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In bester Laune duschte er sich, rasierte sich besonders gründlich mit dem vorhandenen Vergrößerungshohlspiegel, diese Fünf-Sterne-Badezimmer sind schon klasse, zog sich frisch an und ließ ein Taxi kommen. Das Studio lag in Sapan Quai, einem weit weniger gehobenen Stadtteil nördlicher Richtung. Dort waren sicher die Mieten günstiger. Seine Stimmung blieb ungebrochen, nachdem der Taxifahrer, welcher sich das angesichts der Hotelbestellung in der Auffahrt nicht getraut und daher erst jetzt den Taxameter eingeschaltet hatte, anfing, über die weite, bei dem Verkehr unpraktikable Strecke zu lamentieren, was sicher zu einem überhöhten Pauschalpreis für den Ausländer führen sollte, obwohl das natürlich nicht erlaubt war. Tom beschwichtigte ihn strahlend mit sauber ausgesprochenen Wohlwollensformeln im Sinne von Es gibt kein Problem, Alles wird gut, Gute Fahrt, gutes Geld, die den Fahrer einerseits in Zuversicht zu hüllen geeignet waren und ihn vor allem insofern einschüchterten, da die seltene Spezies, Thai sprechender Ausländer, den normalen Einheimischen immer wieder in Staunen versetzt und außerdem schon ein Zeichen von überdurchschnittlicher Güte ist. Angesichts Toms selbstbewussten Frohsinns, der dem Fahrer nicht verborgen, obwohl ihm dessen aktueller Anlass unbekannt blieb, tat dies sein übriges, einen abergläubigen Taxifahrer nun in willfährige Pflichterfüllung zu beruhigen. Tom gab ein großzügiges Trinkgeld. Immer gerne, er hatte nie seine eigene Zeit im Taxi vergessen. Der Fahrer zeigte seine Zufriedenheit dem ebenso sichtlich mit persönlichem Edelmut, wie finanziell gesegneten Fahrgast entgegen.

So ähnlich erging es Tom auch bei der Studiobesichtigung.

Der andauernde Herzensglanz seines frühmorgendlichen Erfolges wandelte auch hier die professionellen Schmeicheleien gegenüber dem potentiellen Kunden in echtes Ansehen und Tom hielt sich mit verbindlichen Zusagen zurück, da er sich einerseits nicht einwickeln lassen und die Sache in Ruhe überschlafen wollte und andererseits praktisch sein gesamtes Bewusstsein neuerdings stark von einer romantischen Vorfreude auf die Überraschungen des Abends vereinnahmt wurde. So nahm Tom die vielen technischen Details, die ihm als Vorteil des Studios dargelegt wurden, nicht einmal mit halbem Ohr wahr. Tatsächlich interessierte ihn das nie sonderlich. Das glaubten immer nur die Studiobesitzer, weil sich ein Großteil der Kunden deswegen wichtig machte, auch um nicht eingestehen zu müssen, davon eigentlich nichts zu verstehen, weswegen sie befürchteten, übers Ohr gehauen zu werden.

Vollkommener Quatsch. Der technische Standard reichte meistens aus. Entscheidend war die Zusammenarbeit und die Vibes zwischen ihm und dem Toningenieur. Sie luden ihn zu einem kleinen Jam ein, was sehr geeignet erschien, genau diesen Teil zu etablieren. Vielleicht merkten sie auch, dass Tom im Gedanken nicht so recht bei der Sache war, und versuchten ihn so, etwas auf ihre Seite zu ziehen. Nun war das Zusammenspiel wirklich das richtige, denn Tom konnte seine überaktive Gefühlswelt ausleben und musste nicht reden oder gar Zusagen treffen. Ein wenig delikat war es aber, als er die gut laufende Session so kategorisch abbrach, weil er einfach nicht zu spät ins Hotel kommen wollte und das Bangkoker Verkehrschaos nicht als berechenbar eingestuft werden konnte. Die Rush Hour begann früh und konnte Stunden dauern. Längere Strecken waren da einfach unkalkulierbar. Die Studiobesitzer waren verwundert, dass der entspannte Ausländer nicht weitermachen wollte und nur die mehrfache Versicherung, es stünde noch ein wirklich wichtiger Termin an und es läge wirklich nur daran, konnte seine Gastgeber überzeugen. Zu enthusiastisch wollte er auch nicht wirken, da er ihnen keine unnötigen Hoffnungen machen und sich die Entscheidung vorbehalten wollte. Sein eigenes momentanes Glück geriet dem Studio nicht zum Vorteil, da Tom es noch nie geschafft hatte, seine persönlichen Stimmungen aus dem Geschäft­lichen herauszuhalten, und deshalb wenigstens gelernt hatte, sein eingeschränktes Urteilsvermögen in solchen Fällen ruhen zu lassen. Natürlich konnte er ihnen die Geschichte des Tages nicht auf die Nase binden und was sollte es schon? Er würde sich melden. Das sagte man gerne, um nicht Nein sagen zu müssen. In Asien galt das auch. Tom meinte es ehrlich und würde sich melden. Es war kurz nach halb fünf, als er im Taxi zum Hotel saß. Zeit genug hoffte er. Es war sechs, als er anfing, sich Sorgen über eine verspätete Ankunft zu machen. Er fragte sich, ob er von seinem Mobiltelefon im Hotel anrufen und sich mit dem Zimmer verbinden lassen sollte, wenn er es nicht rechtzeitig schaffen würde. Er war nervös und da schwand die Glückseligkeit leicht dahin. Natürlich würde jeder in Bangkok eine kleine Verspätung verstehen.

Das Problem war bekannt.

Tom war kindisch. Das gehörte zu seiner Stimmung. Er verlor den sogenannten Realitätsbezug und gab sich ganz den wunderbaren Wunschbildern seiner Gefühle hin. Trotzdem funktionierte sein Denken. Er musste sich aber bemühen. Daher entschloss er sich, in den Skytrain umzusteigen, was auch den Taxifahrer erleichterte. Er suchte um diese Tageszeit lieber kurze Fahrten, anstatt im Stau zu stehen. Es gab eine Station der auf Trassen über den Straßen laufenden Stadtschnellbahn direkt vor dem Hotel. Nur vier Stationen von hier. Konnte kaum mehr als zwanzig Minuten dauern, aber das Taxi konnte leicht eine Stunde hängen.

Tom war nun etwas verhetzt, als er gerade in seinem Zimmer angekommen zum Telefon griff, um nicht zu spät zu sein. 232…. Ah ne, KLACK machte das Kunststofftelefon, als er fahrig auf die Gabel hieb, um abzubrechen. 82324. Tonwahlverfahren.

Pop Pu Piip Pu Pep.

„Hi, how are you?“, war da wieder diese samtweiche Stimme.

