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Kurz bevor Thomas aus einer leichteren Rapid Eye Movement Schlafphase erwachte, überkam ihn folgender Traum. Als typischer Effekt reagierte sein Gehirn mit dem Wunsch, weiterschlafen zu können auf den Weckversuch seiner wieder unter Drangsal leiden­den Blase, wegen besserer Aussichten auf Erfolg während dieser Phase, eines weniger festen Schlafes mit dem Angebot einer aus aktuellen, wie alten Erinnerungen und dazu Phantasiebeigaben scheinbar logisch zusammengesponnene und daher lebensecht wirkenden Geschichte. Dieser Mechanismus sollte sein Bewusstsein ablenken und den kostbaren Schlaf schützen. Das funktionierte immer solange, bis der Druck auf der Blase zu groß wurde. Bekanntermaßen dauern diese Träume auch nicht lange, denn es ist die Eigenart in der R.E.M. - Phase dem Träumenden in nur wenigen Sekunden Zeiträume von Stunden, Tagen oder je nachdem weit länger vorzutäuschen. Dies gelingt aller Erkenntnis nach dadurch, dass die Inhalte abrufbar gespeichert sind und sich also des Zustandes geistiger Entspannung im Schlaf wegen nach Gusto, ohne Anstrengung verbinden. Vielleicht geht es auch einfach so schnell, weil der Körper, in dem häufigen Fall die Blase, sehr wohl die Entspannung in Frage stellen. Wenn der Körper zusehends angespannt wird, kann sich das Gehirn als Körperteil dem auf Dauer schwer entziehen.

Thomas befand sich ebenso plötzlich wie überzeugend mit Chi auf dem Heimweg von ihrem Abendessen. Der Schiffsmahlzeit, wie er es ihr gegenüber genannt hatte. Das stimmte schon mal nicht. Doch auch wenn er diesen Zeitraum nicht mit geträumt hatte, war es so, als erinnere er sich sicher daran, diesen Scherz der Bezeichnung des wunderbaren Mahles in dem Panorama als Notverpflegung einer Matrosenbesatzung vorher am Abend manifestiert zu haben. In Wahrheit hatte sein Gehirn diese Idee erst für den Traum. Wenn überhaupt lag sie davor nur in seinem Unterbewusstsein vorhanden. Vielleicht gab es einfach gestern Abend keine passende Gelegenheit dafür oder er wollte genauso unbewusst Chi noch nicht mit seinem seltsamen Sinn für Humor verschrecken. Asiaten tun sich oft nicht leicht einen negativen Begriff als in selbstkritisch zum Sarkasmus verdrehter Demutsironie spontan nachvollziehen zu können. Sich damit an den Umstand zu erinnern, welch unsagbaren Luxus man im Vergleich zum Schicksal anderer Erdbewohner genießen durfte, indem man vorgab das gute Essen im privilegierten Ambiente sei wie notdürftige Nahrungsaufnahme, nur weil sie auch auf einem Schiff eingenommen wurde. Es musste klar sein, dass dies nicht ernst gemeint sein konnte. Es wäre sonst zu herablassend und unwahr. Aber so etwas traute ein Asiat einem Westler schon zu. Genau, mit Japanern kannte er sich eigentlich nicht aus. Er musste normalerweise jeden dummen Witz loswerden, der ihm in den Sinn kam. Wenn ihm diesmal sein Unterbewusstsein geholfen hatte, lieber den Mund zu halten, war das ein gutes Zeichen, diese Person sei ihm wichtig. Seine Dränge und Schwächen, das eigene Ich im Zaum halten, weil es sich jetzt wirklich um das Gegenüber drehte. Sogar in so einem eitlen Gemüt, wie diesem Thomas seines. Er fütterte schon sein Ego, da er einen Eroberungstrieb nicht leugnen würde. Darin zum Ziel zu gelangen, war ein gesunder Ansporn, der ihn sogar seine Selbstherrlichkeit aufgeben ließ. Er fing an sich mit ihr zu identifizieren. Richtete seine Aufmerksamkeit auf ihre inneren Vorgänge. Da stünden eigene nur im Weg. Das ist einfühlsam und Thomas meinte es auch ehrlich damit. Er wollte wirklich wissen, was in ihr vorging. Vielleicht mehr als ihr und den Damen im Allgemeinen angenehm ist. Ohne Eigennutz blieb es nicht. Er musste sie schon lieben. Sonst wäre das schnell vorbei.

Seine Psyche glich das bei sich behalten müssen seines derben Scherzes durch das Auftauchen im Traum aus. Hier durfte er es ausgesprochen haben und es war gut angekommen.

Das wiederum Unpassende war ihr Aufenthaltsort. Sie waren spaziert und hatten sich verirrt. Selbst wenn sie spaziert wären, kam man von den Bootsanlegestellen um die Zeit noch nicht so leicht in unbevölkerte Seitengassen, wenn man es nicht darauf anlegte. Und auch da wären vereinzelte Anwohner vor der Tür oder beim Nach­barn. Dafür kannte sich Thomas in Bangkok zu gut aus. Weit hätten sie kaum laufen können. Setzt man vier Kilometer für eine Stunde an, ist das im Gewühl von Bangkok ein zügiger Laufschnitt und kein Maß, das man mit vollem Magen und insgesamt überschreiten möchte, wenn man kein professioneller Stadtwanderer ist. Von Schlendern oder ungehindertem Durchmarschieren kann man sich verabschieden. Es galt immer auszuweichen, sich zu fügen, vorbei zu schleichen, anzuziehen und sich um Menschen, Masten, Stände, Tonnen, Apparate, Rohre, Kabel und Menschen und Menschen zu schlängeln. Da sind vier Kilometer pro Stunde eine frische Leistung für den schwülen Abend.

Tatsächlich befanden sie sich aber ganz woanders und konnten die Strecke niemals gelaufen sein. Nicht, ohne den Spaß daran zu ver­lieren. Trotzdem schien es so und in der Illusion des Traumes kam es Thomas trotzdem auch vollkommen plausibel vor. Erschöpft waren sie schon. Das verstärkte sich seit den letzten zehn Minuten. Etwa solange ihnen immer deutlicher wurde, wie sehr sie sich verlaufen hatten. Es war weit und breit niemand, außer ihnen.

