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PALEOCHORA I

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Griechenland, Kreta, April 2017 - Warten auf die Abfahrt

Erneut ein Ortswechsel auf dieser kurzen Reise. Verlasse das Hotel viel zu früh und fluchtartig, nach zwei nahezu schlaflosen Nächten. Hätte bleiben können, niemand zwang mich abzureisen, nur die innere Unruhe, durch jede Störung von außen potenziert.

Zum kleinen Hafen von Paleochora, namentlich der „Alte Ort“, im äußersten Südwesten Kretas, waren es vom Hotel aus nicht mehr als zehn Minuten Fußweg. Dort legte die Fähre nach Loutro ab.

Bald nach dem Sonnenaufgang gepackt, am Abend davor bezahlt, den Schlüssel wie verabredet im Schloss stecken lassen, die Tür blieb angelehnt.

Den schmalen Pfad die Felsküste entlang, poltert mein Rollkoffer über den aufgeplatzten Asphalt. Davon aufgeschreckt eine magere Katze, springt auf die hüfthohe Sandsteinmauer die an das Meer grenzt, verschwindet in einem Spalt zwischen Felsbrocken. Beim Vorübergehen sehe ich einen kreisrunden Spiegel der leuchtet, im Augenhintergrund, eine an die Dämmerung adaptierte Schicht, Tapetum lucidum, verstärkt geringes Licht.

Es war nicht mehr weit zum Hafen. Der Nebel begann sich zu lichten, am Horizont über dem Meer stieg die Sonne unter den Schwaden milchiger Wolken auf, kühl ist es, in dieser frühen Aprilwoche.

Noch liegt eine erholsame Stille über dieser kleinen Hafenstadt. Halte kurz inne, atme tief durch. Nur schwer gelingt es mir, diese mediterrane Poesie aufzunehmen, von außen auf mich gesehen, ein fest geschnürtes Paket Trauer.

Von weitem sehe ich die Anlegestelle der Fähren, durch eine akkurat geschnittene Landzunge aus Beton erweitert, vielleicht fünf Meter breit, ragt sie einen halben Kilometer weit in das Lybische Meer hinein, der Platz davor für parkende Autos reserviert.

Dem Kai entlang Hunde, ein ungleiches Paar, schnüffeln gehetzt die Markierungen ihrer Artgenossen ab, heben nur kurz den Kopf als ich mich nähere. Promenadenmischungen, der eine kurzbeinig und stämmig, gerupftes schwarzbraun geflecktes Fell, kurze steife Ohren, zum Rücken hin gekrümmte Rute. Der andere fuchsrot, langbeinig, weich-gelenkig sein Gang, beim Schnüffeln flappen ihm die Ohren um die Augen.

Bleibe nahe der Anlegestelle stehen, viel zu früh angekommen. Ein kleiner schwarzbraun gebeizter Holzskipper wummert gedämmt durch Autoreifen gegen den Kai, keine anderen Boote.

Die Fahrt soll gut drei Stunden dauern, über Agia Roumeli nach Loutro. Ein kleines Fischerdorf. Eines von zahlreichen Ortschaften, die im Südwesten Kretas den Inselrand säumen, benannt nach einem der vielen antiken Bäder, deren Überreste hier gefunden wurden.

In dieser frühen Saison legte die Fähre nur einmal morgens ab, kehrte abends zurück und ankerte über Nacht im großen Hafen am anderen Ende dieser Halbinsel Paleochora.

Trübsinnig, dieser menschenleere Platz, das Meer in der Bucht nahezu geräuschlos. Fügt sich zu meiner matten Teilnahmslosigkeit. Von nichts anderem als der Trauer berührt … hier auch nicht anders als zu Hause in Berlin.

Denn wesentlich und unabänderlich war der Verlust des Menschen meines Lebens … nicht zu ändern war die Zeitenwende, nach der ich mich in meiner Verlustwelt neu verankern musste.

Diese berühmte Glasglocke hatte sich über mich gesenkt, unter der die Protagonistin des gleichnamigen Romans von Sylvia Plath in ihrer Depression hermetisch abgeschlossen war.

