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TRAUER

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„Meine Kondolenz dem Trauerhaus“, zittrig in modifizierter Sütterlinschrift, eine Postkarte mit gezacktem schwarzem Rand, von unserer Nachbarin, Jahrgang 1920, in den Briefkasten geschoben. Sie kannte uns als Paar seit vierzig Jahren. Damals territoriale Hausmeisterin, mit ihrem Mann im Vorderhaus einen Kohleladen betrieben. Er, rußverschmiertes Gesicht, uns stets grimmig hinterher gesehen, wir waren in keine seiner Kategorien von Frau einordbar. Bereits beim Einzug herrschte sie uns an. Wir, die junge politisierte Frauengang Ende der siebziger Jahre, schleppten ihr die Umzugskisten zu ausgelassen das Treppenhaus hoch. Später, als langjährige Mieterinnen akzeptierte sie uns schließlich, auch unser Verhältnis.

Eine echte „Berliner Pflanze“, der nichts fremd war. Erst zwei Monate davor eine andere Karte von ihr im Briefkasten: „Meinen Glückwunsch dem Hochzeitshaus…“

Inzwischen war mehr als ein Jahr vergangen, immer noch zögerte ich, trotz Plan und Überzeugung, das Hochzeits-/Trauerhaus für längere Zeit zu verlassen. Wer würde sich um ihr Grab kümmern? Berlin im April, kalt und stürmisch. Würden die Rosen den Frühlingsstürmen trotzen, die Rambler, Generous Gardener, von David Austen aus England.

„Fahr weg! Nimm Abstand! Du wirst sehen, nach einem Jahr wird alles besser!“ So beschworen mich die einen, die selbst den Verlust eines nahen Menschen erlebt hatten, andere gaben diese Prognose vom Hören-Sagen weiter.

Zunächst erreichte mich diese Form von Beschwörung nicht. Das änderte sich wenige Wochen nach ihrem ersten Todestag, als ich mich aus der Schockstarre löste, als sich diese berühmte Glasglocke, die mich hermetisch abschloss, ein wenig hob, ein Lüftchen Hoffnung einziehen ließ.

Woher kam diese „Quasi-Regel“, wer hatte sie definiert? Mir fielen spontan zwei Möglichkeiten ein. Eine pragmatische, biologisch begründete. Es könnte sein, dass sich die Hormone, Adrenalin und dessen Derivate, die durch den Schock der Todesnachricht in den Körper ausgeschüttet wurden, sich erst nach einem Jahr abgebaut hatten.

Zu prosaisch. Viel eingängiger wäre, dass nach dem ersten Jahr, jede Saison einmal, mit dem Verlustschmerz durchlebt war, dass die verlorenen gemeinsamen Rituale in jeder Jahreszeit nachempfunden waren.

Die Wege jetzt alleine zu gehen, an die langen Spaziergänge zu denken, durch den Tiergarten, fußläufig von unserer Wohnung. Einst der „Lustpark" für die Berliner Bevölkerung, Ende des 17. Jahrhunderts vom Kurfürst Friedrich III. angelegt, knapp ein halbes Jahrhundert vom Landschaftsplaner Peter Josef Lenné einem englischen Volkspark nachgestaltet.

Zahllose Spaziergänge in den vierzig Jahren. Zu jeder Jahreszeit, synchron mit den Schritten, unser nicht nachlassender Wortfluss, häufig um Ärger abzubauen. Mein Stress in der Wissenschaft, ihrer über die Politik. Immer erst den Ärger besprechen, dann geklärt, die freudigen Ereignisse, die meist widerstandslos mitliefen.

Gemeinsam auf Schrittlänge, im Januar, Februar, März über eine dünne Schneedecke, meist matschig hier oben im Nordosten. Selten durch hohen Schnee.

Im späten April durch die früh blühenden Rhododendronhaine, im südwestlichen Teil des Tiergartens. Durch ein Dickicht von Magenta über tiefrot bis weiß, das unter dichten Laubbäumen wuchert. Es hatte nichts Lichtes, empfand es seit je her bedrückend. Dann der Hochsommer, forschend durch den Rosengarten, uns laut Namen der Zuchten vorgelesen, die Farben verglichen, einander zärtlich die Düfte beschrieben.

Nun waren knapp anderthalb Jahre vergangen, erst, oder schon, und der erste Schock schien überwunden, nur der dumpfe Schmerz hielt an.

Ich hatte mit ihrem Tod die Verortung verloren, mein Koordinatensystem, in dem ich ein Leben lang zu zweit fest verankert war, aus dem Raum gerissen, ich jetzt mit halbem Leben dastand…

Noch konnte ich mir nicht vorstellen, dass dieser Verlustschmerz nachlassen würde, vielleicht schwächer werden … aber nie vergehen … und ich wollte ihn auch halten, denn er verband mich noch direkt mit ihr.

Berlin, 9. September 2015. Sieben Uhr morgens. Das Telefon am Bett schrillt, die Stationsärztin am Apparat. Waren wir nicht bald in der Klinik verabredet? Wollten wir an diesem Morgen nicht die Ergebnisse der Biopsie besprechen? Sie: „Keine gute Nachricht…“ Gefolgt von: „Ihre Partnerin verstorben…“ Im Gehörgang angekommen, nicht verstanden … stumm die Worte einzeln buchstabiert … ihre Bedeutung gesucht … nicht gefunden … es dauerte.

Nur der Körper reagiert sofort … behindert das Denken. Das Herz presst sich zusammen, Windkesselfunktion, im Druckausgleich entspannt es sich mit einem dumpfen Schlag, als knallte es aus dem Brustkorb…

‚Broken heart syndrom’. Gebrochenes Herz. ‚Vernichtungsschmerz’ nach Traumatisierungen, gefolgt von Herzrhythmusstörungen. Kann bis zum Herzinfarkt führen … entgegen der Ansicht am gebrochenen Herzen sterbe man nicht…

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