer meiner Lieblingslehrer und ich – oh Mann, nicht zu fassen, dass ich das sagte – eine seiner Lieblingsschülerinnen, was wohl hauptsächlich daran lag, dass ich im Gegensatz zum Großteil der restlichen Klasse immer meine Hausaufgaben hatte und mich am Unterricht beteiligte.

„Entschuldigt die Verspätung, Leute“, sagte Mr. Fisher, während er seine Aktentasche auf seinem Pult aufklappte. „Aber ich habe eben erfahren, dass wir einen neuen Mitschüler haben.“

Millie rutschte neben mir unruhig auf ihrem Platz hin und her. Also bitte!

Mr. Fisher kramte einen kleinen Zettel aus seiner Tasche und blickte dann auf in die Runde. „Simon Galloway?“

Aus der letzten Reihe ertönte eine tiefe, leicht raue Stimme: „Ich bin hier.“

Die gesamte Klasse drehte sich zu dem neuen Mitschüler um, also wandte auch ich mich ihm zu. Ich konnte ihn allerdings nicht sehen, da Amanda Harris mir die Sicht versperrte.

„Gut, Simon“, sagte Mr. Fisher, „es ist natürlich ungewöhnlich, dass du fast zum Ende des Schuljahres kommst, aber ich habe gehört, du warst einer der besten Schüler an deiner alten Schule, also solltest du keine Schwierigkeiten haben.“

Amanda Harris beugte sich zu ihrer Sitznachbarin rüber und flüsterte ihr aufgeregt etwas zu, sodass ich zum ersten Mal unseren neuen Mitschüler begutachten konnte.

Ich konnte nicht verhindern, dass mir der Unterkiefer herunterklappte; bei unserem neuen Mitschüler handelte es sich um den Jungen aus dem Einkaufszentrum!

Der wahnsinnig gut aussehende Junge mit den blauen Augen, der mir auf wundersame Weise das Leben gerettet hatte und dann auf höchst sonderbare Weise abgehauen war, saß in dieser Sekunde in der letzten Reihe unseres Klassenraumes und lehnte sich mit einer lässigen Eleganz nach hinten. Statt eines schlichten weißen T-Shirts trug er heute ein dunkelblaues Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln über einem nachtblauen T-Shirt mit V-Ausschnitt, durch das sich seine attraktiven Brustmuskeln abzeichneten.

Mir war klar, dass ich ihn unverhohlen anglotzte, aber ich konnte mich nicht abwenden. Ich konnte es nicht fassen! Dieser Junge, dieser mysteriöse wunderschöne Junge, von dem ich geglaubt hatte, ihn nie wieder zu sehen, und ihn mir teilweise sogar eingebildet hatte, ging jetzt tatsächlich in meine Klasse!

Seine Augen begegneten meinen und ich spürte, wie ich rot anlief. Erneut elektrisierte der Blick aus seinen stahlblauen Augen mich, mir wurde heiß und mein Herz begann zu rasen. Ich runzelte leicht die Stirn und fragte mich, ob er mich wieder erkannte. Seinem Blick konnte ich keinerlei Reaktion entnehmen.

„Alles klar“, ertönte Mr. Fishers Stimme, „dann willkommen, Simon.“

Der Junge wandte seinen Blick von mir ab und nickte Mr. Fisher zu. „Danke, Sir.“

Und dann gelang es auch mir endlich, meinen Blick von ihm zu lösen und wieder nach vorne zu richten. Auch Millie wandte sich von ihm ab und flüsterte mir zu: „Na, was hab ich gesagt?“

Es dauerte einen Augenblick, bis ich wieder klar denken und antworten konnte. Ich versuchte, möglichst gleichgültig zu klingen, als ich sagte: „Ja, ist ganz hübsch.“

Aus den Augenwinkeln konnte ich Millies ungläubig-entsetzten Blick erkennen und konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Millie wollte mir gerade empört erklären, dass der Junge nicht einfach nur hübsch, sondern viel mehr als das war, als Mr. Fisher ihren Namen rief und sie nach den Hausaufgaben fragte. Prompt lief sie tomatenrot an und zögerte eine Weile. Ich wusste, dass sie auf meine Hilfe wartete, doch Mr. Fisher stand fast direkt vor unserem Platz, also konnte ich nicht wirklich etwas tun. So unauffällig wie möglich schob ich ihr meine Unterlagen zu, sie warf einen Blick darauf und begann stotternd, meine Arbeit vorzutragen.