Richte den Oberkörper auf, wende mich um, blicke auf das Ambiente hinter mir. Ein Panorama dicht nebeneinanderstehender Hafencafés, davor Lieferwagen. Händler ziehen hastig Ware von den Ladeflächen. Sonst kaum jemand unterwegs. Leerer Magen, Kaffeedurst. Nicht weit entfernt scheint soeben ein Café zu öffnen.


Schild am Hafencafé

Café Porto Kofrá

Der Schriftzug auf dem Metallschild über dem Eingang frisch lackiert, während der Wintermonate durch die salzigen Winde vom Meer her verwittert. Auf dem Schild grob skizziert ein Oktopus, ockerfarben. Geschlitzte schwarze Augen stieren auf den Betrachter. Zylinderförmig die Körperhaube, daraus acht Tentakel, umranken die Buchstaben. Irrend die Fangarme, dutzende kleine weiße Kreise markieren Saugnäpfe.

Auf der Terrasse eine Frau um die Dreißig, ordnet Tische und Stühle. “Jassu!”, rufe ich und, suggestiv, “I guess it’s too early to sit down here.”

Sie wischt sich mit dem Handrücken eine Strähne kräftiger brauner Locken aus dem Gesicht, winkt mich nachdrücklich heran, deutet auf den Tisch vor sich, soeben geordnet.

Vom Sitz aus habe ich die Anlegestelle der Fähren im Blick, seitlich gedreht die Eingangstür zum Innencafé. Davor hantiert sie inzwischen an Tischen und Stühlen.

Fokussiere wieder mein Ziel, die Überfahrt nach Loutro. Ziehe einen Prospekt aus der Tasche, die Abfahrtszeiten der Fähre, auf der Rückseite ihre Routen, daneben auf dem Tisch abgelegt mein Smartphone.

Erst kurz nach sieben Uhr, nur 14 Grad Celsius auf dem Display, immer noch zu kühl. Ziehe meine Jacke enger, das Halstuch fest um den Hals. Die Fähre würde erst um neun Uhr auslaufen. Stelle mich auf langes Warten ein.

Gleich bringt mir die Angestellte eine Tasse Kaffee an den Tisch, soeben aufgebrüht. Zwinkert mit einem Auge, ich sähe so aus, als könnte ich ihn gebrauchen.

Kaum kann ich mich bedanken, dreht sie ab, peilt den Eingang zum Innencafé an, rückt beiläufig den einen oder anderen Stuhl gerade.

Direkt vor dem Eingang an der Wand ein Stehtisch, davor ein Barhocker. Zu hoch für ihre Körpergröße, hievt sie sich umständlich nach oben, der kurze Rock rutscht über die Schenkel höher. Um Halt bemüht, klemmt sie die hohen Absätze ihrer Schnürsandalen hinter die Sprossen des Hockers - sind vermutlich viel zu unbequem für diese Arbeit. Sie zündet sich eine Zigarette an, bläst den Rauch himmelwärts. Lässig an die Wand gelehnt, sieht sie den Schwaden nach, die sich verziehen.

“The coffee tastes good!”, rufe ich nach hinten, sie dankt und fragt: “Where are you from, and where are you going to that early in the morning?”

Aus Berlin käme ich, nähme die Fähre nach Loutro. „Ha!“ Lacht auf, „da müsste ich aber noch etwas warten…“ und ergänzt: „Berlin! Would love to visit, but…“ Schultern zucken, fatalistisch wie mir scheint. Dieser Berlinhype, seit Jahren weltweit. Wie lange wird er noch anhalten…

Sie sei aus Athen, hatte dort Literatur studiert, trotz endloser Suche keine Arbeit gefunden. Mundwinkel nach unten gezogen, bitter ihr Lächeln. Nur hier auf der Insel Kreta, fährt sie fort, sei in der Gastronomie genug zu tun, vor allem während der Saison. Kreta sei reicher als alle anderen Regionen Griechenlands.

Wir plaudern schon eine Weile, als eine Frau mittleren Alters die Terrasse betritt, den Eingang zum Innencafé anpeilt. In der einen Hand eine Plastiktüte gefüllt mit Backwaren, unter dem anderen Arm geklemmt ein Bündel Papiere.

