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Petrus Abaelard, der entmannte Philosoph (1117/18)

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In Paris lebte eine junge Frau namens Heloisa, die Nichte eines gewissen Kanonikers Fulbert. Er liebte sie sehr und versuchte deshalb ihre wissenschaftliche Ausbildung zu fördern, so gut er konnte. Von ihrem Äußeren her war sie durchaus ansehnlich, aber mit ihrem beeindruckenden Wissen ragte sie heraus. Wissenschaftliche Bildung findet man bei Frauen selten; umso mehr zeichnete sie diese junge Dame aus und hatte sie im ganzen Land bekannt gemacht. Da sie mit allem ausgestattet war, was Liebende anlockt, fasste ich den Plan, sie durch Liebe an mich zu binden, und glaubte, dass mir dies spielend leicht gelingen würde. Mein Name war damals hoch gelobt und ich war jung und schön von Gestalt, sodass ich von keiner Frau, der ich den Hof machen würde, eine Zurückweisung fürchtete. […] Fulbert […] kam meinen Wünschen entgegen und lud uns, ohne es zu wissen, geradezu zur Liebe ein, denn er vertraute mir Heloisa zur Ausbildung an. […] Was soll ich noch sagen? Zuerst lebten wir in einem Haus, bald aber wurden wir ein Herz und eine Seele. Unter dem Vorwand der Wissenschaft gaben wir uns ganz und gar der Liebe hin und bekamen bei unseren Lektürestunden genau die Gelegenheit zum Alleinsein, die Liebende sich wünschen. Die Bücher lagen offen da – mehr Worte über die Liebe als über die Lektüre drängten sich auf, wir küssten uns mehr, als wir redeten. Meine Hand lag häufiger an ihrem Busen als auf den Büchern und wir blickten uns viel öfter verliebt in die Augen, als dass wir uns mit der wissenschaftlichen Literatur beschäftigten.

Auszug aus der Leidensgeschichte des Petrus Abaelard. Übersetzung aus dem Lateinischen. Originaltext bei Dag N. Hasse, Abaelards „Historia calamitatum“, S. 18–21.

Sie gehört zu den leidenschaftlichsten und tragischsten Liebesgeschichten überhaupt, die Liaison des Philosophen und Theologen Petrus Abaelard, der einer der herausragenden Denker seiner Epoche war, und seiner Schülerin Heloisa, einer überaus begabten und gebildeten jungen Frau. Wir sind über diesen amour fou vorzüglich unterrichtet, denn beider Briefwechsel aus der Zeit nach der erzwungenen Trennung ist erhalten geblieben und bietet berührende Einblicke in die Empfindungen zweier Menschen des 12. Jahrhunderts, denen vom Schicksal übel mitgespielt wurde. Darüber hinaus liegt uns die autobiographische Leidensgeschichte des Abaelard vor, die als Brief an einen ungenannten Freund stilisiert ist und etwa bis zum Jahr 1133 reicht. In ihr gibt er erstaunlich offen Auskunft über seine Liebe zu Heloisa und über seine Sicht der fatalen Folgen, die sich daraus ergaben.

Doch blicken wir zunächst auf den Anfang. Abaelard wurde 1079 in der Nähe von Nantes im heutigen Westfrankreich geboren und begann eine glänzende Karriere als Lehrer der Philosophie. Seine Fähigkeiten gingen so weit, dass er es wagen konnte, seinen ehemaligen Lehrer Wilhelm von Champeaux, eine Autorität des Fachs, herauszufordern und in einer entscheidenden philosophischen Frage der Zeit zu widerlegen. Als brillanter Denker und Redner versammelte Abaelard bald eine große Anhängerschar um sich herum und hielt Vorlesungen, die es in sich hatten. Eine Anekdote mag das veranschaulichen: Kurz nachdem er im Jahr 1112 auch ein Studium der Theologie aufgenommen hatte, ließ er im Kollegenkreis die Bemerkung fallen, er könne nicht verstehen, wieso die Theologen alle so viele Hilfsmittel bei der Bibelauslegung bräuchten. Es sei doch viel besser, sich dabei mit den Schriften selbst und höchstens noch mit der zugehörigen Glosse, einem Kommentar, zu begnügen. Diese Äußerung brachte ihm Gelächter und die höhnische Frage ein, ob er als Anfänger denn so schlau sei, die Schrift ohne Hilfsmittel zu interpretieren. Man forderte ihn dazu auf, eine Probevorlesung zu einem Schrifttext zu halten. Abaelard willigte spontan ein und bekam eine besonders schwere Stelle aus dem alttestamentlichen Propheten Ezechiel zur Auslegung für den folgenden Tag. Diesen Test bestand er mit Bravour, ja die Hörer waren gefesselt vom Vortrag und baten ihn dringend, er möge seine Ezechiel-Interpretation fortführen. Dies wiederum provozierte, wenigstens nach Abaelards Darstellung, die glühende Eifersucht seines theologischen Lehrers Anselm von Laon, der sich schließlich dazu genötigt sah, qua Amt einzuschreiten und dieses Treiben eines Neulings im Fach zu unterbinden.