Mr. Fisher ging währenddessen wieder nach vorne zur Tafel und schrieb etwas an. Als Millie geendet hatte, nickte Mr. Fisher. „Sehr gut“, sagte er, doch statt Millie sah er mir in die Augen. Jetzt wurde auch ich rot.

„Das hast du sehr gut gemacht, Millie“, sagte er. „Oder sollte ich lieber sagen, Amelia?“

Millie blickte verlegen zu Boden und ich verzog entschuldigend mein Gesicht. „Tut mir Leid, Sir“, murmelte ich.

„Muss es nicht, Amelia“, meinte Mr. Fisher. „Das sind ausgezeichnete Hausaufgaben und vermutlich bist du die Einzige, die sie gelöst hat, auch wenn ich meiner Klasse gegenüber keine Vorurteile äußern will.“

Ein Lachen ging durch die Bänke und mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich fühlte mich jedes Mal schrecklich, wenn ich Ärger von einem Lehrer bekam, deshalb war ich umso erleichterter, wenn es nicht so war.

„Millie, von dir will ich nächste Woche die Hausaufgaben hören“, sagte Mr. Fisher jetzt und wandte sich wieder der Tafel zu. „Und zwar deine eigenen, klar?“

Millie seufzte leise. „Ja, Mr. Fisher.“

Dann machte Mr. Fisher normal mit seinem Unterricht weiter und Millie und ich tauschten einen unauffälligen Blick. Wir lächelten uns an und mussten dann schnell woanders hinsehen, um nicht loszulachen. Vorsichtig schielte ich für eine Sekunde wieder nach hinten zu dem Jungen, als erwartete ich, dass er nicht mehr da war. Er blickte rasch nach vorne, aber ich hätte schwören können, dass sich unsere Blicke für den Bruchteil einer Sekunde getroffen hatten.

Diese Physikstunde war eine der unruhigsten, die wir je hatten. Selbst Mr. Fisher musste das merken, denn kein einziges Mädchen im Klassenraum schien seinem Unterricht zu folgen. Ständig drehten sich Mädchen um und spähten nach hinten zu dem neuen Mitschüler oder sie unterhielten sich flüsternd, vermutlich auch über ihn.

Ich selbst erwischte mich während dieser Stunde noch zweimal dabei, wie auch ich nach hinten blickte und war froh, dass Millie es nicht merkte.

Als es klingelte, packten alle ihre Sachen zusammen und verließen den Physikraum. Millie trödelte und ich wartete in der Tür auf sie. Ich wusste genau, wieso sie sich Zeit ließ; der Junge hatte den Raum auch noch nicht verlassen.

Als er aufstand und durch die Reihen ging, bestätigte sich meine Vermutung von Samstag, dass er groß und schlank war. Am Samstag war alles so schnell gegangen, dass ich gar nicht mehr darauf hatte achten können.

Als er gerade an Millies Tisch vorbeiging, fielen ihr plötzlich sämtliche Bücher und Hefter, die sie dabei hatte, aus der Hand und landeten zwischen ihr und dem Jungen auf dem Boden. Millie fluchte genervt und machte sich ans Aufsammeln.

„Kann ich dir helfen?“, fragte der Junge höflich und beugte sich zu ihr runter.

„Danke“, sagte Millie und strahlte ihn an.

Ich wusste nicht, ob ich über das Szenario vor mir genervt sein oder einen Lachanfall bekommen sollte.