Thomas wunderte sich wirklich darüber. War es denn so spät?

In den frühen Morgenstunden, drei bis vier Uhr konnte es schon ruhig werden. Nur ein, zwei Stunden bevor es wieder richtig los­ging. Aber doch schon seit mehreren Straßen keine Menschenseele, nicht einmal ein Auto oder Motorrad, das vorbei dröhnt.

Jetzt merkte er es. Keine fernen Geräusche. Nicht einmal ein Hund bellte. Alles sah ganz normal aus. Wie es Thomas in den Straßen von Bangkok gewohnt war. Die Häuser dunkel, die Straßenbeleuch­tung an. Nur kein Leben. Diese Stille.

Chi und er waren ganz allein. Wie waren sie dort hingekommen?

Sie waren doch nicht vier Stunden gelaufen. Warum hatten sie nicht längst ein Taxi genommen? Als es noch welche gab. Oder waren sie mit dem Taxi gefahren und dann erst spaziert? Wäre doch Unsinn. Irgendwo auszusteigen. Chi machte sich ein bisschen Sorgen.

In Wahrheit hatte er null Ahnung, wie sie in so einer Situation reagieren würde. Müsste ziemlich ungewohnt für sie sein, mitten in der Nacht auf einsamen Straßen herumzuirren. Thomas stufte sie im Traum als tapfer ein, aber sie sagte, sie fühle sich nicht wohl.

Es gefiel ihm, im Traum durch eigene Gelassenheit bei ihr zur Beruhigung beizutragen.

Er berief sich darauf, man könne im Zweifel immer einfach gerade aus laufen. Irgendwann müsste man auf einen ihm bekannten Ort treffen. Zumindest auf ein Straßenschild oder andere Information, die zur Orientierung taugte.

Ein großer Shopping- oder Büro-Komplex. Die hatten oft blumige Namen gewisser Berühmtheit. Ein auffälliges Bauwerk, Tempel, Megahotel oder Skytrain Station. Aber zu dieser Zeit gab es keinen Skytrain. Dieser Gedanke im Traum verwirrte Thomas im Traum.

Er verdrängte ihn sofort.

Wo niemand wäre, können einen auch niemand überfallen, schloss er logisch auf ihre Befürchtungsäußerungen, ganz ungefährlich stelle sie sich diese einsame Gegend nicht vor.

Das hatte er sich als Junge schon selbst vorgesagt, wenn er alleine im Dunkeln nach Hause gehen musste und es ihm gerade deshalb unheimlich zumute war, weil er sich ganz alleine fand, weil eben sonst niemand mehr unterwegs war. Klar man hatte Angst von etwas Unerwartetem, etwas Gefährlichem erschreckt zu werden. Woher die Gefahr kommen sollte und warum eigentlich aus­gerechnet Böses bevorstehen sollte, konnte nicht begründet sein, außer man argumentierte, vor dem Ungefährlichen, Angenehmen, dem Erfreulichen müsse schließlich keine Furcht entstehen, so dass nur blieb, vor etwas Üblem zu bangen, egal wie unwahrscheinlich es sei. Jedenfalls hatte er als Kind die Logik angewandt, wo nie­mand wäre, würde, solange das so blieb, auch keine Gefahr drohen. Es hatte funktioniert. Gegen das indifferente und emotional nicht steuerbare Gefühl, bedroht zu sein.

Eigentlich schauderte ihm vor der Möglichkeit auftauchender Geister. Vor etwas Überirdischem oder Unterirdischem. Wesen der Nacht. Der Dunkelheit. Sein Realitätssinn bezüglich nächtlichen Gefährdungspotentiales hatte sich bis ins Erwachsenendasein stark versachlicht. An Übernatürliches glaubte er immer noch.

Böse Geister fürchtete er nicht. Die wären, wenn es sie gibt, die Schwächsten und einfach durch Formeln und Gesten der himmli­schen Allmacht mitfühlender Liebe siegreich zu erlösen. Natürlich war er nie welchen begegnet. Bösen Geistern. Auch das bestärkte ihn darin, zu denken, wenn niemand da ist, besteht auch keine Gefahr. Wachsam bleiben sollte man immer und das gelang am besten ohne nutzlose Sorgen vor eingebildeten Katastrophen.

Ehrlich überzeugt gab er ihr zu verstehen, die Thai seien wirklich keine Leute mit üblem Gemüt und im Allgemeinen sei die Wahr­scheinlichkeit eines Überfalls doch gering. Woher sollte man wis­sen, ausgerechnet hier laufen die Ausländer herum? Er sagte, eher würde jeder, der hier verlorenen Touristen begegnete, versuchen zu helfen. Selbstlos, oder um selbst aus der unerwarteten Situation wieder gelöst werden zu können und den Unwägbarkeitsfaktor verirrter Ausländer schnell loszuwerden. Wer kannte die schon? Wenn sie sich um die Zeit hier herumtrieben, wusste man nicht, was dahinterstecken kann. Ängstlichere Seelen könnten so reagieren und höchstens ein dreister Charakter würde Trinkgeld oder eine Zuwen­dung für sein vielleicht nutzloses Bemühen von den wohlhabenden Herrschaften erhoffen.

Thomas war überzeugend, weil er wirklich keine Gefahr witterte.

Als es ihm langsam selbst peinlich und nun doch mulmig wurde, so gar nicht orientiert zu sein, tauchte durch den Dunst der nächtlichen, weniger tropischen, als kanalisationsbedingten Feuchtigkeit, die des heißen Klimas wegen stets aufgestiegen war und sich in der kühlen Luft der Nacht kondensierte, in Sichtweite ein Ecklokal auf.

Beleuchtet und mit einem Schild. Da könnte offen sein.

Mit kräftigen Schritten standen sie bald vor der Tür, denn im Traum wurde die kurze Distanz übersprungen und durch eine unvermittelte Wiederkehr von Thomas' Orientierung ersetzt.