Grau meliertes schwarzes Haar, am Hinterkopf zu einem Dutt gesteckt, griechisch antik, wieder modern. Ihr Gesicht aus der Ferne schemenhaft, eine markante Nase. Das eng geschnittene Kleid reicht knapp unter die Knie. Schwarz oder dunkelblau, bedruckt mit kleinen weißen Motiven, vielleicht Möwen, vielleicht Schwäne. Auf den offenen Sandalen blinken schwarze Pailletten, zu elegant für handwerkliches Arbeiten. Vermutlich war sie die Besitzerin dieses Cafés, das an prominenter Stelle am Hafen bestimmt gute Geschäfte machte.

Ein knapper Gruß, argwöhnisch erst auf mich, dann auf die Athenerin geblickt, die ungerührt auf dem Barhocker sitzt, an die Wand gelehnt raucht. Bald rutscht diese dann gemächlich vom Hocker, zieht ihren Rock über die Schenkel tiefer, greift Zigarettenschachtel nebst Feuerzeug, zwinkert schief lächelnd zu mir herüber und folgt, etwas träge, ihrer vermutlichen Chefin in das Café.

Kurz darauf schleppt sie beschwerlich eine Schiefertafel am hohen Stativ auf die Terrasse. In Kreide aufgelistet Getränke und Speisen, das Angebot des Tages, womit das Café offiziell geöffnet war.

Versinke wieder in die Betrachtung des Hafens, immer die Anlegestelle der Fähre im Blick, darüber hinaus das Meer.

Ein Auto fährt mit Tempo die Straße entlang, entschleunigt, rollt rechtsseitig auf den betonierten Platz am Kai. Ein Mann springt heraus, wirft seine glühende Zigarettenkippe auf den Boden, tritt sie mit rotierender Fußspitze aus. Er peilt eine kleine Bäckerei an, nicht weit entfernt in meinem Blickfeld, eilt über die Straße, drückt schwungvoll die gläserne Tür auf, verschwindet.

Bald steht die Athenerin wieder an meinem Tisch, lächelt, ironisch wie mir scheint, fragt, was ich bestellen möchte, vermutlich von ihrer Chefin angehalten. Eine weitere Tasse Kaffee, ein Glas Wasser, ein Croissant.

Kurz darauf serviert sie mir das Bestellte, stellt einen kleinen weißen Porzellanteller daneben, nebst Rechnung, ein Keks aus fettem Mürbeteig.

Noch immer erst acht Uhr. In dem einen Moment von Unruhe getrieben, im anderen lethargisch, orientierungslos und übermüdet. Die letzten beiden Nächte im Hotel waren nahezu schlaflos. Mein ohnehin leichter Schlaf durch die grelle Beleuchtung zerschlagen, die sich nicht abschalten ließ, qualvoll.

Der Kaffee schwarz und bitter, das Croissant warm und fettig, frisch aufgebacken scheint es mir, ebenso wie der Keks, vermutlich von der Chefin aus jener Bäckerei mitgebracht, in die davor der Autofahrer verschwunden war.

Nippe am Kaffee, reiße ein Stück vom zähen Croissant ab, papieren, Industriemehl, für den Massenkonsum gefertigt. Der Holzstuhl wird zunehmend unbequem, der Rollkoffer unter dem Tisch nimmt mir die Beinfreiheit.

Bin Statistin auf dieser Reise, die inzwischen planlos verläuft … nicht Akteurin … eher ferngesteuert … von einer übergeordneten Zentrale dirigiert, die mir das Funktionieren befiehlt.

Wobei ich in Berlin doch einen Plan hatte. Wobei, ein Plan… War diese Reise doch eine ad hoc Entscheidung, war sie der Versuch, der Lähmung zu entkommen … der Lähmung, nicht der Trauer … meiner letzten Bindung an sie…

Sechzehn Grad. Der Nebel hatte sich gelichtet. Der Himmel bleigrau, darunter das Meer in Anthrazit, unruhiger geworden. Eine salzige Brise weht heran, ich atme tief durch.