„To be true, a bit stressed from the traffic and Skytrain. Had an appointment in the city up north. Just didn´t want to miss out“, klang er strapaziert, aber straight.

„Hey, relax, take a shower, take your time. Don't worry, I'll get myself busy with emails until your next call. OK?“

Tom glaubte fast, ein erstes Lächeln zu hören. „Half an hour?“, schlug er unsicher fragend vor.

„Whatever you need. I'll wait until you call. Bye.“ Sie legte auf.

Tom war perplex. Inzwischen Mitte Dreißig hatte er bei all dem Erfolg in der Frauenwelt kaum Souveränität oder sich anderweitig entwickelt. Letztlich war er ihnen, seinen Gefühlen und allem, was damit zusammenhing, ausgeliefert. Wahrscheinlich war es die einzig richtige Art, damit umzugehen. Was hätte man schon an Einfluss nehmen sollen. Wozu das führte, konnte man bei all den anderen sehen.

Eine Frau, eine, die kaum zwei Minuten mit ihm in einem Aufzug gefahren war, sich aber wie eine Schulfreundin benahm, ihm dabei jede nur erdenkliche Zuversicht gebend. Er wollte so schnell wie möglich fertig sein und zu ihr. Dann setzte er sich doch erst mal hin. Diese Stimme. War es das, was er so an ihr mochte, auch wenn sie nicht so toll aussah, überlegte er kurz. War doch Unsinn. Er hatte ihre Stimme doch nicht gekannt. Konnte man schwerlich aus langen Beinen schließen. Stimmt, das war es zuerst. Die Schenkel. Er mochte ihre Schenkel. Ihre ruhigen gemusterten Schenkel, die ihm so überaus reizvoll schienen. Er versuchte, diese engelhafte Stimme mit den Bildern von ihr zusammenzuführen. Er befürchtete, sich ein idealisiertes Traumbild zu malen und beim Wiedersehen enttäuscht zu sein. Wenn sie das bemerkte, wäre sie sicher gekränkt. Das wollte er unter allen Umständen vermeiden. Er wollte sie keinesfalls kränken. Tom sah auf die Uhr. Es waren schon zehn Minuten verstrichen. Jetzt mal unter die Dusche. Erst noch: Durst. Er war wirklich in der anderen Welt. Deshalb brauchte er auch mehr als eine halbe Stunde. Dafür kam er wieder in die euphorische Laune. Er war jetzt wieder nervös, aber mehr aus Sorge, diese Freude könnte ihn verlassen. Er rief sie an.

„Hi, I am really hungry now. Are you ready?“, antwortete sie sogleich.

„Yes, I'm hungry, too. You wanna go to the restaurant?“

“No, let's go out. Just come to my floor with the elevator. I'll be waiting.“

Sie legte auf, klappte den Laptop zu und verließ das Zimmer Richtung Aufzug. Sie war längst fertig und hatte auf ihre Art Vorfreude genossen. Den ganzen Nachmittag hatte sie schon frei, war stundenlang im hoteleigenen Gymnastik- und Trainingsraum zugange und im Spa der Schlammbäder, Kräuterbehandlung und Gesichtsmasken unterzogen gewesen, danach in aller Ruhe nach oben gegangen, hatte sich geduscht und Make Up angelegt. Sich dann in eine schlichte Kombination aus feinster Seide gehüllt, die wenig Haut zeigte, aber ihre Brüste und langen Beine zur Geltung brachte. Ihre Brüste waren klein und fest, mit schönen Knospen. Der glatte Stoff war mit Wildseide-Fäden durchzogen. In einer engmaschig, gleichmäßig verteilten Unregelmäßigkeit zu ungefähr acht Prozent. Nur einzelne Fäden, die als solche kaum auffielen, aber insgesamt dem sandfarbenen Glanz der feingesponnenen Seide eine geheimnisvolle Indifferenz schenkten. Die Seide changierte bei jeder Bewegung in selbst nur gedämpfter Beleuchtung. Der Effekt war besonders auf dem eigens dafür entworfenen Bund schön sichtbar, der durch große Höhe und Breite, die Hüfte beim Gang mit sanften Wellenbewegungen umschmeichelte. Eine sehr raffinierte und teure Kreation, die sie zum ersten Mal trug.

Es machte ihr große Freude.

In seiner aristokratischen Eleganz für öffentliches Erscheinen geschaffen, beherbergte der Schnitt ein 4,7 Zentimeter langes Halfter. Eingenäht, eine winzige Einzelschusspistole für Damen unterzubringen, die sie zu tragen gewohnt war. Zuverlässig und einwandfrei gearbeitet konnte damit eine einzige Kugel eines Kalibers … ein Kügelchen abgeschossen werden. Dafür gab es kein Kaliber. Zur Selbstverteidigung im akuten Notfall war sie schlecht geeignet, einen Menschen zu töten. Vielleicht wenn man ihn direkt ins Auge traf. Es ging um Abwehr. Dazu taugte das Geschoss allemal, würde es doch durch Kleidung tief ins Gewebe eindringen, mindestens starke Schmerzen und mehr oder weniger Zerstörung verursachen. Unter der Achsel steckte sie durch eine Applikation kaschiert, die sich auf der anderen Seite aus Symmetriegründen wiederholte, im vorgesehenen Halfter. Teil der Kreation. Raffiniert und teuer.

Sie hatte die Idee nie gemocht. Eine Waffe zu tragen. Alle Roben für öffentliche Auftritte hatten diese Täschchen an verschiedenen Stellen. Die Hosen und Kleider. Sie trug immer diese Pistole, wenn sie in Japan das Haus verließ. Sie hatte es nie gemocht. Die Maßgabe stand auch nie zur Debatte. Die Pistole war nicht mit nach Thailand gekommen. Sie wollte darauf verzichten. Inzwischen hatte sie beschlossen, keine Waffenhalfter mehr in ihrer Kleidung zu haben. Sie würde sie nicht mehr tragen. Sie hatte es nie gemocht. Sie hatte es noch ohne ausprobieren wollen. Sie wusste es jetzt ganz sicher. So schwer es vielleicht durchzusetzen war. Es war Teil dessen, was passieren würde. Teil des Anfangs. Es hatte damit begonnen, diese Reise anzutreten.

Auch Tom hatte nun sogleich sein Zimmer verlassen. Er war aufgeregt. Als zwei Stockwerke tiefer die Tür aufging, sah er in ein Gesicht, das strahlend lächelte. Eine Frau, die er nicht sofort erkannte, aber gleich erkannte. Es war das unscheinbare Wesen von heute morgen. Aber sie sah aus wie das Covergirl der asiatischen Ausgabe von Harper's Bazar. Sie hatte dieselbe lange Nase und nur weil Tom sie ungeschminkt vom Morgen erinnerte, fand er im zweiten Blick die einfachen Züge in ihrem Gesicht wieder, so dass es ihm vertraut blieb. Schön war sie, sie war es am Morgen gewesen und jetzt entdeckte Tom erst wie ebenmäßig und symmetrisch ihre Erscheinung tatsächlich war. Wie als ging die Tür zum Himmel auf. Nur dass er nicht Einlass erhielt, sondern jemand heraustrat. Sie verstand sich zu schminken. Keine Silbe brachte er über die Lippen. Sie hätte ihn auslachen können, war aber weit davon entfernt. Kein Hauch eines Übels. Sie stellte sich neben ihn und sah ihm von der Seite ins Gesicht. Tom wandte ihr seines zu.