Er las: Soi Saphnakoo. Man sprach sie Soi Sapankuu aus.

Eine leicht missglückte englische Umschrift, die mit dem h nach dem p eine Art verborgenen ch-Laut im p und mit dem n vor dem a eine Eigenart der Aussprache wiederzugeben versuchte, die bereits im a, also quasi vor ihm, da es beim Einsetzen des a-Lautes schon wirksam wird, den kommenden n-Laut vorwegnimmt.

Das a ist dann anders. N-artig.

Man könnte denken, sie hätten es einfach falsch gemacht. Aber es ist an allen Straßenschildern so, dass diese verschobenen und zusätzlichen Buchstaben auftauchen. Wie wenn unter Beratung von altmodischen, englischen Gelehrten mit den hochrangigen Organen der zuständigen Behörde eine möglichst korrekte Umschrift der speziellen Laute dieser indochinesischen Sprache, welche in ihrer Tradition und Herkunft viele Elemente des Pali und Sanskrit enthält, für eine ebenbürtige Bedeutung in der Kultur geschaffen worden war. Schließlich würde diese Umschrift über lange Zeit auf allen Straßenschildern sein und damit die Nation mitrepräsentieren. Man legte sicher keinen Wert darauf, die Namen seiner Straßen, die Sprache durch eine mangelhafte, weil unausgereifte Umschrift zu verschandeln. Die Ausländer sprachen sie trotzdem falsch aus.

Sie lasen falsch ab und wenn sie es sich von einem Einheimischen vorsprechen ließen, sagten sie es eben Sapankuu nach, ohne die Feinheiten herauszuhören, obwohl er sie dreimal zu verbessern ver­sucht, bevor er es aufgibt, weil er bemerkt sie wiederholen stereotyp und flach das immer Selbe, ohne den Unterschied seiner Wiederho­lungen aufzunehmen. Meistens fehlen schon die Tonhöhen der Sprachmelodie. Auf die Wahrnehmung und Nachahmung von Zwischenlauten darf man da nicht hoffen.

In dieser Gegend hatte er oft gewohnt. Nur gerade rechts und dann links ums Eck. In Lee 4 Guesthouse. Das vierte der Familie Lee. Logischerweise. Jedes neue war immer komfortabler geworden. Später gab es auch ein Fünftes. Allemal waren es doch Gasthäuser und in der Ausstattung einfach. Die Zimmer im Erdgeschoss waren bald mehr Notunterkünfte, wenn man auf ein anderes Zimmer war­tete, das am kommenden Tag freiwerden sollte oder weil es einfach keine anderen günstigen Zimmer gab.

Die Erdgeschosszimmer waren unbeliebt, weil sie laut und der Umwelt zu sehr ausgeliefert waren. Dies auch in Bezug auf unter Touristen damals verbreiteten Gewohnheiten des Konsum illegaler Rauschmittel. So wurden sie bald zur Safety-Box-Kammer und Abstellräumen umfunktioniert. Deshalb räumte man aber kein Bett ´raus. Es waren Chinesen. Der Nachtportier konnte sein Nickerchen auf der Pritsche hinter der Theke halten, die tagsüber der Mama, der Herrin des Hauses als Aufenthalt diente.

Das Lee 4 hatte eine Dachterrasse und Zimmer, sowohl mit eigener als auch shared shower. Gemeinschaftsduschen.

Komischerweise waren die Zimmer ohne eigenes Bad geräumiger zum selben Preis. Tja, es musste eben kein Bad darin Platz finden.

Der Wasserverbrauch blieb wohl der gleiche.

Im Moment als Thomas sich klar wurde, dass sie auf die Ecke Ngam Dhupli zugingen, konnte man die Schrift auf dem Schild deutlich lesen: BLUE FOX.

Der Umstand, dass sie niemals soweit gelaufen sein konnten, verblasste hinter seiner spontanen Erleichterung darüber, sich in vertrautem Areal zu bewegen. Denn sie hatten hier nichts zu su­chen, wenn sie zum Amataya wollten. Auf das gesamte Stadtgebiet bezogen, befanden sie sich in einer guten Nähe zum angepeilten Viertel. Dem Sathorn Viertel. Aber auch nur von hier bis zum Hotel wollte er sicher nicht laufen müssen. Zu keinem Zeitpunkt.

„Ich kenne den BLUE FOX“, entwich es Thomas' Lippen unwill­kürlich. „Alles OK.“

Chi fragte nicht, wieso er sich dann hier nicht ausgekannt habe.

Sie zeigte auch kein Anzeichen der Erleichterung, sondern fragte nur völlig sachlich: „Sagt man nicht das BLUE FOX? Es ist doch ein Lokal.“

„Im Englischen ist es doch dasselbe. Man sagt the. Ich sage der, weil das Tier männlich ist. Der Fuchs“, antwortete Thomas.

„Wir sprechen doch kein Deutsch. Woher weißt du, dass ich der sage?“, fragte er.

Es war eine Sequenz, die er in seinem Traum total wirklichkeitsnah erlebte. Es kam ihm so vor, als passiere es.

So seltsam sie sich darstellte.

„Ich wollte es nur wissen. Alles OK“, sagte Chi.

Sie sprachen im Traum wirklich Englisch, aber Thomas konnte natürlich auch als Träumer Deutsch und so kam es zu diesem Gedankenstrang in seiner Illusion.

Dabei handelte es sich tatsächlich um einen blauen Fuchs.

Dieser war im Logo, also der Leuchtreklame an der Bar als stilisier­ter blauer Fuchskopf abgebildet. Obwohl man sicher den einen oder anderen betrunkenen Gigolo oder trübsinnigen Zahn dort immer wieder antreffen konnte, was in allen Kombinationen ebenso als Übersetzung des Namens hätte taugen mögen, rührte der Name wohl typischerweise von einem Etablissement in einem anderen Teil der Erde. Solche Hot Spots hielten häufig für die Bezeichnung von Touristenlokalen her. Ungeachtet einer kaum vorhandenen Ver­gleichbarkeit mit den Originalen. Der Betreiber des thailändischen Ablegers nie dort gewesen und die Kopie alles andere als identisch. Darum ging es nicht. Es ging um die Legende. Man konnte darüber reden. Und dabei behaupten, man finde das Original so toll oder liebe sogar das Land und möchte dahin auswandern und da leben. Oder vielleicht nur das, weil man ja noch gar nicht dort war und nur davon träumte oder das überhaupt nur dem ausländischen Gast auf die Nase band. Wer wollte das schon wissen?