Der Geruch bahnt sich einen Weg durch mein Gedächtnis, mich streift eine Erinnerung. War schon einmal hier im Südwesten Kretas. Mussten mehr als dreißig Jahre her sein, damals Ende zwanzig. Erinnere, dass ich auf Klippen am Meer saß, vielleicht sogar hier in der Nähe. Las Hölderlins „Hyperion oder der Eremit in Griechenland“. Saß dort versunken in seine Poesie, mit romantischem Liebeskummer, fasziniert von seiner Leidenschaft für Griechenland. Später lernte ich, dass er sie ausschließlich aus der Literatur rekonstruierte, Hölderlin war nie hier am Ort.

‚Zephyr’ … der Frühlingsbote, die Windgottheit aus der griechischen Mythologie. Dieser Name blieb mir seit jener Zeit im Gedächtnis, hatte damals die Zeilen aus „Hyperion an Diotima“ in mein Tagebuch geschrieben: „Aber sie werden mich wohl in die Meeresflut werfen, und ich seh es gerne, wenn der Rest von mir da untersinkt, wo die Quellen all und die Ströme, die ich liebte, sich versammeln, und wo die Wetterwolke aufsteigt, und die Berge tränkt und die Tale, die ich liebte. Und wir? O Diotima! Diotima! wann sehn wir uns wieder?“

Hyperion… steht immer noch zu Hause in meinem Bücherregal. Abgegriffen, beschädigt, einmal war es ins Meerwasser gefallen.

Zurück zu den Gedanken an die Fahrt über das Meer, nach Loutro, den Ort der laut Beschreibung Ruhe und Kontemplation versprach. Nur mit kleiner Sorge um die Unterkunft, die ich noch finden müsste.

Nehme den Prospekt vom Tisch, entfalte ihn, fahre mit dem Zeigefinger die bogenförmigen Strichlinien der Fähre entlang, zu den drei nächstgelegenen Orten am Meer.

Der erste Bogen öffnet und schließt sich mit der Route nach Sougia, der zweite bei Agia Roumelis. Dort Zwischenstation, eine Stunde warten. Dann noch ein Bogen, der die letzte Route nach Loutro vorzeichnet. Die ersten beiden Orte waren auf dem Landweg zu erreichen. Nur Loutro war autofrei, der perfekte Zielort.

Es soll ein besonders schönes Dorf sein, urtümlicher Baustil, die Häuser meist einstöckig, weißgekalkt. Fensterrahmen und Türen in tiefem mediterranen blau, typisch für die Kykladen.

Inzwischen wird es rund um den Hafen geschäftig. Angestellte der umliegenden Cafés sprengen mit Wasserschläuchen den Touristenmüll der letzten Nacht vor ihren Türen weg, stellen Tische und Stühle nach draußen, legen Gedecke für die frühen Gäste auf.

Wenige Tische von mir entfernt lassen sich Rucksacktouristen nieder. Zwei Frauen, zwei Männer, Mitte vierzig. Lassen ihre aufgetürmten Rucksäcke langsam von den Schultern gleiten, neben sich auf den Boden sinken, einer winkt gleich ungeduldig die Athenerin herbei.

Diese notiert eifrig deren Bestellungen, meine Zweisamkeit mit ihr nun endgültig passé. Bald würde der Trubel hier richtig losgehen, dann war ich hoffentlich schon auf See.

Bekanntlich weckt jeder Abschied Wehmut, ein Widerspruch, einerseits, den Ort ungeduldig verlassen zu wollen, andererseits gleich zu bedauern, nicht genug davon gesehen zu haben.

Jedenfalls nahm ich während der beiden letzten Tage immer den gleichen Pfad, vom Hotel zum Strand und zurück, barfuß den Wassersaum entlang, zeitvergessen auf und ab, war ich stundenlang den eigenen Fußspuren gefolgt … nur einmal, zweckgebunden, durchquerte ich die Geschäftsmeile der kleinen Altstadt, zwängte mich durch den engen Touristenstrom, bereits so früh in der Saison.

