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Ein perfekter Tag!« Er riss die gelben Vorhänge auf. Und noch bevor sie ihren Kopf unter die Bettdecke stecken konnte, fielen schon die Sonnenstrahlen über sie her.

Perfekte Tage machten ihr Angst. Weil sie eine Lüge waren. Sie machten einem vor, alles wäre in Ordnung, das Leben wäre großartig und man sei unbesiegbar. Und am Abend dann wirft der perfekte Tag seine Maske ab und plötzlich steht das Grauen vor einem.

Nein, sie mochte keine perfekten Tage. Sie hasste sie.

Er kniete sich aufs Bett und zog ihr die Decke vom Kopf. Widerstrebend öffnete sie ihre Augen ein Stück und blinzelte. Das Licht in dem sonnendurchfluteten Zimmer kam ihr unerträglich hell vor. Seine Sommersprossen waren ganz nah und eine blonde Haarsträhne berührte ihre Stirn. Sie hätte weinen können. Wenn sie gekonnt hätte.

»He, komm doch nachher auch runter zum Strand. Du kannst vielleicht noch ’n paar Wellen reiten.« Er küsste sie auf den Mund. Seine Lippen schmeckten süß und seine blauen Augen zwinkerten gut gelaunt. Sie hätte ihn gern umarmt. Aber sie konnte nicht.

»Mal sehen«, murmelte sie stattdessen und versuchte, nicht an diesen perfekten Tag zu denken. Sondern nur an den nächsten Schritt. Duschen und anziehen.

Er sprang vom Bett und grinste immer noch. »Du kommst, versprochen!«

Es tat fast weh, wie viel Mühe er sich gab. Noch nicht mal ihre mürrische Laune konnte ihn einschüchtern. »Von mir aus«, rang sie sich ab.

»Wie kann man an einem solchen Tag nur so schlechte Laune haben, frag ich mich!«

Sie fühlte sich schuldig. Wie so oft.

Kopfschüttelnd sammelte er seine Kleider vom Boden und verschwand im Badezimmer. Sie schloss erneut die Augen und lauschte dem plätschernden Wasser. Als er fertig geduscht hatte, lag sie immer noch im Bett.

Bevor er ging, kam er noch mal zu ihr und verabschiedete sich mit einem Kuss. »Bis heut Abend. Und bringst du was zu essen mit?«

»Ja«, sagte sie und atmete auf, als sie endlich die Apartmenttür ins Schloss fallen hörte. Vom Fenster drangen leise die Geräusche der Straße herauf. Sie wohnten an einer Hauptstraße, die in die Innenstadt führte, und schon am frühen Morgen zog der Verkehr hier vorbei. Und wenn sie heute einfach im Bett bleiben würde? Sie könnte sich krankmelden, dann müsste sie nicht aus dem Haus.

Schnell schälte sie sich aus der Decke und schaffte es gerade noch ans Fenster, als er heraufsah. Sie winkte. Er winkte. Wie jeden Morgen. Gleich würde er den Parkplatz gegenüber überqueren, in seinen VW-Bus steigen und losfahren. Zu Dick Smith, dem Elektroshop.

Während sie noch nach draußen starrte, zuckte sie zusammen. War da eben nicht ein Geräusch auf der Treppe gewesen? Sie wandte sich vom Fenster ab, schlich so leise wie nur möglich durch die Wohnung und legte ihr Ohr an die Tür. Da war jemand draußen auf dem Flur. Ihre Handflächen wurden feucht und ihr Herz schlug heftiger. Schritte. Hastig verriegelte sie die drei Türschlösser. Die Schritte kamen näher, jemand stieg die Treppe rauf.

Ihre Knie begannen zu zittern. Um durch den Spion sehen zu können, musste sie sich ein wenig auf die Zehenspitzen stellen. Aber sie konnte niemanden entdecken. Schließlich hörte sie über ihren hämmernden Herzschlag hinweg, wie eine Tür aufgeschlossen wurde, die dann gleich darauf zufiel. Sie atmete auf.

Nur ein Hausbewohner.

Sie rieb die Handflächen an ihrem langen T-Shirt ab und ging anschließend in die Küche, um die Kaffeemaschine anzuschalten. Dabei versuchte sie, die leere Stelle an der Wand zu ignorieren, an der sonst eigentlich ein Abreißkalender hing. Schnell drehte sie sich um und ging ins Bad, duschte, wusch die Haare, föhnte sie, nahm das grüne T-Shirt mit dem Supercash-Aufdruck über der linken Brust vom Haufen mit den frisch gewaschenen Sachen, zog eine weiße Hose darunter, trank eine Tasse Kaffee und verließ schließlich das Apartment. Sie war bereits ein paar Stufen nach unten gelaufen, als sie noch mal zurückging und sich vergewisserte, dass sie alle Schlösser auch tatsächlich zweimal zugeschlossen hatte.