Schließlich hatte Millie alles wieder auf dem Arm und sie und der Junge erhoben sich gleichzeitig. Millie strahlte nach wie vor und es war offensichtlich, dass sie ein Gespräch anfangen wollte. „Tja danke“, wiederholte sie lächelnd.

„Kein Problem“, murmelte der Junge nur und wandte sich ab.

Jetzt hätte ich tatsächlich am liebsten laut losgelacht, verkniff es mir allerdings, weil der Junge in diesem Moment auf mich zukam und aus dem Raum ging. Im Vorbeigehen streiften unsere Arme sich und unsere Blicke trafen sich erneut. Ich schluckte. Er hatte wirklich die unglaublichsten Augen, die ich je gesehen hatte. Es war nur ein Augenblick, eine Sekunde, in der er an mir vorbei durch die Tür ging, aber mir kam es wie ein endloser Moment vor, indem ich das Gefühl hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Einen Moment lang sah ich ihm nach, wie er den Flur hinunter ging, und für eine Sekunde hatte ich das Bedürfnis, hinter ihm her zu laufen und ihn wegen Samstag zur Rede zu stellen. Doch ich wandte meinen Blick mit Mühe ab und stellte fest, dass Millie direkt neben mir stand und ziemlich verwirrt aussah. Prompt fiel mir wieder ein, wie sie eiskalt stehen gelassen worden war und ich prustete los.

„Das findest du witzig, was?“, fragte Millie beleidigt.

„Ehrlich gesagt, ja“, grinste ich. „Und du findest das ungewohnt, was?“

„Ach, halt die Klappe!“, fauchte sie und trat hinaus auf den Flur.

Kopfschüttelnd folgte ich ihr und wir gingen zu dem Klassenzimmer, in dem wir die nächste Stunde hatten.

„So schnell gebe ich noch nicht auf“, sagte Millie leise, ohne mich anzusehen.

Ich sagte nichts. Natürlich gab Millie noch nicht auf, denn obwohl sie schon mit einigen hübschen Jungen ausgegangen war, hatte sie trotzdem noch nie einen getroffen, der annähernd so gut aussah wie dieser. Wie war noch mal sein Name gewesen? Simon? Irgendwie klang dieser Name ganz fremdartig, da der Junge für mich immer nur der namenlose mysteriöse Fremde gewesen war, der mir auf wundersame Weise mein Leben gerettet hatte und von dem ich nicht geglaubt hatte, ihn noch einmal wieder zu sehen.

Jedenfalls war es eigentlich ganz angenehm gewesen, zu sehen, wie dieser Simon Millie einfach hatte stehen lassen, auch wenn ich das natürlich nie zugeben würde. Die meisten Jungen standen auf Millie und Abfuhren bekam sie so gut wie nie, deshalb hatte sie sich vermutlich mehr von ihrem Auftritt mit den heruntergefallenen Büchern erhofft. Dass es nicht geklappt hatte, freute mich auf seltsame Weise ein bisschen.

Der Schultag verging ziemlich schnell. Ich hatte außer Physik auch noch Englisch und Geschichte mit Simon zusammen, heute war Mathe das einzige Fach, in dem er nicht im selben Klassenzimmer war wie ich. In jeder Stunde, in der er dabei war, konnte ich dem Unterricht nicht so aufmerksam folgen wie üblich und ich war nicht die Einzige; auch weiterhin verhielten sich alle Mädchen auffällig, wenn er in der Nähe war, sie starrten ihm nach, unterhielten sich aufgeregt miteinander oder schmachteten ihn an. In der Mittagspause saß er alleine an einem Esstisch, aber es schien, als würde die gesamte Mensa ihn anstarren. Er musste sich wie ein seltenes Tier im Zoo fühlen.

