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ROBERT VON BALSA (Sz. 1)

Ola

Mann, wo warst du? Ich such dich schon seit zwanzig Minuten. Ich hab nachher noch was vor.

Robert

Stopp!

Ola

Was?

Robert

Stopp! Zieh dir das erstmal rein: Wir haben Budget.

Ola

Budget? Was für ein Budget?

Robert

Na, für die Dramatisierung des Romans! Ich hab sie eben ergriffen, die Gelegenheit – beim Schopfe, sozusagen – und hab dem Walser unser Projekt erläutert. Die Transformation des Orlando in ein anderes Genre, von Mann zu Frau, von Roman zu Theater ... und er hat gesagt, das ist ihm selten begegnet, dass Schüler so viel Eigeninitiative zeigen, und dann hat er mir 200 Euro Budget versprochen. Er hat gesagt, das kann sich die Schule gerade noch leisten, ist ja schließlich Kulturzweig hier. Gut, oder?

Ola

Hä? Wir haben keine Idee, aber ein Budget?

Robert

Haben wir doch! Wir machen ein Theaterstück draus!

Ola

Und dafür hat er dir jetzt 200 Euro versprochen? Für was denn?

Robert

Für die Kostüme!

Ola

Kostüme?

Robert

Na, wenn wir den Orlando in ein Theaterstück verwandeln, brauchen wir doch Kostüme.

Ola

Aber von einer Aufführung hat doch überhaupt niemand was gesagt! Nur weil wir das schreiben – und das war ja bislang auch nur so eine Idee –

Robert

Aber ohne Aufführung bringt das ja alles nichts, das ist doch logisch. Und da hab ich ihm gesagt, dass wir die Geschichte über die Kostüme erzählen wollen, dass die Kostüme ein Spiegel des Textes sind, sozusagen. Verstehst du gerade nicht, oder? Warte, ich geb dir ein Beispiel. Frei assoziiert. Königin Elisabeth. Die Riesenspinne, die Orlando in ihrem Netz fängt. Die ihn benutzt, aussaugt, die kompensiert, die ihn, ja, irgendwie fast sexuell missbraucht. Und jetzt stell dir das mal so vor: Ein Reifrock, so breit wie die Bühne. Elisabeth steht auf einem Podest in der Mitte ihrer eigenen Kleidung. Eine fünf Meter lange Samtschleppe, in der sich Orlando verfängt. Na?

Ola

Na?

Robert

Na?

Ola

Und das hast du jetzt dem Walser erzählt?

Robert

Natürlich nicht im Detail. Das mit der Samtschleppe ist mir auch erst auf dem Weg hierhin eingefallen. Wenn die Kreativität erstmal fließt... – Na? Was denkst du?

Ola

Naja...

Robert

Na?

Ola

Also, eigentlich zwei Sachen, glaub ich.

Robert

Jetzt mach es nicht so spannend, ich bin gerade total im Flow, ich will weitermachen!

Ola

Naja, erstens ... bist du dir sicher? Mit der Interpretation? Mit der Riesenspinne? Elisabeth ist doch auch nur eine alte, einsame Frau ... und Missbrauch, das ist ein krasser Vorwurf – ich les das eigentlich als was Gegenseitiges.

Robert

Meinst du, Orlando ist auch in Elisabeth verliebt, oder wie?

Ola

Naja, schon.

Robert

Schwachsinn.

Ola

Warum?

Robert

Das ist doch nicht so eine Harold and Maude – Geschichte.

Ola

Hm.

Robert

Und?

Ola

Was, und?

Robert

Zweitens?

Ola

Ach so, ja: Wie willst du mit 200 Euro Budget so einen fetten Reifrock und eine fünf Meter lange Samtschleppe finanzieren? Weißt du eigentlich, was sowas kostet?

Robert

Mann, Ola! Jetzt sei nicht so kunstfeindlich! Damit das Mögliche entsteht, muss immer das Unmögliche versucht werden! Hermann Hesse.

Ola

Robert, ich mein nur – wir reden hier jetzt über Kostüme, aber sollten wir nicht erstmal den Text schreiben?

Robert

Wir können das ja aufteilen. Du machst den Text und ich mach das mit den Kostümen. Und das Bühnenbild noch dazu.

Ola

Ich weiß nicht ...

Robert

Ich mach auch die Besetzung.

Ola

Hm.

Robert

Jetzt komm, Ola! Deswegen wollte ich doch unbedingt mit dir zusammenarbeiten! Du bist der einzige Mensch in diesem Kurs, der was drauf hat!

Ola

Außer dir, meinst du?

Robert

Komm, du musst doch zugeben, dass man da sonst mit niemandem arbeiten kann. Bei den Jungs reicht der Horizont bis zum Fußballplatz und die Mädchen sagen sowieso immer nur zu allem Ja und Amen.

Ola

Da sind einige echt okay, du musst sie halt nur mal ausreden lassen.

Robert

Muss ich bei dir doch auch nicht! Du unterbrichst mich doch auch einfach selber! Und das ist auch richtig so, Gedanken müssen ja schließlich raus, sie sind sonst wieder über alle Berge, bevor man nach ihnen greifen kann. Warum können die anderen Mädchen nicht einfach auch so mit mir umgehen wie du?