Daran wird deutlich, dass mit Abaelards Aufstieg auch die Zahl seiner Gegner wuchs, die sich von ihm brüskiert fühlten oder ihm den Erfolg missgönnten – die „Leidensgeschichte“ legt Zeugnis davon ab, dass er sein Leben lang von Neidern und Feinden angegangen wurde, lässt aber auch erkennen, wie sehr er dies selbst herausforderte. Im Grunde passen auch die Umstände der Liaison mit Heloisa in dieses Schema. Heloisa war die Nichte Fulberts, eines Kanonikers, also nicht an Kloster und Mönchsregel gebundenen Weltgeistlichen, der im Domkapitel von Notre-Dame in Paris wirkte. Er unternahm alles Erdenkliche, um die geistige Entwicklung der ungefähr 18-Jährigen zu fördern. So engagierte er Abaelard, der an der Domschule Logik lehrte, um das Jahr 1117 herum als Hauslehrer und bot ihm sogar an, mit ins Haus zu ziehen, was der Eingeladene gerne annahm. Das Vertrauen Fulberts in den mittlerweile etwa 38-jährigen Gelehrten von Rang und Namen war grenzenlos. Dennoch geschah das, was der Hausherr sich bestimmt nicht hätte vorstellen können: Lehrer und Schülerin verliebten sich heftig ineinander, so heftig, dass Abaelard Mühe bekam, seinen sonstigen beruflichen Aufgaben nachzukommen: „Je mehr mich die sinnlichen Freuden gefangen hielten, desto weniger Muße hatte ich für Philosophie und Schule […]. Es war auch ganz schön aufreibend, nachts der Liebe zu frönen und tags der Arbeit nachzugehen. Meine Vorträge gerieten gleichgültig und lau“, gestand er später. Stattdessen schrieb er Liebeslieder. Geraume Zeit lebten die beiden im heimlichen erotischen Rausch, ehe sich schweres Unheil über dem Paar zusammenbraute; denn endlich erfuhr auch Fulbert, was sich unmittelbar neben ihm zutrug. So geflissentlich und jovial er zuvor alle warnenden Stimmen überhört hatte, die ihn dezent auf die Geschehnisse in seinem Haus aufmerksam machen wollten, so sehr geriet er nun außer sich – zumal er erkennen musste, dass seine Nichte auch noch ein Kind erwartete! Abaelard reagierte schnell und brachte Heloisa bei seiner Schwester in der Bretagne in Sicherheit, wo ein Junge zur Welt kam, dem die Eltern den Namen Astralabius gaben. Um das Schlimmste abzuwenden und seine bohrenden Schuldgefühle loszuwerden, versuchte Abaelard eine Versöhnung mit Fulbert herbeizuführen und bat ihn inständig um Verzeihung. Er gelobte, sich jeder Buße zu unterwerfen, die Fulbert festlegen möge, und versprach zudem, Heloisa zu heiraten. Dieses Angebot stellte ein großes Opfer dar: Eine Ehe bedeutete für einen Intellektuellen wie Abaelard ein erhebliches Karrierehindernis an den Domschulen, wo sich vor dem Aufkommen der Universitäten die geistigen Eliten ausbilden ließen. Abaelard selbst war als Weltgeistlicher zwar nicht zwingend an den Zölibat gebunden, aber in Kirchenkreisen litt sein Ruf, wenn herauskommen sollte, dass er verheiratet war. Dies legte ihm Heloisa auch in einem leidenschaftlichen Plädoyer gegen die Ehe auseinander, aber Abaelard bestand darauf, den Schritt zu vollziehen und Fulbert, so gut es eben ging, zufriedenzustellen. Eine Bedingung dafür hatte er dennoch gestellt: Man möge über die Eheschließung schweigen und Abaelard dadurch vor beruflichen Nachteilen bewahren. Bloß konnten Fulbert und seine Familie die Schande, die über sie gebracht worden war, nicht verwinden und erzählten die Neuigkeit überall herum. Dies verleitete Heloisa dazu, ihre Ehe zu leugnen, was Fulbert so provozierte, dass er sie misshandelte. Abaelard wiederum brachte seine Frau deshalb in ein Kloster in Argenteuil bei Paris, wo sie als Laienschwester aufgenommen wurde. Nun, vermutlich 1118, hatte die Auseinandersetzung geradezu einen Siedepunkt erreicht, Fulbert und seine Sippe sahen sich erneut betrogen. Abaelard schreibt über das Folgende in seiner Autobiographie: „Diese Leute waren heftig empört und verschworen sich gegen mich. Nachdem sie meinen Diener mit Geld bestochen hatten, nahmen sie eines Nachts, als ich ruhig in meiner Kammer schlief, auf grausamste und beschämendste Weise Rache an mir, sodass die Welt es mit Entsetzen vernahm: Sie schnitten mir nämlich die Teile meines Körpers ab, mit denen ich begangen hatte, was sie beklagten.“ Dieser Schnitt, von dem hier die Rede ist, war nichts anderes als eine Kastration! Der Text schweigt sich darüber aus, ob Abaelard seine Geschlechtsorgane vollständig verlor oder ob man ihm ausschließlich die Hoden abgeschnitten hat. Fulbert selbst hat vermutlich nur den Auftrag zu der Tat gegeben, denn es ist sehr unwahrscheinlich, dass er sich mit einer direkten Beteiligung daran die Hände schmutzig gemacht hat. Entmannung war im mittelalterlichen Gerichtswesen regional begrenzt als schwere Bußstrafe zum Beispiel für Vergewaltigung mit Todesfolge, Ehebruch oder homosexuellen Verkehr zugelassen, stellt hier aber ein grauenhaftes Verbrechen dar. Dies sahen auch die Zeitgenossen so; denn mit den Schuldigen, die man schnell ergriff, geschah, was auf „handhafter“, frischer Tat ertappte Kriminelle im Mittelalter zu erwarten hatten: ein sehr kurzer Prozess. Im vorliegenden Fall wurden zwei der Täter, darunter Abaelards Diener, selbst entmannt und zusätzlich noch geblendet. Die Namen der Gefassten wie auch derjenigen, die den Racheakt verübten, bleiben unbekannt. Ein Bischofsgericht suspendierte Fulbert später vorübergehend aus dem Domkapitel und entzog ihm und seiner Familie sämtliche Güter. Abaelard genügte diese Strafe jedoch nicht. Er trug sich mit dem Gedanken, durch Appellation an den Papst ein Verfahren in Rom anzustoßen, ließ sich aber von einem Mahnschreiben des Priors Fulko von Deuil davon abhalten.