„Hey, wir müssen gleich durch die Halle“, sagte sie auf Englisch.„Versuch ein bisschen vorschriftsmäßiger zu erscheinen. OK?“, sprach sie ganz locker und berührte seine Finger an den Spitzen mit den Ihren.

„Wie soll das gehen, wenn du mich anfasst“, hatte er sich wieder gefunden.

„Ich lass gleich los, wenn die Tür aufgeht. OK?“, antwortete sie. „OK.“

Als Tom sie gesehen hatte, war sein erster Gedanke, verdammt, was muss die den jetzt dazwischenfunken, bis er sie vor Beendigung dieses Gedanken wiedererkannt hatte. Beim Frühstück war ihm die tiefere Schönheit, die atemberaubende Gleichmäßigkeit ihrer Gesichtszüge und des Körperbaus, der vordergründig nicht so idealen Merkmale wegen verborgen geblieben. Er dachte nicht an den klassischen Umstand, dass es diese feinen Gebäude sind, die sich am besten zu Schönheiten gestalten ließen. Ihre Nase gab der nur einen charakteristischen Akzent. Nicht, dass es fad würde.

„We order a taxi. You will do that. OK?“

Tom nickte ohne sie anzusehen.

Die Finger waren gerade das Schönste. Die Berührung.

Neben diesem spitzensüßen „OK?“, das sie dauernd an ihre Sätze hing und das so ehrlich um Einverständnis bittend klang.

Tom mochte diese Frau. Diese eigentlich fremde Frau.

Zum Glück wollte niemand während der Fahrt zusteigen und so öffnete sich die Tür am Ground-Floor und sie löste die Berührung, was Tom fast weh tat. In der Halle löste ihr Erscheinen strahlende Gesichter beim Empfangspersonal aus und man nahm beflissen Toms Wunsch nach einem Taxi entgegen.

Im Wagen fragte er, ob sie es toll fände, in einem der Dachrestaurants, vielleicht auf dem Millenium Hotel zu essen.

„Nein“, entgegnete sie, das sei nur sauteuer und sie fände eines der Restaurantboote auf dem Chao Praya viel schöner und unpräten­tiöser. Es wäre zwar schon ein bisschen spät dafür, aber sie würden einfach versuchen, noch eines zu erwischen. Einfach mal den Taxifahrer fragen. Tom fand die Restaurantboote super. Ihm wäre das aber nicht eingefallen. Viel zu aufgeregt. Sein letzter Besuch auf so einem Boot lag bald zwanzig Jahre zurück. Da war er noch Traveltourist. Dort könnten sie sich mit Ausnahme von Berüh­rungen ziemlich frei verhalten, reden, lachen und scherzen. Es war klar, dass es in der Öffentlichkeit, auch im Taxi, zu keinerlei Berührungen kommen dürfte. Das war Thailand. Berührungen wären zu intim, um schicklich zu sein. Unwissenden Ausländern würde das meiste verziehen werden und daran entwickelten besonders junge Touristenpaare vielfach Bedarf. Richtig, gerade für Mitglieder hoher Stände war vornehme Vermeidung von Intimitäten in der Öffentlichkeit. Der Taxifahrer wusste noch eine Anlegestelle für ein spätes und gutes Boot und einen Tisch bekamen die beiden auch. Bis sie sich am Tisch direkt an der Reling mit Blick auf Thonburi niederließen, sprachen sie nur mehr mit dem Personal und machten wie selbstverständlich den Eindruck eingespielten Einver­ständnisses. Man geleitete die sehr ansehnlichen Gäste zu einem schönen Platz.

Hier hielt man sie für ein Paar und so konnten sie sich ungezwungen benehmen. Ihre tiefen Blicke und die sanfte Sprache, bei lebhafter Kommunikation machte bei den fast ausschließlich chinesischen Gästen an den umliegenden Tischen einen guten Eindruck.

Sie setzte jetzt einen anhimmelnden Schimmer in ihr Augenpaar und wartete diesmal, was er sagen würde. Tom war gar nicht nach schnellen Worten. Er wollte sie gerne wieder ein wenig ansehen. Das hatte er ja schon am Morgen ausführlich betrieben und tatsächlich liebte er es allgemein, schöne Frauen anzusehen. Er überlegte noch, ob er ihr erst ein Kompliment machen oder nach ihrem Namen fragen sollte. Seinen zu nennen, kam ihm nicht in den Sinn. Den fand er ehrlich nicht so wichtig. Ein bisschen durcheinander war er auch immer noch. Er hoffte auch, sie würde doch noch etwas sagen, auf das er reagieren konnte.

Es erschien ihm ziemlich platt zu sagen, wie schön sie sei. Sie wusste wohl um ihre Selbstdarstellung, wenn sie sich so schminken konnte. Genauso, wie um ihre ungeschminkte, die unscheinbare Erscheinung. Tom war unsicher. Anschauen war so einfach.

Sie erlöste ihn und fragte: „Warum bist du erst weggelaufen?“

„Ich war zu überwältigt.“

„Das ist aber ein hübsches Kompliment.“ Sie lächelte.

Ihr Lächeln zeigte mehr von ihrem unscheinbarem Gesicht. Es war voller unschuldiger Freude über eine hübsche Sache. Wie von einem zehnjährigen Mädchen, das mit einer Freundin ein Eis essen geht. Auf dem Gesicht dieser erwachsenen Frau wirkte es entrückt. Tom war froh, spontan das Richtige gesagt zu haben. Noch immer war er das, was er damit gemeint hatte. Überfordert.

„Und dann hast du doch gewartet?“

„Ich hatte einen Plan.“

Sie lächelte jetzt zufrieden amüsiert. „Das ist ja interessant.“

Tom erzählte ihr von seinem Problem, sie, eine Japanerin, in dem Frühstücksrestaurant anzusprechen und seinem misslungenem Arrangement am Lift einen kleinen Zusammenstoß als Einstieg zu inszenieren. Er wollte ganz aufrichtig zu diesem wunderbaren Wesen sein. Etwas Persönliches erzählen, ohne sie mit seiner Lebensgeschichte zu langweilen. Dieser Plan hatte immerhin mit ihr zu tun. Er erwähnte seine charakteristischen Kreislaufzustände zu gewissen Tageszeiten und nicht zuletzt wie irritierend beein­druckend er sie an dem Tisch gefunden hatte. Tatsächlich legte er ihr seine Bezauberung so umfassend dar, wie er sie am Morgen erlebt hatte und es seiner Eloquenz entsprach. Ihr Gesichtsausdruck wandelte sich dabei von fröhlicher Belustigung, über leicht staunendes Interesse, bis zu mildem Glanz in den Augen, als sie den Kopf nun leicht geneigt seiner Beschreibung ihrer Erscheinung lauschte. Das gefiel ihr wirklich.