Den Rest besorgte der Alkohol.

War ihm der BLUE FOX auch nicht als ausgesprochen feines Lokal in Erinnerung, so konnte man dort sicher irgendwie an ein Taxi gelangen. Etwas trinken und sich erst mal setzen bis das Tuk-Tuk kam. Bei großzügiger Entlohnung sollte das absehbar nach Wunsch verlaufen.

Bevor sie sich fragen konnten, wieso das Lokal seinen solitären Betrieb aufrechterhielt, obwohl es weit und breit an potentiellen Gästen mangelte, antwortete ihnen der Hinweis an der Tür deren Klinke Thomas herunterdrückte.

Open 24 Hours.

War nach außen auch kein Laut gedrungen, fand sich der Gastraum des Lokals seltsam belebt.

Auf dem Fernsehbildschirm lief Terminator 2. Ein VDO.

Es lief auch bei Thomas' letztem und eigentlich einzigem Besuch im BLUE FOX. Thomas dachte im Traum, dieses VDO liefe immer. Kein anderes. Er hatte sich den Film damals aus Langeweile angesehen. Er hatte nicht schlafen können und außer ein paar Straßenrestaurants mit ausschließlich Thai-Kundschaft oder einem vereinzelten, abgerissenen und offenbar betrunkenen Ausländer, war der BLUE FOX das einzige, was in der Umgebung geöffnet hatte. Sein Bedarf an väterlichen Freundschaften einsamer, abgeris­sener oder nur, jedoch eher außerdem noch betrunkener Ausländer bewegte sich beharrlich in höchst engen Grenzen. Er war hinein und fühlte sich nicht wohl. Für das schon damals ziemlich abgewetzte Interieur waren die Preise gesalzen. Das lag an dem 24 Stunden Service. Die Karte war klein, schlecht und eben zu teuer.

Wenn man sich eine Zeit in Thailand aufgehalten hat, konnte es schon passieren, dass man vom Essen verwöhnt war. Qualität, Geschmack also, Abwechslungsreichtum und Preis.

So heikel wie Thomas ohnehin sein konnte, umso schlechter wäre er hier bedient. Aber er hatte Hunger gehabt und der Film hatte angefangen, ihm zu gefallen. Trotzdem hatte er ihn nicht bis zum Schluss verfolgt, sondern ihn später in angenehmerer Umgebung in Samui noch mal ganz geschaut. Er war wieder so müde geworden und wollte auch nichts mehr bestellen. Da war er gegangen. Der Film war zu dieser Zeit in Deutschland noch nicht einmal in den Kinos erschienen.

Das Lokal war nicht groß und in der Mitte war ein Tisch frei. Derselbe wie damals. Chi steuerte darauf zu. Und setzte sich.

Thomas folgte ihr langsam und nahm neben ihr mit Blick zu einem Kellner an der Bar Platz. Irgendwas stimmte nicht. Die anderen Gäste reagierten in keiner Weise auf ihr Eintreten. Niemand schien sie wahrzunehmen. Nur das Personal hatte sie von Beginn an angesehen. Alle drei.

Jetzt erst merkte er woran es lag. Es gab außer Ihnen keine Gäste. Hatte er sich diese Schemen eingebildet oder war es eine Vor­ahnung auf das Folgende. Logischerweise keine echte Vorahnung, da er natürlich seine eigenen Träume selbst hinbog, wie er mochte und sie nur aus dem Bestehen konnten, was sein Geist preisgab. Eine lineare Zeitachse gab es in Träumen nicht unbedingt und so ist es möglich, dass Thomas im Traum einen weiteren Verlauf linear betrachtet schon vorher erlebte. Sein Wechsel in die scheinbar kon­ventionelle Realität mit der Erkenntnis des leeren Lokals lässt sich ganz einfach bewerkstelligen. Eine Art Traum im Traum. Im Traum ist eben alles möglich, was man sich vorstellen kann. Fragt sich, ob Chi gleichsam das Lokal als vollkommen leer verstanden hat. Dazu kam es nicht, da der junge Kellner auf den Tisch zu getreten war. Es stellte sich vielmehr als irgendwie entsetztes, auf die Weisung des Alten hin nur unfreiwillig, aber routiniertes, wenn auch ohne nutz­lose Hast, praktisch träges Herüberschlurfen dar.

Er fragte auch nicht etwas wie „Your order, please.“ Oder vielleicht weniger höflich, sondern schlicht nichts. Auch nicht „Hello“, was schon sehr unhöflich und daher seltsam wäre, aber Thomas schrieb es der komischen Stimmung und der Ängstlichkeit des Jungen zu und fing selbst an: „Do you have some drinks?“

Erst mal vorfühlen, das mit dem Taxi konnte man ja immer noch aufbringen. Nichts zu bestellen, wäre auch total unhöflich.

„What you want to drink?“, kam als Antwort.

„May I see the menu?“, fragte Thomas, der einfach zwei Coke oder etwas anderes, profanes hätte ordern können, um der Pflicht genüge zu tun. Chi schaute ihn an.

Gerade hatte er die Gelegenheit wahrnehmen und Chi fragen wol­len, ob ihr der Laden auch im ersten Moment als gefüllt erschien. Aber dazu kam es nicht.

Der Junge drehte sich um und nahm seinen Arm über die kurze Distanz zum Tresen hin die zwei Menüs, welche ihm von der Frau neben dem Alten mit ebenso ausgestreckten Armen gereicht wur­den, entgegen. Nur um sich wieder zum Tisch drehen und sie den beiden wortlos zu geben. Thomas nahm beide, ohne ihn anzusehen. Das war Absicht und nicht schlimm.