Die Morgensonne schien noch nicht zu stark, der Himmel war blau, es roch nach Salzwasser und nur ein bisschen nach Autoabgasen. So mochte sie Sydney. Und ja, es war ein perfekter Tag. Und deshalb behielt sie heute ganz besonders die Leute im Auge, die hinter ihr an der Bushaltestelle standen, setzte sich im Bus auf den Gangplatz direkt gegenüber der Tür und warf, als sie ausstieg, immer wieder einen Blick über die Schulter. Aber da war niemand. Niemand, der ihr folgte, niemand, der sie beobachtete. Bloß Fahrgäste, die jeden Morgen denselben Bus nahmen wie sie.

Vierzig Minuten später stieg sie aus und sah bereits das große Schaufenster von Supercash in der Morgensonne aufblitzen. Lisa, die Chefin, sah sie kommen und schloss ihr die Tür auf. Sara sah aufihre Uhr. Noch zehn Minuten bis zur Geschäftsöffnung.

»Hi, Sara!«, grüßte Lisa, während sie die Tür wieder zuschloss und dann mit schnellen Schritten quer durch den Gang mit den Kühlfächern in Richtung Aufenthaltsraum lief. Sara folgte ihr.

»Macht mal ein bisschen Druck, Jungs, Überstunden werden hier nicht bezahlt!«, rief Lisa im Vorbeigehen den beiden zu, die gerade dabei waren, die Artikel mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum aus den Kühlfächern herauszusortieren. Sara warf ihnen nur einen flüchtigen Blick zu. So hatte sie auch bei Supercash angefangen, dachte sie. Ein Gelegenheitsjob, für den sie dankbar war.

»Alles okay bei dir?«, erkundigte sich Lisa und hielt ihr die Tür zum Aufenthaltsraum auf.

»Ja, klar«, antwortete sie und verstaute Tasche und Jacke in ihrem Spind.

»Du siehst irgendwie blass aus. Ärger gehabt mit deinem Freund?« Lisa musterte sie mit ihren asiatisch geschnittenen Augen.

Sara schüttelte den Kopf. »Nein, wirklich, alles okay.«

»Wenn du Probleme hast, sag’s mir. Im Vorfeld kann man oft Dinge viel leichter klären, als wenn es dann zu spät dafür ist.«

Sara nickte und nahm die Kassenschublade entgegen, die mit exakt hundert Dollar in verschiedenen Scheinen und Münzen gefüllt war. Alle waren so nett zu ihr ...

»Kasse drei«, sagte Lisa noch.

Sara nickte kurz, versuchte ein kleines Lächeln und lief dann durch die Regalreihen des Supermarkts. Als sie im Kassenbereich ankam, konnte sie sehen, dass Hal heute direkt neben ihr arbeitete. Er zwinkerte ihr zu, während sie zu ihrer Kasse ging.

»Hi, Sara!« Er strahlte über das ganze Gesicht und Sara konnte förmlich spüren, wie sich sein Blick an ihr festsaugte.

Sara hob nur kurz den Kopf und schenkte ihm ein stummes Nicken. Hal war zwar auch nett, aber sie mochte ihn trotzdem nicht. Natürlich konnte er nichts für seine Akne, aber er hatte etwas Klebriges, Aufdringliches an sich. Doch was sie am meisten an ihm störte, war, dass er ihr immer zu nahe kam.

Sara beeilte sich, die Geldschublade in die Kasse zu schieben, und versuchte dabei krampfhaft, das Datum auf der Kassenrolle zu ignorieren. Trotzdem ätzte es sich in ihr Hirn. 18. April hämmerte es in ihrem Kopf. Es hatte nichts geholfen, dass sie zu Hause den Kalender von der Wand genommen hatte.

Die nächsten drei Stunden arbeitete sie ohne Pause. Es war Freitag und die Leute kauften fürs Wochenende ein. Würstchen, Fleisch zum Grillen, Chips, Tiefkühlkost, fertig gebratene Hähnchen. Sie stellte sich vor, wie Familien und Freunde in ihren Gärten zusammensaßen, Musik hörten, Bier tranken und lachten. Früher hatten sie auch gegrillt. Früher, als sie noch eine normale Familie gewesen waren. Früher, als sie noch ihre alten Freunde hatte, als die Angst noch nicht ein ständiger Begleiter in ihrem Leben gewesen war, als ...