„Hast du deshalb deine Zeitung zweimal gelesen? Oder so getan.“

„Du hast es gemerkt?“ Es war ihm nicht mehr peinlich. Musste es ja nicht. Ach zu offensichtlich. „Ich musste Zeit gewinnen. Es gab mir mehr Gelegenheit dich anzusehen. Das ist wahr.“

Selten hatte ihr und ihrem Äußeren ein Mann soviel detailverliebte Aufmerksamkeit geschenkt und diese auch noch in Worte gefasst. Sie fand sich ehrlich geschmeichelt und zupfte unter der Tischplatte am Fingernagel ihres rechten Daumens. Tom erwähnte auch das, was er unscheinbar nannte und wofür er kein passendes Wort in Englisch fand. Er wollte sie bestimmt nicht beleidigen, nicht einmal vor den Kopf stoßen und druckste herum.

„Ich weiß, dass ich keine Schönheit bin“, sagte sie ohne Eitelkeit.

„Du bist eine strahlende Schönheit“, sagte er überzeugend.

„Ja, heute, wenn ich mich schminke. Es ist auch deinetwegen. Ich weiß sehr wohl, dass ich keinem der Ideale entspreche und die Männerwelt mich eher als blass empfindet. Ich habe genug Männer kennen gelernt.“ Auch das kam ohne Bitterkeit. „Sie sind immer ganz Flamme, wenn sie mich in Schale und Make Up auf Parties treffen und von meinem Erfolg erfahren. Mit mir ungeschminkt können sie nichts anfangen.“ Tom verstand das aufs Wort.

„Es freut mich sehr, dass dir meine Unscheinbarkeit ...“, sie benutzte absichtlich das englische Wort insignificance,

„ … gefallen hat.“

„Sie hat mir nicht nur gefallen. Ich mochte dich. Mehr noch. Ich spürte eine unausweichliche Anziehung. Das war das Irritierende. Ich verstand nicht, warum ich dich, ohne dich zu kennen, so gern hatte. Ich fühlte mich unglaublich stark zu dir hingezogen, obwohl ich das an nichts Besonderem festmachen konnte. Es wäre eine Erklärung gewesen, wenn du eine Model-Schönheit wärst. Aber weil ich dich mochte, mochte ich auch deine Unscheinbarkeit.“ Auch er benutzte nun das englische Wort betont. „Ich mochte sie, weil es deine Unscheinbarkeit war. Erklären konnte ich es mir trotzdem nicht.“ Ihr Herz leuchtete.

„Du hast meine Schenkel angestarrt“, sagte sie.

„Außerdem bin ich ein Model“, setzte sie beiläufig hinzu.

Tom stutzte.

„Was denkst du über meine Schenkel? Es ist sehr unhöflich, die Schenkel einer Fremden im Frühstückssaal so anzustarren. Noch dazu in Thailand.“

Hatte er doch gewusst, dass das nicht unbemerkt geblieben sein konnte.

„Deine Hose war sehr kurz“, gab er trocken zu seiner Verteidigung an.

„Es ist in Bangkok schon am Morgen sehr heiß. Ich wollte anschließend an den Pool. Außerdem hätte es unter dem Tisch keiner gesehen, wenn er nicht extra hinsieht.“

Sie neigte bei dem Satz ihren Kopf und zog die Augenbrauen hoch. „Jedenfalls kein Grund, meine Schenkel immer wieder Ewigkeiten anzustarren.“

Sie sagte das mit der pragmatischen Logik der Lösung einer Rechenaufgabe. Ohne Vorwurf im Ton. Sie war keinesfalls böse deswegen, obwohl es wirklich sehr ungehörig war, eine Frau in der Öffentlichkeit so anzustarren. Sie wollte nur eine ehrliche Antwort und ihn ein wenig triezen. Bestimmt hätte sie der Erhalt von Komplimenten bei der Gelegenheit nicht weiter gestört.

Sie sah ihm stets in die Augen.

„Du hättest ja etwas sagen können, wenn es dich so sehr gestört hat“, startete Tom einen kläglichen Versuch. Er wusste sehr wohl, dass eine feine Dame solche Aufdringlichkeiten nicht mit einer Reaktion belohnen durfte.

„Am Anfang hat es mich sehr gestört. Dann komischerweise nicht mehr. Du hast mir auch ins Gesicht gesehen. Das heißt, ins Profil. Lange. Dann wieder auf die Schenkel. Das gab mir zu denken. Jetzt rück schon raus. Waren meine Schenkel auch unscheinbar?“

Tom durfte dezent lachen. „Im Gegenteil, sie erregten mich sehr.“

„Oh“, entkam ihr spontan. So ein lustiges Oh, weil es den tief klingenden Vokal in einem ziemlich hohen Ton ausspricht. Ein herrlich japanisches Oh. Ein süßes Oh.

Aber sie hatte sich gleich wieder im Griff.

„Was dachtest du, als du meine Schenkel anschautest? - … while you were looking at my thighs?“

Es verging ein Moment, während er sie zärtlich ansah, bevor Tom sagte: „Das kann ich dir hier nicht sagen. Vielleicht versteht doch jemand Englisch.“

„Sag's mir ins Ohr.“

„Glaubst du das geht?“

„Na gut, die denken wir sind ein Paar. Beide Ausländer. Halb so schlimm“, antwortete sie.

„Ich lache ein bisschen, dann denken sie, du hast einen Scherz gemacht.“

Tom lachte leise. „Wenn das mal gut geht. Vielleicht verrät uns deine Reaktion. Du weißt doch nicht, was ich gedacht habe.“

„Bilde dir nur nichts ein. Ich weiß ja jetzt, was ich zu erwarten habe. Du hast noch nicht gemerkt, dass ich eine erwachsene Frau ...“, sie unterbrach sich. „Ich denke, ich bin älter als du.“

„Wirklich?“

„Ja, aber das spielt keine Rolle.“

„Natürlich nicht. Es passiert nur zu leicht, dass man Asiaten wegen ihrer Zierlichkeit jünger schätzt. Außerdem habt ihr diese tolle Haut, die nicht zu altern scheint. Viel langsamer jedenfalls. Mehr Spannkraft.“

„Ach was, es war deine männliche Überheblichkeit, die dir einreden wollte, du seist der jungen Frau zwei Tische weiter auch an Erfahrung überlegen“, sagte sie streng.

