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Kapitel 2 – Mein Geburtsort

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Auch mein mittelbares Umfeld wies zum Zeitpunkt meiner Geburt noch eine gewisse anheimelnde Wärme auf.

Die Stadt Calbe an der Saale, am linken Ufer des im Namen befindlichen Flusses, war zu jenem Zeitpunkt noch nicht durch das zerstörerische Treiben auf den europäischen Kontinent betroffen. Auch war sie, anders als die filmischen Aufnahmen, die heutzutage mit Vorliebe im spätabendlichen Programm der einzelnen Fernsehstationen gezeigt werden, vermuten lassen würden, alles andere als pures Schwarz und Grau.

Schon damals, das möchte ich vor allem den jüngeren Lesern gern einmal sagen, kannten die Menschen Farben und zeigten sich auch für Gewöhnlich in deren Natürlichkeit.

In jenen Tagen hatte meine Heimatstadt, deren erste urkundliche Erwähnung niemand Geringerem als dem Kaiser Otto I. zugeschrieben wird, noch den Status der Kreisstadt und des Verwaltungssitzes des preußischen Kreises Calbe an der Saale inne, den die Stadt erst oder aus Sicht der Calbenser schon 1950 verlor.

Sicherlich vermochte Calbe seinen Einwohnern nicht gerade den kulturellen oder gesellschaftlichen Glanz zu schenken, den andere Städte der damaligen Zeit, wie etwas Berlin oder Hamburg, mit sich brachten.

Aber für uns Calbenser, zu denen ich mich jetzt zählen durfte, war es erst einmal ein wunderschönes Fleckchen Erde, das uns Heimat und Zuhause bot.

Und außerdem, vielleicht hatte Berlin den Glamour der vergangenen Jahrzehnte und Hamburg einen Hafen, der nicht zu Unrecht schon damals die Bezeichnung „Tor zur Welt“ trug, aber Calbe hatte die Bollen.

So nannten die Calbenser liebevoll die Zwiebeln die bereits seit dem sechzehnten Jahrhundert auf dem sehr guten Ackerboden in und um Calbe herum angepflanzt wurden und die in die verschiedensten lokalen und regionalen Rezepte Einzug gefunden haben. Nicht etwa nur der calbenser Zwiebelkuchen ist weit über die Stadtgrenzen bekannt.

Berühmt ist vor allem die Bollenwurst, eine Wurst, der nicht Calbenser oftmals das Recht, das Gemisch als Wurst benennen zu dürfen, absprechen. Ein Gemisch, das zu einem Großteil aus Zwiebeln, Fett und verschiedenen Gewürzen besteht, und das als natürlicher Brotaufstrich jede Schokoladencreme vom Frühstückstisch verdrängen kann.

Zumindest bin ich zu dieser festen Überzeugung gelangt.

Unter den Menschen mit Weitblick, also solchen, die sich ein Teleskop oder ähnliches Material zur Beobachtung unserer Galaxie leisten können, könnte die Stadt im Herzen des heutigen Sachsen-Anhalts auch deshalb an Bekanntheit gewonnen haben, weil sie Pate für die Benennung eines Marskraters war. Ein Schelm, der Böses dabei denkt, denn Calbe hat bei Weitem den Durchmesser oben benannten Kraters überschritten.

Und Calbe hatte noch mehr zu bieten. Vor allem Kindern, die bereit waren, ihre Umgebung, wenn es sein musste, und damals musste es sein, zu Fuß zu erkunden. Kinder, die bereit waren, Fantasie selbst zum Leben zu erwecken, ohne darauf zu warten, dass irgendeine Flimmerkiste ihnen ihr Leben vorlebt.

Ein Ort, der mir ohne langes Überlegen sofort in den Sinn kommt, ist dabei der Hexenturm, ein Wachturm, der auch als Gefängnisturm für Schwerverbrecher genutzt wurde, der früheren Stadtbefestigung, der seinen Namen der grauenvollen Gegebenheit verdanken soll, dass vor Ort angebliche Hexen nach ihrer Denunzierung, durch Verbrennung den Tod fanden.

Eine ähnliche Anziehungskraft entfaltete auf uns Kinder und auf mich ganz besonders, die Gegend rund um den Calbenser Wartenberg. Die Erhöhung, die sich dort aus dem Boden herausgearbeitet hat, unweit der Kiesgruben und ringsum von Äckern umgeben, bot uns Kindern im Winter eine hervorragende Gelegenheit unsere motorischen Fähigkeiten beim Schlittenfahren, Rodeln oder, ab einem gewissen Voranschreiten des Könnens, auch beim Skifahren, zu verfeinern.

Der Turm, der auf dem Wartenberg thronte oder vielmehr dessen Zinnen, sollte zu einem späteren Zeitpunkt beinahe zur Auslöschung meiner zukünftigen familiären Linie führen.

Denn zu einer der kindheitlichen Mutproben, zu denen man sich in Naivität, Leichtsinn und dem Gefühl von partieller Unsterblichkeit hinreißen ließ, gehörte ein Balanceakt auf eben diesen Zinnen.

Wie man sich beim Lesen dieser Zeilen sicherlich denken kann, ist diese Mutprobe durchaus ohne gesundheitliche Folgen für mich abgelaufen.

Und so prägte mich die Stadt, in der mein erster Schrei erhallten ähnlich stark, wie die Familie, deren Mitglied ich durch den Zeitpunkt meiner Geburt war.

Der Kohlenklau

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