Doch, fast vergessen, eine Impression von Ort und Menschen bekam ich gleich am ersten Abend. Unentschlossen stand ich in der Dämmerung vor dem Ausgang des Hotels. Eng an mir vorbei, zog ein Strom von Menschen. Sah sie den nahen Felsen ansteuern, der sich rechtsseitig massiv aufbaute. Ich folgte.

Auf grob in den Felsen hineingeschlagene Stufen, gut einhundert Meter hoch, ergoss sich der Strom auf einem breiten Plateau. Darauf ein Restaurant, das genau an diesem Abend mit Fanfaren eröffnete.

Über eine hüfthohe Brüstung hinweg blickte ich auf die neonweiße Sonne im Westen, erst noch von Schleierwolken bedeckt, bald im Abendrot geklärt, versank sie zinnoberrot bis gelb-orange am Horizont im Meer. Unter mir lag die gesamte Halbinsel Paleochora, von Lichterketten punktiert … darauf folgte die erste schlaflose Nacht im Hotel.

Hier im Café Porto Kofrá nimmt die Anzahl der Gäste zu. Den Rucksacktouristen waren zwei einheimische Männer gefolgt, schwer auf knorrigen Holzstöcken gestützt. Unter Fischermannsmützen wettergegerbte Gesichter, erloschene Zigarrenstummel im Mundwinkel. Setzen sich an einen Tisch an der Wand, vermutlich für Stammgäste reserviert, unweit des Barhockers, vom dem nicht lange davor noch die Athenerin gerutscht war, fatalistisch ihrem falsch verlaufenden Schicksal ergeben, wie mir schien.

Terry, der Brite

Inzwischen kurz vor neun Uhr. Zeitvergessen in meiner Verlustwelt gefangen, nahm ich weniger wahr als ich sollte. Denn bald erfuhr ich, umsonst gewartet zu haben. Die Fähre würde weder ankommen, noch auslaufen.

Aber erst noch nähert sich mir ein betagter Mann. Terry, der an der Anlegestelle vorbeieilte, auf mich zusteuerte. Wir hatten uns im Hotel kennengelernt, in dem er mit seiner Schwester logierte. Dort riet er mir die Fähre nach Loutro zu nehmen. Offensichtlich trieb ihn nun die Neugierde so früh am Morgen hier her.

„Glad to find you!“, ruft er von weitem. Näher gekommen sondiert er durch die Sonnenbrille meinen Blick. Fragt aufgekratzt: „So, you really take the Ferry to Loutro?“ und ergänzt, ohne eine Antwort abzuwarten, wie sehr ihn das freute. Greift nach dem zweiten Stuhl am Tisch zieht ihn ungefragt heran, setzt sich.

Mich wundert seine Fürsorge, so nahe waren wir uns schließlich nicht gekommen. Nehme die Sonnenbrille ab, frage leise mehr mich selbst als ihn, weshalb die Fähre immer noch nicht in Sicht war.

Im Stuhl zurückgelehnt, die Hände am Hinterkopf verschränkt den Nacken gestützt, blickt er gelassen zur Anlegestelle, darüber hinaus auf das Meer, murmelt ebenso halblaut vor sich hin: „The sea is too stormy, I guess the ferry will not arrive at all…“ Da war ich überrascht. Eben noch nahm er regen Anteil an meinem Entschluss weiterzureisen. Nun jedoch schien ihm nichts selbstverständlicher, als dass ich nicht wegkam…

Sehe prüfend auf das Meer, keine stürmischen Wellen, die dichten Wolken hatten sich verzogen, die Sonne war höher gestiegen, der Himmel in einem milden Blau. Auch die Touristen am Nebentisch schienen zur Überfahrt bereit. Zudem stand die Tür der Reiseagentur in der gegenüberliegenden Gasse noch auf. Dem Aushang zufolge schloss sie gleich nachdem die Morgenfähre abgefahren war, öffnete erst wieder am Abend. Woher also seine Prognose? Wollte es klären, frage ihn, ob er auf mein Gepäck achtet. „Of course!“, springt auf, beugt dienerisch den Kopf.