„Sagen wir, es war mein Beschützerinstinkt.“

„Einverstanden. Erkläre mir jetzt den Unterschied. - Now explain the difference to me.“

Sie legte den Kopf nach rechts, sah ihm in die Augen und gab im Blick die Milde ihrer Vergebung zu verstehen.

Tom verstand und schwieg, denn der Unterschied war nicht groß genug, um eine Erklärung zu rechtfertigen. Er hatte sie voreilig, vielleicht von seiner Anziehung geblendet, jünger geschätzt. Vielleicht fünf Jahre. Jetzt dachte er ganz richtig, sie sei wohl eher fünf Jahre älter. Das erklärte so manches.

„Was ist jetzt mit meinen Schenkeln?“, lenkte sie forsch auf das Thema zurück.

Tom begann nun auf Befehl seine Faszination für die schlanken, regungslosen Beine zu schildern und sprach auch aus, wie er über ihre Haut und deren Musterung sinnierte.

„Meine Haut ist gemustert?“, fragte sie verwundert nach.

„Ich weiß auch nicht. Nicht so gleichmäßig goldbraun, wie die der Thai.“

„Du weißt wohl, dass wir Asiaten wert auf helle Haut legen und vieles dafür tun.“

„Schön, aber ist es natürlich? Ich dachte auch, vielleicht scheinen die Äderchen durch.“

„Soll das heißen, ich hätte Krampfadern?“, verdächtigte sie ihn. „Und das willst du alles im Schatten des Tisches vom übernächsten aus gesehen haben? Du musst ja gute Augen haben.“

„Ich habe sehr gute Augen. Von Krampfadern war keine Rede. Ich finde deine Beine sehr schön. Sehr schön“, wiederholte Tom. Sie war zufrieden.

Er erging sich noch über die in seinen Augen auffällig ruhige Haltung, ihre disziplinierte Bewegungskultur insgesamt. Bis sie wieder auf seine spezifischen Gedanken zu ihren Schenkeln zurück kam. Tom beugte sich zu ihrem Ohr. „Ich bekam unglaubliche Lust, ihre Innenseite zu küssen, zu lecken. Langsam und zärtlich mit meiner langen, spitzen Zunge zu lecken bis zu deinen Schamlippen, an ihnen entlang und wieder zurück. Dann erneut und diesmal den Kitzler zu berühren. Wieder zurück und …“

„Hör bitte auf“, flüsterte sie ganz sanft. „Das ist wirklich zu viel für hier.“

Sie schob ein recht professionelles Lachen hinter her und erwähnte mit normal lauter Stimme deutlich hörbar seinen gelungenen Humor. Ein sehr tiefer Blick folgte. Seine lange, spitze Zunge hatte sie schon bemerkt.

Tom änderte das Thema. Sie brauchten wohl eine kleine Pause, um sich weiter kennen zu lernen. „Du bist Model?“

Sie war doch so unscheinbar, sagte von sich selbst, keine Schönheit zu sein.

„Ja, ein bisschen Laufsteg, für eine Japanerin, bin ich relativ groß, aber hauptsächlich, Hand-, Fuß-, Ohr-, Lippen- und Augenbrauen­model.“ Sie lächelte. „Und Stimm-Model“, setzte sie hinzu.

Tom achtete jetzt erst richtig auf ihre schönen Hände.

Ihre Lippen und ihre Stimme waren ihm schon aphrodisiakisch angenehm aufgefallen.

„Augenbrauenmodel?“, wiederholte er fragend.

Er konnte sich denken, worauf das hinauslief, wollte aber mehr erfahren.

„Das ist diese Kosmetiksache. Sie brauchen Leute mit guten Details für Großaufnahmen. Helle Haut und so. Feine Züge. Manchmal wollen sie auch einen bestimmten Typ für avantgardistische Mode. Es ist eigentlich gut, wenn man selbst kein sehr ausdrucksstarker Typ ist. Dann können sie einen in die Richtung schminken, die sie brauchen. Wichtig ist gute Symmetrie und Proportionen. Die kann man nicht herschminken.“

Tom wurde jetzt auch die höhere Schönheit hinter ihrer Unscheinbarkeit bewusst. Es war richtig, sie hatte sehr symmetrische und feine Züge und zarte Hände, deren Bewegungen sie fraglos perfekt kontrollierte. Die lange Nase konnte als Manko gelten, machte aber vielleicht einen avantgardistischen Typ aus. Über die Seidigkeit ihrer Stimme und Lippen herrschte kein Zweifel.

„Die Sprachaufnahmen sind vor allem Werbetexte. Nichts Besonderes. Man rutscht in so was rein, wenn man in den entsprechenden Kreisen ist.“

„Du meinst die Mode- und Kosmetikbranche?“

„Ich meine, ich bilde mir nichts darauf ein. Viele können das. Wenn man das Glück hat, mit Leuten bekannt zu sein, die diese Jobs anbieten, tut man sich leichter.“

„Wie bist du dazu gekommen? Deine Stimme ist wunderbar.“

Sie lächelte erfreut.

„Danke. Hör zu, ich komme aus einer wohlhabenden Familie. Da verkehrt man mehr oder weniger zwangsläufig in einer gewissen Gesellschaftsklasse. Nenne sie die Reichen und Schönen. In Asien ist diese Klassentrennung eventuell etwas konkreter. Man muss nicht arbeiten, obwohl man bessere Ausbildung genießt. Man arbeitet trotzdem, außer man ist Frau und heiratet. Nichtstun gehört sich schließlich nicht und ist auch nicht gesund. Welche Arbeiten kommen für eine junge Frau schon in Frage? Wenn man nicht gerade auf die Verbindungen des Elternhauses bauen möchte, schaut man sich nach Möglichkeiten um. Inzwischen bin ich es, die Models betreut und vermittelt. Asien ist IN.“

Tom hatte sich so was gedacht. Woher sollte sonst ihr ausgezeich­netes Englisch kommen. Derart korrektes Englisch mit dem noch dazu gut manifestierten amerikanischen Akzent war unter Japanern selbst in Geschäftskreisen nicht verbreitet. Im Übrigen erklärte das auch ihr hochprofessionelles Make Up und ihre feine Kleidung, selbst wenn es sich nur um die Pool-Shorts handelte.