Sie sahen in das Schriftwerk und Chi bestellte eine Coke. Jetzt sollte Thomas, wenn er sich schon eine Karte bringen hatte lassen, irgendetwas Interessanteres finden, aber auf Cocktails und Long­drinks hatte er keine Lust. Ein Shake würde nur dauern. Da half ihm der Geistesblitz abzulenken und zuerst und unerwartet danach zu fragen, wie lange es dauern würde bis ein Taxi kommt. Der Junge quittierte das mit dem Vorschlag auf die Straße zu gehen und sich eines aufzuhalten, wenn es so weit wäre. Thomas versuchte zu erklären, dies wäre auch seine erste Idee, aber zu lange schon erfolglos geblieben, um sein Gesicht etwas zu retten, wenn er sein Versagen dahingehend eingestehen musste. Ob man nicht eines hierher bestellen könnte, er einen Fahrer vielleicht sogar kannte. Thomas dachte, das sei wohl sicher zu bestätigen. Der Junge schlurfte weg, ohne weiter auf eine Bestellung von Thomas zu warten und fing an mit seinem Onkel, dem Alten zu sprechen. Chi und Thomas hörten davon wenig und hätten selbstverständlich nichts verstehen können, da sie in einer wirklichen Situation Thai sprächen. Nun so auch im Traum.

Daraufhin fing sich der Laden an zu füllen. Es war nicht so, dass Gäste durch die Tür eintrafen. Sie manifestierten sich nacheinander im Raum. Chi schien das nicht zu überraschen, was darauf hindeu­ten könnte, sie hätte die Gestalten erwartet oder vielleicht die ganze Zeit gesehen. Thomas wusste es noch immer nicht. So war eben sein Traum. Er selbst blieb auch darin verwundert und fühlte sich nicht wohl damit. Die Anwesenden schienen sich zum Teil zu kennen und saßen in Gruppen an den Tischen oder standen an die Wand gelehnt, Frauen die Hüften zur Musik wiegend. Thomas hörte jetzt Musik. Rockmusik. Das Publikum war eher mehr, als weniger betrunken und entsprechend ausgelassen. Bald trat jemand an ihren Tisch und fragte freundlich nach. Lud sie ein, mitzutrinken.

Da brachte der Junge zwei Coke, die Thomas dankend bezahlte. Der Junge wandte sich ab. Taxi momentan kein Thema. Und drin waren sie in einer der vielen Nächte, die der BLUE FOX in vergangenen Zeiten gesehen hatte. Der Junge war nun jünger und auch der Onkel sah schon weit fröhlicher aus. Seine Schwester werkelte zufrieden zwischen Spüle und Zapfhahn.

Im Traum verbrachten sie nun gut und gerne drei bis vier Stunden in der Gesellschaft von einer Mischung aus jungen und älteren Backpackern, Sinnsuchern, Weltreisenden, Kiffern, Alkoholikern, Gescheiterten, Selbstbefreiern, Freiern, Hippies, Rockern, die alle ihren Spaß hatten und vor allem das nicht mochten: Als Mitglieder von einer dieser Kataloggruppen bezeichnet zu werden. Jetzt gerade waren es lustige Menschen, die zusammen in einer Kneipe tanzten, redeten und herumsaßen. Chi und Thomas tranken längst selbst Alkohol, der ihnen ausgegeben wurde, bis sie wieder an der Reihe waren, zu spendieren. Inzwischen war das finanziell für Thomas nicht das geringste Problem und Chi wurde von ihm ausgehalten. Was sie schmunzeln ließ. Wusste sie doch um den weit größeren Reichtum ihrer Familie, was Thomas aber eigentlich selbst im Traum noch nicht wissen, sondern nur ahnen konnte. Er verkaufte sie als japanische Prinzessin, wenn sie nachfragten, warum sie so fein gekleidet waren, was in dieser Gegend eher nicht verbreitet war. Chi berief sich nur zu gerne darauf ganz schlecht Englisch zu verstehen, hielt sich wie eine Sphinx geheimnisvoll bedeckt und genoss so eine Beobachterrolle. Man tratschte über alles und jeden, wobei Thomas seine eigene Traveler-Zeit zu Hilfe kam und ihm manchen Respekt einbrachte, da seine Erzählkunst hier auf frucht­baren Boden fiel. So viele Geschichten jeder selbst beisteuern konnte, so interessant war doch, was andere erlebt hatten. War es ähnlich, erleuchtete es das Verständnis auf eigene Erlebnisse, war es neu, konnte man etwas lernen. Am besten blieben doch die lustigen, magischen, wilden und wunderbaren Ereignisse. Man war bereit alles zu glauben. Und auch ein bisschen zu übertreiben. Viele sehr. Der Morgen dämmerte bis sich die Gemeinschaft langsam auflöste. Frühstücksgäste gab es kaum. Keine.

Thomas und Chi blieben zurück. Als Einzige.

Wollten sie nicht schon längst ein Taxi?

Thomas winkte beschwippst dem Jungen, der jetzt wieder älter wirkte. Na ja, nach so einer Nacht. Und erinnerte ihn an das Taxi.

Es würde bald kommen.

Der Onkel kam herüber.

Freundlich, fast väterlich sprach er zu Thomas und Chi.

„Vielen Dank. Gäste sind hier selten geworden.“

Thomas stutzte.

„Ihr seid die Einzigen.“

Thomas hob die Augenbrauen. Also doch, dachte er.

„Ja richtig, das Lokal ist leer. Jetzt, als ihr vorher hereinkamt und die ganze Zeit“, sprach der Onkel weiter, ohne dass Thomas gefragt hatte. „Ihr seid die einzigen Gäste seit langem.“ Pause.

„Da wollten wir die Gelegenheit nicht verpassen, bessere Zeiten wieder aufleben zu lassen.“

Das reimt sich, dachte Thomas im Traum.

Diese Ansprache träumte er in Deutsch. In Englisch, der Sprache, in welcher der Onkel in einer realen Situation zu einem Ausländer sprechen würde, reimte es sich nicht. Hätte sich ein träumender Poet einen englischen Vers ersonnen, so könnte er nur holprig und den Wortschatz des Onkel übersteigend ausfallen, der sicher in seiner Rede keinen Wert auf Reime zu legen vorhatte.