Hager, dieser feingliedrige weißbärtige Brite von achtzig Jahren. Dünnes silbriges Haar, ordentlich zur Seite gescheitelt. Die pergamentene Haut durchscheinend, kaum gebräunt, obwohl wochenlang auf dieser Insel. „Leptosom“, nach dem Sinnbild der alt-griechischen Lehre der Körperformen, der Physiognomie. Nicht gedrungen, wie die griechischen Männer seines Alters, „pyknisch“, nach dem gleichen Sinnbild.

Wir trafen uns zufällig, gleich nach meiner Ankunft im Hotel, er stand im Durchgang, direkt vor seinem Apartment und deutete, entgegen seinem durchscheinenden Wesen etwas hitzig, ohne sich vorzustellen auf den Mauersaum gegenüber, auf die Geranien und die Kapuzinerkresse in den Keramiktöpfen. Wie hübsch sie seien, während ihm die säuberlich in einer Phalanx stehenden Lilien gleich am Eingang, nicht gefielen.

Er könne es beurteilen, sein Leben lang Gärtner gewesen, erst mit siebzig Jahren Anstellungen in privaten Haushalten aufgegeben. In der Jugend noch Gartenarchitektur studiert, das Studium bald abgebrochen, da „…a more practical type…“

Am ersten Morgen nach meiner Ankunft, saß er mit seiner ebenso betagten Schwester an einem schmalen Holztisch vor ihrem Apartment beim Frühstück. Seit Jahren verreisten sie zusammen, erfuhr ich später, das Alter habe sie wieder zusammengebracht.

Ich war auf dem Weg zum Strand, war mürrisch wegen der schlaflosen Nacht. Sie stoppten mit einem munteren Gruß meinen zügigen Vorbeimarsch, wir stellten einander knapp vor.

Erst am späten Nachmittag, beide wieder am Tisch vor ihrem Apartment, tranken Tee, spielten Bridge, hielt ich an, schilderte meine schlaflose Nacht, das grelle Licht, das sich nicht abschalten ließ. Terry ohne Umschweife: „Travel to Loutro! A gorgeous and quiet place!” Seine Schwester mit besorgter Miene, nickte nachdrücklich: „You dear!“ Sie wüsste wovon ich spreche, hatte vor mir in diesem Zimmer genächtigt, war aus dem gleichen Grund umgezogen.

Jetzt sitzt Terry also hier neben mir am Tisch, am Alten Hafen von Paleochora, Sonntagmorgen, kurz vor neun Uhr, und verbreitet schlechte Nachrichten.

Ich will ihm nicht glauben. Überquere nervös die inzwischen hektisch befahrene Straße, peile die Reiseagentur an. Vor dem Eingang stolpere ich fast über einen Wassernapf, daneben eine Schale mit Trockenfutter, eine Katze lugt scheu um die Ecke.

Gleich hinter dem Eingang ein Tisch, darauf eine kleine Schale, darin ein paar Euros, davor ein Schild: „For street cats and dogs, please.“ Ich werfe ein paar Münzen dazu.

Wenige Schritte zur Rezeption, dahinter die Angestellte, sortiert hastig einen Stapel Tickets, hebt kurz ihren schwarzgelockten Kopf, versinkt gleich wieder in ihre Tätigkeit und murmelt mehr in sich hinein als zu mir: „No Ferry today … too stormy … no traffic … not the whole day.“ Sowieso wollte sie gleich schließen.

Ich klage gegen ihren gesenkten Schopf, seit Stunden hier am Hafen gesessen zu haben, von nirgendwo einen Hinweis bekommen, dass die Fähre nicht auslaufen würde… Zugegeben, der irrationale Versuch eine Schuldige zu finden.

Sie hebt den Kopf, sieht mich befremdlich an, entgegnet mir trotzig, sie wäre da gewesen, ich hätte nur kommen müssen und fragen. „But“, setze ich einen weiteren Vorwurf an … woher sollte ich denn wissen … lass ihn fallen: „I get back my money?“

„Sure“ kommt es fast tonlos von unten, zieht vor sich die Schublade auf, greift in die Kasse, erhebt sich, zählt mir über den Schreibtisch gebeugt das Bargeld in die Hand, unser beider Gruß knapp.