Ich hätte ihn gerne angesprochen, nicht nur, um ihn nach Samstag zu fragen und ihm zu danken, sondern auch weil ich genau wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis ein anderes Mädchen ihn ansprach; ein Junge, der so aussah, war nicht lange alleine. Doch ich konnte es nicht. Ich traute mich nicht und es ergab sich auch keine Gelegenheit.

Als die letzte Stunde vorbei war und es klingelte, ging ich hinaus auf den Parkplatz und wartete an meinem Auto auf Millie. Sie ließ sich wieder einmal Zeit, während die meisten anderen Schüler fröhlich in ihre Autos sprangen und davon fuhren.

Plötzlich entdeckte ich Simon in der Menge, auch er kam auf den Parkplatz zu. Als er auf sein Auto zusteuerte, warf er mir abermals einen Blick zu, wandte ihn jedoch recht schnell wieder von mir ab. Ich sah ihm nach, bis er in sein Auto gestiegen war und aus der Parklücke fuhr. Ich stutzte. Erst jetzt fiel mir auf, dass es sich bei seinem Auto um einen schwarzen Geländewagen handelte wie dem, der mir heute Morgen so rücksichtslos die Vorfahrt genommen hatte.

Kopfschüttelnd vertrieb ich diese Vorstellung; es gab unzählige schwarze Geländewagen und vor allem in unserer Wohngegend und an dieser Schule waren diese Autos nicht unüblich. Noch in Gedanken versunken, merkte ich nicht, wie sich jemand an mich heranschlich, also zuckte ich erschrocken zusammen, als mir plötzlich jemand von hinten seine Hände vor die Augen hielt.

Nach dem ersten Schrecken lachte ich und musste keine Sekunde überlegen, wer da hinter mir stand. „Eric“, rief ich. „Du hast mich zu Tode erschreckt!“

Eric ließ seine Hände sinken und ich drehte mich zu ihm. „Wieso so schreckhaft, Kleine?“, fragte er und zeigte mir sein strahlendes Grinsen.

„Ich war in Gedanken“, meinte ich.

„Oh, schon bei den Hausaufgaben?“, fragte Eric frech.

Ich verzog das Gesicht und wollte ihn schlagen, doch er wich meiner Hand geschickt aus. Eric ärgerte mich ständig damit, dass ich so fleißig und gut in der Schule war und nannte mich dann immer „seine kleine Streberin“.

„Hey, hast du Millie gesehen?“, fragte ich.

Eric schüttelte den Kopf.

Ich seufzte. „Wo bleibt sie?“

Wie aufs Stichwort kam Millie aus dem Schulgebäude und blieb bei uns stehen. „Hey.“

„Wo warst du denn?“, fragte ich.

Millie wurde rot. „Ich hab Ausschau gehalten“, nuschelte sie.

Ehe ich etwas darauf erwidern konnte, fragte Eric mit hochgezogenen Augenbrauen: „Wonach?“

Millie sagte nichts.

„Nach unserem neuen Mitschüler“, antwortete ich an ihrer Stelle. „Das hättest du dir sparen können, er ist schon weg“, fügte ich an Millie gewandt hinzu.

„Er ist schon weg?“, wiederholte sie enttäuscht. „Dann hab ich ihn wohl übersehen.“

„Ganz offensichtlich“, stimmte ich zu.

„Na, dann können wir auch fahren“, meinte Millie achselzuckend und stieg auf den Beifahrersitz meines Audis.

„Soso, neuer Mitschüler“, grinste Eric.

Ich biss mir unsicher auf meine Unterlippe; ich hätte Eric gerne erzählt, dass es sich bei unserem Mitschüler um den rätselhaften Lebensretter aus dem Einkaufszentrum handelte, aber solange Millie dabei war, würde ich lieber meinen Mund halten. Also nickte ich nur grinsend und sagte: „Tja, Millie ist verknallt.“

„Bin ich gar nicht!“, rief Millie aus dem Wagen. „Ich will ihn doch nur kennen lernen.“

„Muss ja ziemlich hübsch sein“, sagte Eric belustigt.