„So haben wir die Geister der früheren Gäste in die Bar projiziert und feiern lassen.“

„Die Geister?“, dachte Thomas.

Ich war ja auch einmal Gast, bin aber nicht tot.

Chi schien das alles gar nicht zu kümmern.

Sie hörte selig lächelnd zu.

„Wir sind dankbar, dass ihr geblieben seid und mitgefeiert habt“, fuhr der Onkel fort.

„So konnten wir ein seltenes Mal wieder erleben, wie es damals war, als hier eines der Backpacker-Zentren war.“

Damals, als das Hotel MALAYSIA jedermann ein Begriff war, oder zumindest denen, die es anging. Es hatte einen eigenen Status und das bald gegenüber eröffnete BOSTON INN bediente zwar auf­grund seines aktuelleren Standards neuerer Ausstattung ein leicht gehobenes Klientel, schaffte es aber nie, die Legende zu erreichen. Im MALAYSIA wohnten sie in den Anfängen schon deshalb, weil es die in der Folge in der Umgebung sprießenden Gästehäuser noch nicht gab. Es war weder eigentlich billig noch zu den wirklich besseren Hotels gehörend, doch für Devisenzahler, einfach des Währungsgefälles wegen, günstig und locker zu bezahlen und dabei mit im Vergleich zu den Guesthouses richtigen Zimmern gesegnet. Telefon, Minibar, also kleiner Kühlschrank, Schreibtisch, TV und Vorhängen als Standard der Ausstattung.

Vor allem mit jeweils eigenem Bad.

Es gab Zimmer mit Air Condition, die teurer und daher nicht so beliebt waren. Hinzu kam, das Ventilatoren für Raucher praktika­bler sind, als geschlossene Fenster und Air Con. Denn so lautet die symptomatische Darstellung jener Zeitalter: Die Duldung und Praxis des Genussmittelkonsums ausländischer Besucher war trotz nach dem Gesetz schwerer Strafen selbst auf Besitz und Konsum von Verbrauchsmengen schon allein der Preise wegen in beider Hinsicht recht großzügig geworden. Sowohl die Staatskräfte hatten sich arrangiert, wie auch die Verbraucher ließen sich schwerlich aufhalten. So geht die Geschichte, ein forscher Ruf durch die Gänge des MALAYSIA, es fände eine Razzia statt, was gerne als Streich Einsatz fand, habe regelmäßig zu durchgängiger Betätigung der Toilettenspülung in praktisch allen bewohnten Zimmern geführt. Eventuell war es auch ein Verkaufstrick der Angestellten, die fürsorgliche Warnungen lieber einmal zu oft aussprachen, als den Gästen Ärger einzutragen. Logischerweise musste nach dem falschen Alarm schnell Nachschub her. So ließen sich die Händler einen freundlichen Ruf durch die Stockwerke sicher ein schönes Trinkgeld kosten. Tja, die Leute können einfach nicht genug bekommen. Tendenziell muss für die Marihuana-Händler mit den Besucherströmen junger Reisender aus dem Westen ein Eldorado angebrochen sein. Zahlungskräftig, friedlich und unwissend. Gute Umsätze und eine Polizei, die verständlicherweise weniger Lust auf internationale Komplikationen, als auf freundliche Geschenke hatte. Was wäre schon die Alternative gewesen? Ständig Festnahmen ausländischer Besucher? Bürokratie, überfüllte Zellen, die Gewalt zwischen Insassen begünstigten und eine Erklärungsnot gegenüber der Obrigkeit, weswegen in ihrem Distrikt so viele Probleme auf­kämen, sie ihn wohl nicht im Griff hätten und ob sie ihren Job nicht richtig machten. Nichts wie Ärger also.

Da bevorzugte man lieber die Variante, alles sei bestens im Lot, die Sache ruhig, außer vereinzelter Kleindelikte. Harmlos, wie alle Ausländer und ihre Angelegenheiten. Eine solch wunschgemäße Version würde die Obrigkeit so wenig überprüfen, wie sie diese interessierte, solange man die Version einigermaßen glaubwürdig vermitteln konnte, da die Situation effektiv entspannt war. Solange jeder bekam, wonach ihm war. Ansonsten konnte man auch Geschenke an bestimmte Stellen weiterleiten, die so was auch mochten und sich darüber noch weniger um den Zustand und Verlauf in den Vierteln sorgten.

All das war weit sinnvoller als internationale Komplikationen, wenn wirklich Härte gegen einen Ausländer anzuwenden man sich nicht entziehen konnte, um nicht an Gesicht zu verlieren, weil unnötiger Wind gemacht worden war. Keinesfalls erstrebenswert und enorm ungünstig, sollte es sich bei den ungezogenen jungen Leuten um Kinder reicher oder bekannter Personen handeln. Da musste man als Polizist schon aufpassen, dass denen nichts geschah.

Natürlich verschlechterte sich die Lage auch wieder und Problem­fälle sammelten sich an. Dazu kursierte aufkeimende Gier und Revierkämpfe folgten, denn auch andere schätzten das angenehme Geschäftsklima in einer Nachtwelt des Feierns als eine für sie passende Perspektive. Höheres Einkommen durch scheinbar anstrengungslosen Handel, dessen Produktnachfrage weder nach Innovation verlangte, noch Werbung erforderte.

Der BLUE FOX war direkt gegenüber dem MALAYSIA.

Open 24 Hours.

Was musste hier für ein Durchlauf geherrscht haben? Selbst wenn sich über Wochen auch viele Gäste, die dieselben blieben und auch nach Monaten wieder von Reisen nach Bangkok kamen, dort auf­hielten und es echte Langzeitanwesende gab. Damals hatte sich eine noch zahlreichere Familie die Schichten im BLUE FOX geteilt und waren das nicht alle Teilnehmer des Unternehmens.

Eine Institution sehr asiatischer Ausprägung.

Vollzeitversorgung des Grundbedarfes. Das braucht jeder.