Zurück, überquere ich die Straße, weiche einem knatternden Moped aus, sehe hinüber zu Terry, dem die Athenerin soeben einen Pott Kaffee auf den Tisch stellt. Er nickt beflissentlich. Rufe den Rucksacktouristen am Nebentisch zu: „The Ferry is not coming!“ Aus der Gruppe kommt: „We know, we take the bus to Chania.“ Jemand kichert, nicht einmal verhalten.

Terry überaus munter: „See, I knew the Ferry was not coming.“ Höre ich da einen kleinen Triumph? Er murmelt noch etwas über die Unwägbarkeit des Meeres um diese Jahreszeit, während er auf das Meer blickt. Kinn hoch, die Hände wieder am Hinterkopf verschränkt, Beine breit abgestellt, auf dem Stuhl leicht wippend, spekuliert er weiter. Die Reederei hätte in dieser frühen Saison vermutlich den kleinsten Skipper beauftragt … nicht größer als ein Fischerboot, auf dem die wenigen Touristen bei diesem Seegang wohl zweieinhalb Stunden nur speiend über der Reling hingen…

Soeben kommt mir ein Verdacht. Er wusste bereits, dass die Fähre nicht auslaufen würde, hatte mich von weitem beobachtete, wie ich, im falschen Glauben bald abzureisen, unentwegt auf die Anlegestelle blickte, darüber hinaus das Meer absuchte.

Es könnte durchaus sein, spekuliere nun auch ich weiter, dass er sich mit mir ein wenig spielerisch von der monatelangen Zweisamkeit mit seiner Schwester ablenken wollte. Jedenfalls wippt er hier jugendlich auf dem Stuhl hin und her, lässt seinen Blick gelassen über das Meer streifen.

Die Fähre nach Loutro würde also nicht ablegen. Aber nach Chania zurück? Keine Option! War ich doch erst vor zwei Tagen von dort gekommen. Nach diesem misslungenen Projekt.

Der eigentliche Grund, weshalb ich auf dieser griechischen Insel gelandet war: Schreibblockade aufbrechen. Wieder ins Schreiben kommen, das Buchprojekt voranbringen. Die naturwissenschaftliche Arbeit, deren erster Entwurf stand, allein eine publikumsfreundliche Lesbarkeit fehlte.

Rein zweckgebunden also, war ich hier gelandet. Hauptsächlich jedoch davon getrieben, in irgendeinem Neuland navigieren zu lernen.

Erst war es nur ein Impuls, zu Hause in Berlin, an einem kalten wolkenverhangenen Tag im Februar. Navigierte ich mit folgenden Suchwörtern ich Internet: „Hilfe beim Schreiben.“ „Wissenschaft verständlich machen.“ Da schon, hätte ich eine andere Suche eingeben sollen … etwa so: „Verhaltenspsychologin gesucht, die mich beim Schreiben anleitet … um Trauer zu bewältigen…“

Durch die anderen Schlüsselbegriffe jedoch, poppten unzählige Webseiten auf. An einer blieb ich hängen: „Unterstütze kreatives Schreiben! Machen Sie ihre Wissenschaft auch für Laien verständlich!“ Gezeichnet: Lektorin und Autorin. Sitz ihrer Agentur: Tübingen.

Ein Griff zum Hörer. Sie am Apparat, bedauerte gleich, in Kürze abzureisen, mit ihrem Mann für längere Zeit in die Sommerresidenz nach Kreta, erst im Herbst zurück in Deutschland…

Mein Seufzer deutlich, hatte mich gleich an diese Idee fixiert. Sie verstand es, schlug vor, doch einfach zu ihnen zu kommen, eine Woche Kreta. Persönliches Coachen … ohnehin effizienter. Von Berlin aus würden sie abfliegen, einen Tag in der Stadt sein, da könnten wir uns treffen.

In einem Café in Berlin einigten wir uns per Handschlag, vier Wochen später trat ich die Reise an, verließ damit zum ersten Mal für längere Zeit das ‚Trauerhaus’.

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