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Der Einzug ins Paradies

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Wenn man ihn fragte, sagte er immer, er wohne in Kreuzberg, allein schon, um den erstaunten, ehrfurchtsvollen Blick zu sehen und das „Ah…!“ zu hören, das in seinen Ohren so klang, wie es Menschen aussprechen, die etwas bewundernd zustimmen, das sie nur vage oder vom Hörensagen kennen. Es war immer dasselbe, ob in Berlin oder in weiter Ferne. „Wo wohnst du denn?“ „In Berlin.“ „Und wo da?“ „In Kreuzberg!“ „Ah…!“.

Dabei war das gelogen. Er wohnte in Neukölln. Allerdings in dem Teil Neuköllns, das man heute Kreuzkölln nennt, und das mittlerweile dieselbe Bewunderung hervorruft. Damals allerdings war das eine ziemlich beschissene Gegend. Herunter gekommene Altbauten mit Kachelöfen in den Zimmern, die im Winter einen üblen Gestank verbreiteten und Autowracks am Straßenrand, die mit der Zeit immer skurriler ausschauten, weil der eine oder andere irgend was abschraubte, das er gebrauchen konnte.

Allerdings gab es in diesem tristen Umfeld eine kleine Oase, die man auf den ersten Blick nicht erkannte. Man musste durch die Toreinfahrt eines unscheinbaren, grau verputzten Hauses gehen und dann sah man sie. Eine alte Hinterhoffabrik, Klinkerbau, mit großen Bogenfenstern. Jede Etage, ja sogar fast jedes Fenster schien in einem anderen Licht, durch jedes geöffnete Fenster klang ein anderes Geräusch, lautes Diskutieren, verschiedene Klänge, von Janis Joplin, über Freejazz bis zu aktuellen Hit der B52th.

Als er damals zum ersten mal hindurchschritt, und dann durch die zweite Toreinfahrt gelangte, stand er in diesem Innenhof mit zwei Treppenaufgängen und einem offenen Lastenaufzug, umgeben von den buntesten Fenstern, die ein Leben ausstrahlten, das man von gelassen bis aufregend beschreiben konnte, und er wusste sofort, das ist der Ort, an dem er sein möchte und an dem er auch sein wird.

Er trat in das erste Treppenhaus ein, sah an einem der 5 Briefkästen mit jeweils 5 bis 8 Namen denjenigen, auf dessen Anzeige er geantwortet hatte.

Die Tür im dritten Stock hatte keine Klingel, also klopfte er. Es wurde geöffnet, „Na, komm rein.“ Nachdem er sich durch einen sehr schweren Filzvorhang zwängen musste, stand er in einem riesigen Raum mit dem sehr strapazierten aber unverwüstlichen emaillierten Steinfußboden, zwei gusseisernen Säulen, die mit kleinen Kapitellen in eisernen Dachträgern endeten, zwischen denen sich die himmelblau gestrichene Gewölbedecke erstreckte.

Am großen WG-Tisch saßen die Bewohner, offenen Blicks, neugierig, freundlich. Er erzählte seine Geschichte, dass er sich von seiner Ehefrau trenne, dass es im guten Einvernehmen geschieht, dass beide versuchen, einen passenden Platz in einer WG zu finden, und wer als erster etwas findet, das ihm gefällt, zieht aus, und der andere bleibt in der Wohnung. Das gefiel den Bewohnern schon mal. Dann wurde ihm die Fabriketage gezeigt. Die große Fabrikhalle war in sieben Zimmer unterteilt, die teils mit den alten verglasten Holzwänden abgegrenzt waren, Zimmer, die früher die Meisterbuden beherbergten, und teils mit Ytong Steinen ummauert waren. Ein solches Zimmer mit 2 großen Fenstern war für ihn oder seinen Konkurrenten vorgesehen. Über das hintere Zimmer gelangte man zum Lastenaufzug und zu der zweiten WG auf dieser Etage.

Man unterbreitete ihm nun das weitere Vorgehen. In der nächsten Woche wird ein gemeinsames Essen stattfinden, zu dessen Vorbereitung alle WG-Mitglieder und die Aspiranten mitwirken. Danach wird entschieden, wer genommen wird.

Beim Hinausgehen, schon fast an der Tür, rief Christian ihm noch zu, „Hey, sind die Haare echt so?“ Er trug damals die Haare in sogenannten Minipli Locken, die lange Zeit sehr verpönt waren, heute aber wieder Zuspruch finden, nachdem Rihanna sich in diesen Locken via Twitter postete, bis auf die Schultern. Er antwortete nur „Nee“, „Gut so“.