Vor allem in der Fremde. Da wird der Mensch zum Mensch in seinem bescheidenen Wunsch nach Nahrung, Sozialkontakten, Interaktion, Anerkennung, Rausch. Immer willkommen zu sein.

24 Hours.

Der Uterus-Effekt einer höhlenheimeligen Kneipe, die immer auf hat. Geborgenheit. Was dem Reisenden in der Fremde manchmal abgeht, weil er erkennt, dass alles um ihn herum neu und deshalb eigentlich nicht vertraut, sondern fremd ist.

Die Macht der Masse an Menschen, die hier sich betrunken haben, begegnet sind, die Affären, die hier einen Anfang gefunden haben, Trennungen, Streit, Schlägereien, Geschäfte und ein gehöriges Maß an vertrödelter Lebenszeit schwang nach. Es war so einzigartig wie profan. Lokale dieser Art gibt es auf der Welt Tausende.

Die Geschichten, denen sie ein zuhause gaben, sind alle unwieder­bringlich. Der Rausch des BLUE FOX, einer kleinen Bar an der Ecke, die als Leuchtturm des Viertels für Verirrte der Nacht einen Riesenreibach machte und dabei voller Abenteuer war, bedeutete wahnsinnig viel Arbeit, einen Haufen Geld und ein aufregendes Leben, das den Thai beizeiten auch ganz schön auf die Nerven ging. Manche der Ausländer waren doch zu irre. Ein Trott und der Alltag langweilte die Jungen, aber allen war klar, noch besser wie hier wird es nirgends, wo sie nicht herkamen. Unter den Familien ist es nicht üblich, eine Goldgrube gegen moderne Ideen über ein freies Leben einzutauschen.

Da werden sie sich bestimmt einig. Wenn die unzweifelhaft niemals in Frage zu stellende Autorität des Alten den Nachwuchs vielleicht an die Sicherheit seiner Überzeugungen soliden Einkommens erinnern musste, waren sich jene eigentlich selbst im Klaren, dass sie schwer auskamen und so wenigstens überdurchschnittlich dastanden. Etwas anderes hätten sie nicht gelernt und von Luft und Liebe zu leben, bildeten sie sich schon aufgrund ihrer Erziehung und Erfahrung der Lebensrealität eines Normalbürgers nicht ein. Höchstens Mönch konnte man werden, was dem Alten gefallen hätte, entgegen dem, des Arbeitskraftverlustes. Doch Blut hatten sie schon geleckt und mit Geld war man nicht primär auf das Leben im Kloster aus.

Jetzt herrschte nur noch Nostalgie. So wie der Onkel angab.

Der Bedarf an sentimentaler Auferstehung besserer Zeiten war höchst real. Hatte der BLUE FOX in gleichwohl klassischer, wie bedauerlicher Tragik einem der befallartig über das Land Einzug haltenden 7eleven Läden weichen müssen. Diese 7eleven Läden nisteten sich mit Vorliebe an Straßenecken ein. So konnte man sie in zwei Straßen schon von weitem erkennen und von ihnen betreten und verlassen werden. Das erhöhte den Durchlauf. Und so das Geschäft. Viele nahmen gern beim Abbiegen schnell etwas mit. Zigaretten, den Take-Away-Kaffee, Feuerzeug, Getränk, Cracker. Tja, Amerikaner. Haben das Marketing erfunden. Danke.

Weil die Amerikaner mit ihrer unbändigen Fantasie so gerne glaubten, wir wären ihnen für die Einführung des Marketing wirklich dankbar, haben sie auch noch das Investment Banking erfunden. So sind sie eben.

So verschwand eine Institution als Opfer der wirtschaftlichen Ver­hältnismäßigkeit. Gegen 7eleven konnte sich der blaue Fuchs nicht behaupten. Aber 40 Meter weiter die Straße hinunter, Richtung Rama IV gab es ein Lokal sehr ähnlichen Couleur: WONG BAR.

Kleiner und anders. Open 24 Hours.

Mit Supermarktumsatz konnte man nicht konkurrieren. Nachfrage für das jederzeit willkommen bestand jedoch wie eh und je.

Auch in und vor dem 7eleven fanden sich nachts Trinker und einsame Wanderer ein, um sich die Zeit mit Unterhaltung zu ver­treiben und herumzuhängen. Oder einfach weil es nirgends sonst das Bier billiger gab. Immerhin war man an der Quelle. Zigaretten, Kondome, Eis, Wasser und alles billig. Flair hatte es keinen.

Die Mitarbeiter der Filiale waren sich wohl bewusst, von Gasthäu­sern untersten Preisniveaus umgeben zu sein und hatten sich an ihr Publikum gewöhnt. Solange es keinen Ärger gab und alle kauften.

Der Onkel im Traum schloss seine Dankeshymnen für beider Besuch und noch mal, dass sie nicht gleich wieder abgefahren seien, mit einem Wai und der Junge trat hervor, sprach, das Taxi sei da und ging zur Tür nachzusehen. Thomas fiel ein, dass er vorher noch auf die Toilette gehen sollte, weil er spürte, wie die Drinks seinen Körper wieder verlassen wollten.

Er wachte auf. Es drückte arg. Er freute sich, nicht im BLUE FOX, sondern im weichen Bett des Deluxe Room zu sein. Dann schnell zur Toilette, egal wie müde. Er wollte schnell hin, aber Chi nicht wecken. Also langsam bewegen, er war aber ungeschickt und stieß sich das Schienbein. Was hatte er nur für Zeug geträumt?