Der Fall hatte in Paris großes Aufsehen erregt; schon am Morgen nach der Tat strömte die ganze Stadt, so die „Leidensgeschichte“, vor Abaelards Haus zusammen. Der Verstümmelte war für Mitleidsbekundungen allerdings nicht sehr zu haben. Ihn schmerzte die Demütigung und Schande vor aller Welt mehr als die körperliche Wunde. „Der große Ruhm, in dem ich mich eben noch gesonnt hatte, wie war er in einem kleinen, schändlichen Augenblick gemindert, ja fast ausgelöscht worden!“ Abaelard sah darin einen göttlichen Fingerzeig: „Wie gerecht war Gottes Gericht, das mich an dem Körperteil schlug, mit dem ich gesündigt hatte. Wie gerecht war der Verrat dessen, den ich zuvor verraten hatte, wenn er mir Gleiches mit Gleichem vergalt.“ Er trat nun als Mönch ins Kloster Saint-Denis bei Paris ein und Heloisa nahm in Argenteuil den Schleier, wurde also vollwertiges Mitglied der dortigen Klostergemeinschaft. Auf das Drängen von Klerikern „in hellen Scharen“ entschloss sich Abaelard dazu, seine Lehrtätigkeit in einer von ihm aufgebauten und zum Kloster Saint-Denis gehörigen Einsiedelei in der Champagne wiederaufzunehmen. Und er schrieb ein erstes theologisches Buch, die „Theologie des höchsten Gutes“ über die göttliche Dreieinigkeit, das ihm neuen Ärger einbringen sollte; denn 1121 verurteilte die Synode von Soissons es in einem dubiosen Verfahren seiner Gegner als ketzerisch und zwang ihn, es mit eigenen Händen ins Feuer zu werfen. Zur körperlichen Kastration kam also gewissermaßen eine geistige, die 1141 auf Betreiben seines großen Antipoden Bernhard von Clairvaux von einer weiteren Verurteilung wegen Häresie durch eine Synode gefolgt wurde. Abaelard blieb trotzdem ein ebenso genialer wie streitbarer Denker, der seiner Zeit in vielem weit voraus war, ja in dessen Werk bereits allererste Züge neuzeitlicher Argumentation aufblitzen. Dazu gehört zum Beispiel der vergleichsweise freie und vernunftgeprägte Umgang mit den geistigen Autoritäten, den Abaelard mit seiner neuen dialektischen Methode anregte. In seinem Werk „Sic et Non“ („Ja und Nein“) schlug er eine exakte Verfahrensweise vor, wie mit Widersprüchen zwischen Worten bedeutender Autoren umzugehen sei, und bereitete damit der Scholastik den Weg. In seiner Ethik erhob er die Absicht des Handelnden, die Gesinnung, zum Hauptmaßstab für die Beurteilung einer Tat – und nicht mehr deren Ergebnis, wie das in der philosophischen Tradition bis dahin üblich war. Die moderne Subjektivität warf ihre noch zarten Schatten voraus.