»Schätzchen, also das kann ja wohl nicht stimmen! Ich hab nur eine Packung Eiscreme! Und was steht hier?« Plötzlich war der rot geschminkte Mund mit den Knitterfalten ganz nah und ein knochiger Finger zeigte auf den Kassenzettel. »Achtzehn Dollar!« Die Stimme der Frau überschlug sich fast.

Saras Augen waren auf den Kassenbon gerichtet, und ohne weiter auf die Sehimpftirade der Kundin zu achten, starrte sie auf die Zahl, die dort stand.

18 ... schon wieder ...

»Also, Schätzchen, jetzt aber mal flott!«

»Ich storniere die zweite Packung«, sagte Sara schnell und klingelte nach ihrer Chefin.

»Das will ich hoffen!«

Sara betrachtete die gepflegte, sorgfältig frisierte blonde Frau und musste an Ambers Mutter denken. Und je länger sie sie betrachtete, umso mehr Ähnlichkeiten entdeckte sie, bis sie auf einmal gar nicht mehr sicher war, ob es nicht wirklich Ambers Mutter war ... Aber die lebte in Brisbane – wieso sollte sie also plötzlich in Sydney sein?

»Was starren Sie so?« Die Frau funkelte sie aus grauen Augen an. »Stimmt was nicht?«

In diesem Moment kam zum Glück Lisa und strahlte die Kundin freundlich an. »Ein Storno, das haben wir gleich.« Sara war erleichtert.

Die Frau strafte Sara mit einem abfälligen Blick. Ganz schnell zog Sara ihre Mundwinkel nach oben, doch ihr Lächeln schien wohl mehr wie eine Grimasse zu wirken, denn jetzt starrte die Kundin sie ungläubig an. Blöde Kuh, dachte Sara und kramte einen Packen Plastiktüten unter der Kasse heivor, um beschäftigt zu sein.

»Geh doch schon in die Pause«, sagte Lisa, nachdem sie die Kundin abkassiert hatte. »Ist wirklich alles okay?«

»Jaja«, Sara nickte rasch, »kann ich lieber früher gehen?«

»Es ist Freitag – aber na gut, zwanzig Minuten.«

Sara nahm wieder ihren Platz hinter der Kasse ein. Pausen brauchte sie keine. Sie hatte selten Appetit. Oft kam es ihr vor, als hätte sie all die Sachen, die sie im Laufe einer Schicht am Scanner vorbeizog, auch gegessen. Stephen verdarb es die Laune, wenn sie abends mit ihm nichts essen wollte. Deshalb zwang sie sich manchmal zum Essen. Und ging dann rasch aufs Klo. Früher ... früher hatte keine Portion für sie groß genug sein können.

Die nächsten Stunden vergingen ohne Zwischenfälle. Sara nahm die Waren vom Laufband, hielt sie mit dem Barcode an den Scanner, packte sie in die Plastiktüten und kassierte. Sie war gut, jeder Handgriff saß. Das gefiel ihr an der Arbeit: das Automatisierte. Je weniger sie dachte, umso reibungsloser funktionierte sie, umso schneller wurden die Kunden abgefertigt, umso kürzer wurde die Schlange – umso mehr Kunden wählten ihre Kasse – umso mehr Arbeit hatte sie.

Hal hatte mal gesagt, sie sei wie ein Hamster, der in seinem Laufrad immer schneller wird. Sie hatte müde gelächelt und ihm nicht gesagt, dass der Hamster das tat, weil er vielleicht auch etwas dabei vergessen wollte. Dass er im Käfig eingesperrt war, zum Beispiel. Oder dass er Angst hatte ... vor ... brutalen Kinderhänden ...

»Vierunddreißig Dollar fünfzig, bitte. – Danke. Schönes Wochenende! – Hallo – Dreizehn Dollar zwanzig, bitte – Danke. AufWiedersehen, schönes Wochenende ... Hallo ...« Ketchup, Milch, Kaugummi, Tiefkühlpizza, Erdbeereis. Sie packte Eis, Pizza und Milch in eine Tüte, den Rest in eine andere. Vorschriftsmäßig. »Das sind dann vierzehn Dollar sechzig.«

»Du machst’s aber billig, Puppe!«

Sara erstarrte. Die Geräusche drangen plötzlich wie durch dicke Watte an ihr Ohr. Alles um sie herum verschwamm, versank in einem schmutzigen Grau, nur sein Gesicht war da, sein Gesicht ...

»He, was ist? Was glotzt du so?«

Irgendwo in ihr legte sich ein Schalter um und stellte ihr den Strom ab.

Puppenrache

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