Die durch die Erleichterung von seinem Körper abfallende Spannung ließ auch seine Gedankenwelt wieder klarer scheinen. Thomas wurde sich entgegen der realistischen Wirkung des Traumes auf seinen Geist zusehends bewusst, dass es keiner Erklärungen der Geschehnisse darin bedurfte, da der gesamte Inhalt schlichtweg ein Traum und damit eben unwirklich war. Egal was ihm darin seiner tatsächlichen Erinnerungen an den BLUE FOX wegen als plausibel, möglich oder wahr vorkommen mochte. Sein Bewusstsein trennte langsam die Wahrnehmung seiner Umgebung, des Hotelzimmers und die Wahrhaftigkeit seiner aktuellen Situation des Urinierens, mit einer scharfen Japanerin im Rückhalt von der vor Minuten noch seinen Geist umfassend beherrschenden Illusion der nächtlichen Abenteuer in heruntergewirtschafteten Nachtlokalen ferner Stadtviertel. Etwa in der Art wie sich eine Suspension chemisch in ihre Anteile trennen lässt. In der Wirkung konsequent, aber unmöglich auf einen Schlag. Hatte er zu Beginn noch versucht, die eine oder andere Diskrepanz durch Überlegung zu überwinden und gegrübelt, was eigentlich Chi von der Geisternummer halten mochte, gab er letztlich jegliche Analyse auf und versuchte, nur mehr eine möglichst detaillierte Rekapitulation des Verlaufes zu bewältigen. Logisch musste es nicht sein. Es war ein Traum.

Seine Blase war unangenehm gefüllt gewesen und jetzt geleert.

Dies stellte sich äußerst real dar und die weitere Erkenntnis über die im Bett liegende Chi gestaltete sich nicht so unerträglich, dass man sie dem auch abgeschlossenen Traum nicht vorziehen mochte. So wenig es einer Verbindung beider Begebenheiten bedurfte, keine Notwendigkeit zum Einklang stattgefundener und projizierter Erleb­nisse bestand, so durchstreifte doch seine psychische Verarbeitung, es sei so oder so nun gut, da man schließlich im Hotel gelandet war und bereits geraume Zeit geschlafen hatte.

Sofort vergaß er diesen Unsinn wieder, da es Unsinn war.

Hätten die Ereignisse seines Traumes stattgefunden, müssten sie tagsüber geschlafen, das Frühstück versäumt haben und es wäre bestimmt schon Nachmittag. Dagegen war es noch immer dunkel. Chi´s Duft stieg von seinem Penis hoch zu seiner Nase.

Das manifestierte die konventionelle Realität aktuell als sogenannte Wirklichkeit. Angemessen pragmatisch dachte er daran, sich die Hände zu waschen, ließ es aber in einer Lust am Physischen, körperlich Animalischen sein, da er trotz großem Gefallen an einer gezielten Sauberkeit, momentan die Säfte und den Geruch ihrer beider Körper und deren Folgen des Aktes ausgesprochen genoss und ziemlich richtig damit lag, die ein, zwei Tropfen Urin, welche vielleicht ob seiner Notdurft nach dem Abtropfen hinzugekommen sein mochten und was davon überhaupt an seinen Fingern hatte bleiben können, machten im Gesamtdunst des Bettes kaum einen Unterschied. Die kühle Trockenheit der Air Con half allerdings eine Müffelgefahr zu begrenzen.

Thomas schlich zurück.

Chi hatte ihn schmunzelnd unter der Decke hervor durch die Glaswände des Bades beobachtet, schloss aber die Augen und stellte sich schlafend, als er sich wieder zu ihr wandte, um das Schlafzimmer zu betreten. Erst als er zu ihr ins Bett kroch und dazu die Decke hob, fragte sie: „Was ist? - Are you OK?“

„Sicher. - Sure“, sagte er schnell und küsste sie aufs Ohr, den Arm um sie gelegt.

„Du warst unruhig im Schlaf“, setzte sie nach.

„Ich hab´ geträumt“, antwortete er und so blieb ihre Frage nicht aus, worüber.

„About what?“

„Erzähl´ ich dir morgen.“

„Tell me now. I don´t want to wait“, bat sie ganz sanft darum und nahm Thomas die Sorge, er müsse sich in langen Erklärungen ergehen.

„Just tell me. It´s OK.“

Chi dreht sich dabei nicht zu ihm herum, sondern blieb einfach in seinem Arm liegen, als wollte sie nichts lieber, als in seiner Liebko­sung weiterschlafen und genau so war es auch. Nur den Traum brauchte sie noch dazu und morgen wollte sie davon nichts mehr hören. Da war ein neuer Tag zu leben. Keine alten Träume.

„Wir haben uns auf dem Heimweg vom Restaurantboot total verlaufen, bis wir mehr zufällig, als orientiert in einem ehemals legendären Durchmacherschuppen einer ganz anderen Gegend gelandet sind, wo wir uns ein Taxi besorgen wollten. Vor langer Zeit war ich einmal dort. Es gibt die Bar wirklich. Reichlich wilder Laden“, erzählte er ruhig.

„Die Betreiber haben aus Wehmut die goldenen Zeiten des Lokales anhand der Geister ehemaliger Gäste uns zu Ehren heraufbe­schworen, da wir die einzigen Besucher seit langem waren. Es gab eine ziemliche Party und es ging die ganze Nacht, bis sich der Hausherr am Morgen bei uns höflich bedankte und uns darüber aufklärte, bevor wir heimfuhren.“

„Ganz schön verrückt. - Craaazy“, drößelte Chi in ihr Kissen und schlief zufrieden weiter.

Thomas fragte noch: „Was denkst du?“

Vielleicht in wahrer Hoffnung von ihr noch etwas über Sinn und Zweck des Traumes zu erfahren, aber Chi brachte nur noch höflicherweise ein: „Please let´s sleep“, über ihre Schnurlippen und Thomas glaubte, auch noch einen: „Sweet dreams“, Wunsch zu hören, aber da war auch er schon wieder auf der Passage hinüber in das Reich von König Morpheus.

Chi´s Körpergeruch in seiner Nase, ihre Pobacken an sein jetzt ausgezeichnet entspanntes Becken gedrängt, seine Hand auf ihren Brüsten und die weiche Wärme ihres Körpers gegen die frische Kühle der Air Con, das hintergründig durch die Schallschutzfenster aufwehende Brausen der erwachenden Stadt, der feine Stoff der Bettlaken um ihre Haut und die Haare auf seiner Wange.

Niemand in seiner Situation hätte die Rezeptur dieses magischen Schlafmittels in weitere Zutaten zerlegen wollen.

Skyline Deluxe

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