„Hab ich auch gesagt, bevor ich ihn gesehen habe“, sagte ich lächelnd.

„Und, ist er es?“, fragte Eric grinsend.

„Hübsch?“ Ich zögerte kurz. „Ja, sieht ganz gut aus.“

Ganz gut?“, ertönte Millies entsetzte Stimme und ich lachte.

„So, wir fahren dann mal“, sagte ich und öffnete die Fahrertür. Eric machte keine Anstalten, ebenfalls einzusteigen, also fügte ich hinzu: „Kommst du nicht mit?“

Eric schüttelte den Kopf. „Ich habe noch Sport.“

„Ach ja“, rief ich; das vergaß ich ungefähr jeden Montag.

„Und morgen auch nicht, da hab ich die ersten Stunden frei“, meinte Eric.

„Du hast’s gut“, seufzte ich neidisch und stieg ins Auto. „Mach’s gut!“, rief ich noch aus dem Fenster, während ich das Auto rückwärts aus der Parklücke bugsierte.

Als wir unterwegs Richtung Millies Haus waren, sagte sie nach einer Weile: „Jetzt sei mal ehrlich, wie findest du Simon?“

Ich antwortete nicht sofort und war froh, dass ich nicht rot wurde. Nach ein paar Sekunden zuckte ich die Achseln. „Wie soll ich ihn finden? Ich habe noch kein einziges Mal mit ihm gesprochen.“

Millie stöhnte genervt. „Ich glaube, noch keiner hat mit ihm gesprochen“, sagte sie, „ich meinte, ob du ihn wirklich nur ‚ganz hübsch‘ findest oder doch mehr?“

„Er ist doch ganz hübsch, oder nicht?“, entgegnete ich.

„Extrem hübsch!“, verbesserte Millie mich aufgeregt.

Ich seufzte kopfschüttelnd. Da zeigte sich mal wieder, wie unterschiedlich Millie und ich waren; sie wollte immer über Jungen reden oder über irgendjemanden lästern und das waren Themen, die ich eigentlich umging und mich nicht sonderlich interessierten. Natürlich interessierte Simon Galloway mich sehr, doch ich wollte das nicht vor Millie zugeben. Genauso wenig wollte ich ihr erzählen, dass ich Simon schon am Samstag im Einkaufszentrum begegnet war, obwohl ich nicht so recht wusste, warum ich ihr davon nichts sagen wollte. Wahrscheinlich weil ich mir diese Begegnung selbst nicht erklären konnte und weil es mir unangenehm war, mit Millie über so etwas zu sprechen; sie war dafür einfach zu anders als ich.

Ich brachte sie nach Hause und fuhr dann weiter in unsere Wohnsiedlung. Während ich wieder an den ganzen Villen und Palästen vorbeifuhr, war ich in Gedanken die ganze Zeit bei Simon. Ich sah seine blauen Augen und sein unglaublich hübsches Gesicht immer noch vor mir und nach wie vor konnte ich kaum fassen, dass er in meine Klasse ging.

Vor dem großen Tor vor unserem Haus hielt ich an, machte das Fenster auf, streckte meinen Arm zu der Sprechanlage aus, gab genau wie gestern Abend den Code ein und fuhr durch das Tor, das sich langsam öffnete, auf unsere Einfahrt. Ich stellte den Wagen ab, stieg aus und ging ins Haus.

Ich wollte gerade die Treppe hinaufgehen, als meine Mutter aus der Küche gestürmt kam und mich lächelnd ansah. Sie sah super aus; sie trug ein eng anliegendes Designerkleid und war schick gestylt.

Ich runzelte die Stirn angesichts ihres Outfits, über dem sie jetzt noch eine Schürze trug. Außerdem hatte sie Topflappen in der Hand; offenbar bereitete sie in der Küche gerade ein besonderes Festmahl vor.

„Da bist du ja“, begrüßte sie mich fröhlich. „Wie war dein Tag?“

„Ganz okay“, antwortete ich achselzuckend.