„Dann bist du beruflich in Bangkok und im Fünf-Sterne-Hotel?“

Sie lachte verhalten. „Nein, mein Lieber. - No Dear.“

Korrigierend: „Ich bin auf Entspannungstrip, wie so viele Japaner hier.“

„Urlaub in Bangkok?“

„Denk nach. Im Vergleich zu dem stressigen Wahnsinn in Tokyo ist Bangkok erstens unglaublich günstig und reichlich entspannt. Dazu kommt, dass wir nichts arbeiten müssen und es hier alles gibt. Die Beziehungen zwischen Thailand und Japan sind dauerhaft und stabil. Für die paar Tage, die Japaner Urlaub machen, lohnt es sich manchmal nicht, auch noch weiter an den Strand zu fliegen. Vielen Asiaten bedeutet das Baden im Meer nichts. Ist es zu guter Letzt deine deutsche Sparsamkeit, die zu großes Aufhebens um das Fünf-Sterne-Haus macht? Im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten in Tokyo ist das hier alles kein Problem. Die Urlauber kommen schließlich nicht aus der Provinz, sondern sind Teil der Mittel- und Oberschichten der japanischen Großstädte. Da leistet man sich für die kurze Zeit nur das Beste und kostet das aus.“

„Trotzdem beantwortest du deine Emails.“

„Ja, und Bangkok ist auch modetechnisch zu interessant, um das aus den Augen zu lassen, aber ich bestehe jetzt darauf, nicht mehr über all diese Äußerlichkeiten zu sprechen.“

Das Essen war jetzt im Anmarsch. Da wie auf diesen Restaurant­booten üblich praktisch nur Seafood im Angebot war, hatte Tom, der damit größtenteils gar nichts anfangen konnte, panierte Riesen­shrimps mit Salat und Knoblauchbrot bestellt. Sie Hummer.

Wenn schon, denn schon.

Die Kellner servierten mit einem fröhlichen Lächeln und so war das Gespräch für den Moment unterbrochen.

Sein bequemes Fingerfood kam Toms begrenzt kultivierten Essma­nieren entgegen, während sie routiniert den Hummer zerlegte und die einwandfreie Zubereitung lobte. Sie bot ihm an, zu probieren. Er gab zu bedenken, er hätte noch niemals welchen probiert, da ihm das Essen einfach zu umständlich schien.

„Dann wird es ja Zeit. Es ist ganz leicht, wenn man weiß wie's geht.“

„Mir wäre es lieber, wenn du mich fütterst“, schlug Tom vor.

Sie lächelte. „Gute Idee.“

So kindisch die Sache vom Zweck der Nahrungsaufnahme her scheint, so regelmäßig fanden Paare daran Vergnügen, sich zu füttern. Sie tranchierte ein gutes Stück aus dem Tier und schob es in seinen geöffneten Mund. Tom musste unter ihren Augen kauen.

„Na, schmeckt der Hummer, wenn man die Arbeit damit nicht hat?“

Das Ding war auch voller Knoblauch.

„Ja, sehr gut, sehr zartes Fleisch. Schmeckt gar nicht nach Fisch.“

Mit einem sehr süffisanten Lächeln streckte sie ihm mit auffälligem Blick auf seine Zunge schon das nächste Stück entgegen.

„Auf das feine, zarte Fleisch kommt es an.“

Er wurde mit immer weiteren Häppchen versorgt und musste so das Sprechen sein lassen. Die Shrimps blieben vorerst liegen. Beiden gefiel es. Sie sahen sich ununterbrochen in die Augen.

Der Hummer war fast alle, als sie aufhörte. Tom sah es und bot ihr panierte Shrimps an. Sie nahm einen, bestellte aber noch Austern nach. Tom fand es trotzdem bequem, jetzt einfach ein bisschen an seinen Garnelen zu nagen. Nachdem sie den Rest des Hummers verspeist hatte und die Austern noch auf sich warten ließen, fing sie an: „Wir haben nicht viel Zeit.“

Tom zuckte kurz. Das gefiel ihm nicht.

Er wollte aber nicht unterbrechen.

„Ich möchte nicht über Beruf, Familie, Status oder gar Geld, Politik oder die Gesellschaft sprechen“, fuhr sie fort. „Ich möchte über uns sprechen. All diese Dinge sind äußerlich und spielen für uns keine Rolle. - They don't matter for us now. It is all about you and me only.“

„Aber das gehört auch zu uns, der Beruf, die Familie, der Status …“

„Ja vielleicht, wenn wir heiraten wollten. Wir werden nicht heiraten“, sagte sie trocken.

„Wer weiß.“

„Red keinen Quatsch. Das mag ich nicht. Wir mögen uns. Wir sind neugierig. Du zuerst. Dann ich. Du fühlst dich zu mir hingezogen. Von mir angezogen, sagst du. Damit hast du mein Interesse geweckt. Jetzt mag ich dich ein bisschen. Vielleicht weil du mich magst. Ich weiß das nicht genau. Noch nicht. Vielleicht täusche ich mich in dir. Ich glaube nicht. Ich bin neugierig“, wiederholte sie. „Wir lieben uns nicht. Wir sind nicht mal richtig verliebt. Vielleicht werden wir Freunde. Hoffentlich, aber im Moment möchte ich nur dich. Es geht nur um dich und mich.“

Tom war sehr erstaunt über die Mischung ihres ausdrücklichen Willens zur menschlichen Nähe nach so kurzer Zeit und dem auch fragwürdigen Einstieg in die Bekanntschaft durch einen unschick­lichen Schenkelstarrer, ihre Zuversicht in die Verbindung mit der kategorischen Konzentration auf das Unmittelbare, mit Rücksicht auf einen straffen Zeitplan, bei einem vollkommen klaren Anspruch an sie beide und nur aufrechter Einsicht in eine Gefühlswirklichkeit ohne unnötig falsches Sentiment. War das japanisch, Oberschicht oder einfach nur Klasse? Jedenfalls mehr als er sich erhoffen konnte. Diese Frau war ihm überlegen. Das löste ein starkes Gefühl der Geborgenheit bei ihm aus. Er spürte unbewusst, sich fallen lassen zu können.

Sie würde den nächsten Schritt immer kennen.

„Ich bin Musiker. Die Musik ist doch ein untrennbarer Teil von mir. Das muss dich nicht interessieren, aber dann kennst du mich nicht wirklich“, wandte er nicht ganz zu unrecht ein.

„Du bist Musiker. OK.“ Ganz anderes OK. „Schriftsteller, Künstler, Taxifahrer …“, zählte sie auf, was ihr in den Sinn kam.

War ich auch mal, wollte Tom salopp einwerfen, verkniff es sich aber. Es interessierte ihn weit mehr, was sie zu sagen hatte. Sie gleich zu Beginn mit dem von Vorurteilen gepeinigten Berufsbild zu verschrecken, wünschte er sich auch nicht. Gutes Argument für ihren Wunsch, so was außen vor zu lassen.