Es war ein ziemliches Gewusel in dem großen Gemeinschaftsraum. Christian, Beate und Susanne hatten jede Menge Gemüse eingekauft. Christian öffnete erst mal eine Flasche Sekt, und alle stießen mit ihm, seiner Freundin Sarah und Tobias, seinem vermeintlichen Konkurrenten an.

Er hatte Sarah aus einem spontanen Entschluss mitgenommen. Sie sah wirklich so aus, wie man sich eine Sarah vorstellt. Das hatte den einfachen Grund, dass sie sich den Namen selbst gegeben hatte und eigentlich Mechthild hieß.

Sara, Sara,

Scorpio Sphinx in a calico dress

Sara, Sara,

You must forgive me my unworthiness.

Bob Dylan, Desire, 1976, 5:30

Sarah lernte er im Dezember im Spectrum kennen, einem Kneipenkollektiv im Mehringhof, das als Anlaufstelle für alle Demos und Hausbesetzungen diente, die zu der Zeit in vollem Gange waren. Sarah hatte eine stark ausgeprägte Hakennase, was ihr etwas „zigeunerisches“ verlieh. Damals konnte man diese Bezeichnung noch sagen, ohne sofort auf das heftigste angemacht zu werden. Sie kiffte gern und trank gerne Rotwein, was genau auch seine Richtung war. Sie gingen gleich am ersten Abend noch im Tiergarten im Schnee spazieren, legten sich nebeneinander mit dem Rücken in den Schnee, machten mit Armen und Beinen solche Wischbewegungen, dass es aussah, als sie es danach von oben betrachteten, wie zwei Engel im Gewand und mit Flügeln. Danach landeten sie gleich bei ihr, in einer sehr kleinen dunklen Wohnung, vollgestellt mit zig Eulenfiguren in allen erdenklichen Formen, Materialien und Größen. Sie hatte die Angewohnheit, beim Sex lauter kleine Wimmer- und Seufzertöne von sich zu geben, was ihn tierisch anmachte. Sie waren beide vom ersten Augenblick an heftig ineinander verknallt.

Während er die Karotten schälte und in Scheiben schnitt, antwortete er bereitwillig auf Susannes Fragen. Ja, er hat einen Job, als Ingenieur bei Siemens, und das schon seit acht Jahren. Das hörte Christian, der die Unterhaltung mit Tim führte, „ dann wäre ich wenigstens morgen nicht der Einzige, der so früh raus muss, ich arbeite als freier Mitarbeiter beim Spandauer Volksblatt.“ „Ok, aber ich bin morgens ziemlich maulfaul. Will nur in Ruhe meine Zeitung lesen“ „Genauso ähnlich habe ich mir das vorgestellt“ Die Unterhaltung ging hin und her, jeder redete mal mit jedem. Das Essen gelang, man saß noch gemütlich in der Runde, aber nach zwei Stunden wurden sie dann freundlich aber bestimmt verabschiedet. Man würde sich dann morgen melden.

Zu einer Zeit, als es noch keine Handys gab, war der folgende Tag ein Martyrium für ihn. Er saß immer in Reichweite des Telefons, das auf einer Anrichte im Flur stand. Endlich dann das Läuten. Beate eröffnete ihm, er soll am Abend noch mal vorbeikommen, aber bitte ohne Sarah.

Susanne eröffnete sofort das Gespräch. Bei der ersten Vorstellung war sie die einzige, die gegen ihn gestimmt hatte. Er hatte so eine für sie unerträgliche Machoart in seiner abgewetzten Lederjacke. Sein Auftreten war sehr dominant, und sie hatte das Gefühl, dass er wenig gemeinschaftsfähig sei, aber gestern hat sie dann ihre Meinung geändert. Sie war sehr eingenommen von der Art und Weise, wie er mit Sarah umging, und sie hatte das Gefühl, dass Sarah die Hosen anhatte, und ihn das in keiner Weise stören würde. Er sei also einstimmig angenommen.

Schon am darauffolgenden Wochenende erfüllte sich ein sehr lang gehegter Wunsch. Er hatte allen Ballast hinter sich gelassen, all die überflüssigen und bürgerlichen Möbel und Gegenstände. Alles, was er nun besaß passte in einen Ford Transit.

Am Samstag, den 10. Januar 1981 hielt er, Tristan Riemenschneider, Ingenieur bei Siemens, 32 Jahre, 2 Monate und 23 Tage alt, Einzug ins Paradies.

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