„Und geht’s dir gut?“, fragte meine Mutter ein wenig besorgt.

Ich wusste, dass sie die Explosion im Einkaufszentrum meinte, der ich nur haarscharf entkommen war. Offenbar konnte sie immer noch nicht so ganz glauben, dass ich sie unverletzt überlebt hatte. Ich nickte und brachte ein Lächeln zustande. „Alles bestens, ehrlich“, meinte ich. Dann wechselte ich möglichst schnell das Thema und fragte: „Und bei dir? Du siehst aus, als stündest du schon seit einer Weile am Herd?“

Meine Mutter schnaubte. „Ja, kann man sagen. Schon eine ganze Weile.“

„Ist irgendwas Besonderes heute Abend?“, fragte ich stirnrunzelnd.

Meine Mutter zog ungläubig die Augenbrauen hoch. „Ich habe doch unsere neuen Nachbarn zum Abendessen eingeladen, das weißt du doch“, sagte sie vorwurfsvoll. „In einer halben Stunde müssten sie kommen, also beeil dich!“

Damit verschwand sie wieder in der Küche und ließ mich auf der Treppe stehen.

Ich seufzte. Die neuen Nachbarn … Über die ganzen Gedanken und das Gerede über Simon Galloway und den aufregenden Samstag hatte ich die schon wieder völlig vergessen. Natürlich wusste ich, dass sie heute Abend zum Essen bei uns eingeladen waren, meine Mutter hatte es mir ungefähr tausendmal erzählt, aber ich hatte es mir kein einziges Mal länger als fünf Minuten gemerkt. Ich hielt nicht besonders viel von den Willkommensessen meiner Mutter, da wir in einer Wohngegend lebten, wo Freundlichkeit ein Fremdwort war. Aber meine Mutter wollte unbedingt ein gutes Verhältnis zu den Nachbarn aufbauen. Verständlich, aber in einer Wohngegend wie dieser aussichtslos. Ich dachte an den Vollidioten in dem Geländewagen von heute Morgen und fand das Ganze noch aussichtsloser als ohnehin.

Ich lief die Treppe hinauf und ins Badezimmer. Unter der Dusche fragte ich mich, wie schrecklich die neuen Nachbarn sein könnten und mit dem Gedanken an heute Morgen fand ich sie jetzt schon unsympathisch. Unwillkürlich fragte ich mich, wie lang der Abend werden würde und ob ich mich wohl früher davon stehlen könnte, was ich jedoch bezweifelte. Steven war noch auf der Arbeit, er würde frühestens beim Nachtisch dazu stoßen, also zählte meine Mutter auf mich und ich würde es wohl oder übel bis zum Ende aussitzen müssen.

Ich dachte gar nicht daran, mir auch ein Kleid anzuziehen, sondern entschied mich für Jeans und eine Bluse. Dann kämmte ich meine Haare und band sie zu einem lockeren Zopf zusammen.

Während ich mir die Zähne putzte, ertönte unten ein Läuten und ich hörte meine Mutter rufen: „Sie sind da!“

Wenig später hörte ich, wie sie die Haustür öffnete und dann mehrere Stimmen, die sich begrüßten. Ich holte tief Luft, verdrehte noch ein letztes Mal die Augen und verließ mein Zimmer.

Als ich die Treppe hinunter stieg, sah ich nur noch, wie meine Mutter und die Gäste in die Küche gingen. Na gut, dann musste ich sie eben da begrüßen. Ohne zu zögern, in der Hoffnung, den Abend so schnell wie möglich hinter mich zu bringen, betrat auch ich die Küche und wandte mich den Gästen zu, die noch mit dem Rücken zu mir da standen. Es waren nur zwei Männer, so wie es aussah.

„Amelia“, sagte meine Mutter fröhlich. „Das sind unsere neuen Nachbarn.“

Und die beiden Gäste drehten sich zu mir um …


Die Galloway Geschwister

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