„ … Arzt oder Ingenieur. Na und? Für mich spielt das keine Rolle. Es zählt nur, wie du jetzt zu mir, mit mir bist. Sonst nichts.“

Mit gewissem Recht schloss sie aus seiner Logis im Fünf-Sterne-Hotel, es könne nicht allzu schlecht um seine Einkommenssituation bestellt sein. Sie wusste nicht, dass er sein Zimmer mit Bonus­meilen der einheimischen Fluggesellschaft beglich, da er sonst auch mit einfacheren Standards durchaus zufrieden war. Zählte doch die Atmosphäre, wenn es sonst sauber war. Da stimmte es bei den Thai auch meist ohne Luxusklasse. Aber wahrscheinlich sind auch genü­gend Bonusmeilen ein Zeichen solider Finanzen.

„Und wenn sich das ändert?“

„Wenn sich etwas ändert, ändert es sich. Wie viele Gedanken willst du dir darüber verbreiten? Ich bin hier, genieße es. Ich genieße es.“

Tom genoss es. Europäer sind es sehr gewöhnt, weiter zu denken. Es hat mit ihrer immer leicht unbefriedigten Art zu tun. Den Wunsch eines Sicherheitsempfindens, den Status zu manifestieren. Das Angenehme aufrecht zu erhalten.

So Faustisch: Verweile doch ...

„Zugegeben interessiert mich die ganze Vorgeschichte auch nicht so sehr, wie die Zeit mit dir zu genießen. Wie wir das geworden sind, was wir jetzt sind. Das ist Vergangenheit und das Ergebnis zählt. Trotzdem bist du das alles auch und ich identifiziere mich sehr über Musik, meine eigene Musik und insgesamt.“

„Aber du bist nicht die Musik, du bist ein Mensch. Als den ich dich erlebe. Was interessieren mich Shows oder Aufnahmen, die du gemacht hast? Wenn du mir etwas vorspielst, ist es etwas anderes. Das ist jetzt, das tust du mit mir. Das bist dann du. Ich will nicht etwas über früher erfahren. Es zählt nur, was ich selbst herausfinde. Wie du zu mir, bei mir, mit mir bist. Nicht, was du mitbringst. Lass dein Gepäck zuhause.“

Die Austern kamen.

„Schon mal Austern gegessen?“

„Das ist eine Frage nach der Vergangenheit“, gab er vorgespielt störrisch an.

„Also nicht. Wieder zu umständlich?“

Tom lächelte. Sie war wirklich sehr schlau. „Und zu glibberig. Ich bin kein großer Fan von Muscheln.“

„Kein Fan von Muscheln? Kein Fan von Muscheln!“, höhnte sie. „Was soll das heißen?“

Dazu grinste sie ausnahmsweise fast ein kleines bisschen.

„Du musst probieren. Man muss alles mal probieren“, dozierte sie.

Er befürchtete, das schleimige Zeug schmecke ihm nicht und er verzog beim Schlürfen das Gesicht, aber es ging. Viel fleischiger als er dachte und nicht zu salzig. Zum Glück hatte er die Shrimps schon fast alle verschlungen, denn er sollte noch mehr Austern essen, verwies aber jetzt darauf, sie müsse auch etwas essen, worauf sie einging. Trotz allem würden Muscheln auch in Zukunft nicht zu seinen Leibspeisen zählen. Vielleicht wollte sie bei ihm mit den Austern die Libido anregen. Es hieß ja, das funktioniere und Japaner sollen in diesen Dingen gut sein. Oder sollte er das besser als Wunschdenken verbuchen?

Tom wartete mit seiner Frage bis sie die Auster geschlürft hatte und die nächste heraussuchte, damit sie sich nicht verschluckte. Das wäre ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen sicher passiert.

„Ich heiße Tom. Darf ich dich nach deinem Namen fragen?“

Sie schluckte, irgendwie um sicher zu gehen, die letzte Auster sei wirklich ganz aus ihrem Rachen verschwunden. Sie wollte ihren Namen eigentlich nicht verraten. Das hatte sie aber ganz vergessen. Weil es bisher an sich höchst unhöflicherweise nicht angesprochen worden war. Beidseits ein faux pas, der praktisch unverzeihlich keinem von ihnen in ihrer so kräftig aufkeimenden Vertrautheit aufgefallen war. Die unfreiwillige Sprechpause führte zu einer Nachfrage: „Willst du mir den auch nicht verraten?“

Sie war noch gestresst. Das geht natürlich eigentlich nicht. Ihre Souveränität war dahin. Sie hätte ihm irgendeinen japanischen Namen nennen können, aber lügen wollte sie nicht. Lügen sind nicht gut für Vertrautheit. Schon gar nicht für junge, zerbrechliche. Bevor er jetzt noch mal nachfragt, ob ihr Name ein Geheimnis sei, oder wie er sie nennen solle, wollte sie lieber antworten. Alles andere wäre peinlich. Was zierte sie sich so? Sie hatte ein bisschen Angst. Angst verletzt zu werden. Sie war scheu. So wie Tom eigentlich noch immer schüchtern war und von Frauen durch­einander gebracht wurde. Ihre direkte, bestimmende Art war nur der übliche Schutzmechanismus. Er unterstützte die Illusion die Kontrolle behalten zu können. Sie wollte sich ihm hingeben. Das hatte sie vor. Wenn bis dahin alles gut ging. Also warum nicht ihren Namen preisgeben? Kindisch.

In ihrer Aufregung sagte sie ihn auf die in Japan übliche Weise, den Familiennamen zuerst: „Kashiwa Chiyoko“, und vergaß die unab­dingbare zugehörige Anrede dahinter, aber davon wusste Tom natürlich nichts.

Sofort erklärte sie berichtigend: „Chiyoko. Chiyoko ist mein Rufname.“

Tom sah sie an. Er verspürte natürlich ihre Unsicherheit, die ihn sehr für sie einnahm. Sie war verletzlich. Sie zeigte es. Besser gesagt, konnte sie ihre Verletzlichkeit trotz ihrer guten Selbstbe­herrschung nicht verhehlen. Da wurde sie gleich viel menschlicher und wahrscheinlich regte sich auch sein Beschützerinstinkt gleich wieder. Er dachte an ihre Schenkel. Jedenfalls mochte sie ihn wirklich. Sonst wäre sie nicht verletzlich.

Sogleich antwortete er aufrichtig: „Ein wunderhübscher Name. Ganz allerliebst. - Very lovely.“

Sie lächelte ein 0,02 Millimeter Mundwinkellächeln. Sie war alles andere als beschwichtigt.

„Bedeutet er etwas?“

„Kind der 1000 Generationen oder auch Kind der Ewigkeit. Es sind zwei Silben: Ewigkeit und Kind“, antwortete sie abwesend.

„Was ist?“, fragte Tom.

„Ich wollte Namen eigentlich vermeiden.“

„Aha, und warum? Spricht man sich nicht mit Namen an? Ich war schon ganz unsicher, ob ich nicht einen unverzeihlichen Fehler gemacht habe, mich so lange nicht vorzustellen. Obwohl, es war irgendwie keine Gelegenheit.“

„Zugegeben ist das ein bisschen komisch … a little bit strange“, fing sie an, als er sie unterbrach: „Es ist ziemlich komisch - Quite strange“, und sich am liebsten gleich auf die lange, spitze Zunge gebissen hätte.