Bei aller herausragenden und zukunftsweisenden intellektuellen Kraft bleibt der Name Abaelards jedoch eng verbunden mit Heloisa; beide kamen sich auf andere Art als zuvor wieder näher, als sich die Nonnen von Argenteuil 1129 ein neues Zuhause suchen mussten. Abaelard, mittlerweile Abt eines Klosters in der Bretagne, bot ihnen seine alte Einsiedelei an, die sie auch annahmen, und kümmerte sich sehr um die Belange des kleinen Ordens. Heloisa war zunächst Priorin der Nonnengemeinschaft und später ihre Äbtissin. Im Briefwechsel aus den 1130er-Jahren ringen beide – immerhin ja formell Eheleute! – um eine Begegnung unter den neuen Vorzeichen; Heloisa lässt dabei an manchen Stellen noch die alte Leidenschaft erkennen, während Abaelard sich von seinen früheren sexuellen Begierden distanziert und sich auf seine Rolle als Geistlicher zurückzieht. Gleichwohl sind die Briefe ein faszinierendes Zeugnis von Liebe und Menschlichkeit, das die Jahrhunderte überdauert hat. Er: „Wenn mich der Herr in die Hände meiner Feinde fallen lassen sollte, sodass sie mich überwältigen und töten, oder wenn ich auf andere Weise ferne von Euch den Weg allen Fleisches gehe, so beschwöre ich Euch: Lasst meinen Leichnam, wo immer er auch begraben sei oder liege, auf Euren Friedhof überführen!“ Sie: „Schon der Gedanke an Deinen Tod ist so gut wie mein Tod. […] Aber welche Hoffnung bleibt mir, wenn ich Dich verloren habe? Wozu sollte ich dann noch meine irdische Pilgerschaft fortsetzen? Hier habe ich keinen Trost außer Dir! Mir bleibt nichts anderes an Dir, außer dass Du lebst!“

Abaelard starb 1142, Heloisa 1164. Beide ruhten vereint zunächst in Heloisas Kloster und liegen heute auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris. Was ihnen im Leben nur kurze Zeit möglich war, hat ihnen also wenigstens der Tod vergönnt.

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