Er wollte natürlich die zerbrechliche Vertrautheit nicht mit dem Vorwurf, sie sei komisch, belasten, schob deshalb ein fröhlich konspiratives: „Sagen wir ganz schön komisch. - Lets say pretty strange“, nach und lachte sie an.

Sie lachte mit.

„Iss lieber deine Austern. Dann erklär es mir“, ließ er den Namen vorerst weg.

Sie nahm eine und verschlang sie. Es waren nicht mehr viele übrig.

„Iss du auch noch eine.“

„Nein, die sind jetzt für dich.“ Er sah ihr zu.

Sie schwiegen und genossen es beide.

„Ich bin hier ganz für mich. Möchte mich ausklinken und für ein paar Tage Alles vergessen. Beruf, Familie, Japan, Alles. Ich muss mich nach niemanden und nichts richten. Bin frei und mache nur, wonach mir ist. Da kommst du und es ist bestimmt nicht meine Art, mich mit Fremden einzulassen. Aber du bist du. Du bist hier. Du gehörst zur Echtzeit. Ich möchte diese Begegnung ausprobieren. Ich will nicht darüber nachdenken. Ich weiß nicht, was es wird. Ich will es nicht wissen. Ich möchte uns aus dem, was mein Leben sonst ausmacht raushalten. Ich habe es dir schon erklärt. Es ist nur zwischen uns. Mein Name erinnert mich an Japan, mein Leben, an mich.“

„Aber es ist wirklich ein schöner Name. Ich finde ihn schön. Du bist doch nicht plötzlich jemand anderer.“

„Nein, nicht anders, aber frei.“

Tom sah sie fragend an. Frei war gut. Frei wovon?

„Versteh mich richtig. Es gibt kein Problem. Weder bin ich eine verlassene Ehefrau, noch eine verkrachte Existenz, es geht uns gut. Es gibt kein Krebs- oder sonstiges Krankheitsdrama, keine Welt­kriegsopfer oder solche Sachen in unserer Familie. Vielleicht ist alles zu gut. Aber eigentlich gibt es eben kein Problem. Ich befreie mich einfach eine Zeit lang von mir.“

„Das hört sich nach einer guten Idee an.“

Tom fand das ehrlich interessant. Diese Frau, Chiyoko, war interessant.

Aber interessant und spannend sagte man nicht.

„Du befreist dich von dir, um besser zu dir, neu zu dir, wieder zu dir zu finden. Dich zu entwickeln.“

„Das ist ein wenig psycho. Ein westlicher Psychologe könnte auch behaupten, mir sei in meiner perfekten Welt langweilig geworden. Ich fliehe vor eingefahrenen Lebenswegen, die mich anöden. Vor Langeweile. Aber mir ist nicht langweilig. Wir haben viel zu tun. Meine Familie ist super. Wir sind Asiaten. Man kann denken, ich zweifle, weil es mir zu gut geht. Ich würde Abenteuer suchen. Das ist Unsinn. Du kannst es auch Traumwelt oder Eskapismus nennen. Ich analysiere das nicht. Wir haben den Zen. Ich lasse es geschehen. Ich möchte es noch mehr geschehen lassen. Ich sehe es als ein Experiment.“

Aha, dachte Tom, ich bin ein Experiment. Er war gar nicht beleidigt deshalb. Das Experiment einer so faszinierenden Frau sein zu dürfen, nahm er gerne als Kompliment. Er war nur Teil des Experiments, aber das übersah seine Eitelkeit geflissentlich.

„Es ist ein Experiment ohne die Realität des Alltags. Anders gesagt: Es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft. Es gibt sie doch. Es ist schwer zu erklären. Die Personen sind frei von Alltag. Emp­fangsdamen, Kellner und so weiter sind nicht verbunden. Sie haben ja ihr eigenes Leben und erfüllen in meinem Experiment nur ihre Funktion. Ich werde sie wiedersehen oder nicht. Es macht keinen Unterschied. Ich bin in dem Experiment nicht ich. Du kannst du sein. Du kannst Tom heißen, weil ich dich vorher nicht kannte. Letztlich bist du für mich nur du. Das du. Das Komplementär, das erschienen ist. Ich habe nicht gewusst, dass du erscheinen wirst. Ich wollte, hätte es auch nicht wissen wollen. Plötzlich warst du eben da. Ich bin froh, dass du da bist. Ohne dich wäre mein Experiment wahrscheinlich viel langweiliger geworden“, fing sie sich zu guter Letzt noch.

„Nachdem die Versuchsanordnung nun weitestgehend klar umrissen ist, lass uns sehen, was sich daraus machen lässt“, willigte Tom mit neckischem Spott ein.

„Es wäre mir lieber, wir würden nicht unsere normalen Namen verwenden“, blieb sie ernst.

„Das ist doch zu gequält. Kunstnamen erfinden. Ich darf ja Tom sein. Hast du nicht auch einen Spitznamen?“

„Nein, bei uns ist das anders. Trotzdem, wie nennt dich denn niemand sonst?“, fragte Chiyoko.

„Niemand nennt mich Thomas.“ Er sprach es deutsch aus.

„Aber ich mag Thomas.“ Sie sprach es englisch aus.

„I like Thomas. It sounds more sophisticated than Tom. - Es klingt feiner als Tom. Darf ich dich Thomas nennen? - May I call you Thomas?“

“Klar, gerne. Dann darf aber auch ich deinen Namen aussuchen. Was hältst du von Chi?“

„Niemand nennt mich Chi. Das ist eine gute Lösung. Mir gefällt das wirklich. - You found a good solution. I really like that. Chi.“

Sie wiederholte ihren neuen Namen ein paar Mal und lächelte jedes Mal ein strahlendes, kindliches Lächeln.

Sie bewunderte die Klugheit ihres jungen Freundes. Im Moment war sie ein bisschen verliebt. Gar nicht japanisch. Eher verliebt.

Sie versuchte sich zu fassen.

„Heute will ich mit dir die Tempellichter am Chao Praya bewun­dern, Essen schmecken, na ja ist jetzt schon fertig“, sie lächelte ein 0,08 Millimeter Mundwinkellächeln, „über die Reflexionen im Wasser sprechen, Nachtluft riechen, Sterne zählen und bei Thomas sein. Weil er Chi mag. OK?“

Der Chao Praya war ein prächtiger Fluss, die Sternennacht war klar und voller Gerüche. Wer würde sich dieser OKs erwehren?

„Ich zähle zwei Sterne“, sagte Thomas. „Ich auch“, antwortete Chi

„I count two stars.“ - „Me too.“

Skyline Deluxe

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