Ola

Ach, Robert ...

Robert

Was?

Ola

Nichts. Ich muss gleich los. Vorschlag: Wir schreiben zuhause erstmal sowas wie eine Ereigniskette, und dann treffen wir uns morgen um Vier hier und gleichen das ab.

Robert

Du bist immer so pragmatisch. Wir sind Künstler.

Ola

Wir sind keine Künstler, Robert. Wir sind nur ein paar Schulkinder mit einem Schulprojekt.

Robert

Bedeutungslos, vergänglich ... mit der Einstellung können wir uns auch gleich erschießen.

Ola

Ich muss los.

Robert

Hab ich was Falsches gesagt?

Ola

Um sechs hab ich Plenum. Jeden Dienstag.

Robert

Was soll das denn überhaupt für ein Plenum sein?

Ola

Komm doch einfach mit, dann weißt du's.

Robert

Nein, ich möchte diese ganzen Ideen noch zu Papier bringen, nicht, dass davon was verloren geht ...

Ola

Wie du meinst. Bis morgen, Mylord. Um Vier. Nicht vergessen.

Erzählendes

Haben Sie das bemerkt? Diese Gruppe junger Mädchen, die sich vor ein paar Minuten am anderen Ende der Wiese niedergelassen hat?

Nein? Nun, seien Sie versichert: Robert auch nicht. Übersehen hat er demnach auch ihre verstohlenen Blicke, die sie abgewendet haben, wann immer Roberts Begleiterin Ola einen davon zu fangen versucht hat. Wir wollen unsere Geduld jedoch nicht mit geistlosen Dialogen überstrapazieren, deshalb soll der Bericht aus zweiter Hand genügen: Das breite Lächeln, mit dem die heimliche Anführerin dieser Gruppe Ola bedenkt, als diese an den Mädchen vorbeigeht, ist hinterlistig und falsch; die Frage, wo Ola ihren Rock gekauft habe, der doch ein wenig nach Straßenstrich aussehe, ist zuckersüß dahergesäuselt und gleicht weniger einem Schlag ins Gesicht als einem schmerzhaften Ziepen in den Haaren; und Olas gepresste Antwort –

Ola

Second Hand, von deiner Mutter.

Erzählendes

– lässt der Widersacherin kaum eine andere Wahl, als Ola auf die Füße, die in hübschen, offenen Schuhen, passend zum Rock, stecken, in hohem Bogen zu spucken; und Ola schaut die Anführerin fassungslos an und diese lächelt wieder, breit und unschuldig –

Robert

Alles klar, Ola?

Ola

Was?

Robert

Oder ist noch was?

Ola

Nein. Nein, alles klar, Robert.

Erzählendes

– und das Lächeln der Anführerin wird noch breiter, und Ola sagt:

Ola

Nur, dass du es weißt – der hat nur nicht mitgekriegt, was hier abgeht. Deswegen sagt der nichts. Der ist manchmal ein bisschen dumm.

Erzählendes

Und mit erhobenem Kinn und zusammengepressten Lippen zieht sie von dannen, während Robert, der von dem Geschehen tatsächlich so gar nichts mitbekommen hat, Zeile um Zeile seines Notizbuches füllt.

Einen sechzehnjährigen Jüngling habe ich gewollt, einen wohlgestalteten, intellektuell verständigen sechzehnjährigen Jüngling mit umfassenden Kenntnissen der alten Meister – Hesse, Marx, Adorno; einen Träumer und Gedankenakrobaten. Diesen sechzehnjährigen Jüngling habe ich bekommen, der, so muss ich eingestehen, meine Kriterien samt und sonders erfüllt: Robert von Balsa. Wie sein Name vermuten lässt: Aus gutem Hause, jedoch bescheiden genug, damit nicht zu prahlen. Er verschwendet nicht einmal besonders viele Überlegungen an die soziale Stellung seiner Familie. Dadurch bleibt umso mehr Zeit für philosophische Gedanken, für sportliche Ertüchtigung und für den Erwerb schöner Kleidungsstücke, denn für ebenjene hat Robert ein Faible.

Sie schauen ja immer noch so. Warum? Da bekommen Sie doch jetzt Ihre Geschichte ...

Ach so. Natürlich. Woher ich das alles wissen will. Aber das liegt in der Macht einer auktorialen Erzählerfigur, wissen Sie? Ich sehe alles, ich weiß alles, und doch habe ich die Freiheit, mich an die Perspektive einer einzelnen Figur, eines Protagonisten, zu heften. Ich präsentiere: Robert von Balsa. Ein Protagonist. Unser Protagonist, dessen Geschichte hier erzählt werden soll. Und hier, an dieser Stelle, stehen wir bereits vor unserem ersten Dilemma.

Polina betritt die Szenerie.

Polina

Gehst du mal ein Stück zur Seite?

Robert

Klar.

Polina

Merci.

Ohne Polina anzusehen, rutscht Robert zur Seite, weiterhin in seine Notizen vertieft. Polina beginnt, ein Seil zwischen zwei Bäumen zu spannen.

Erzählendes

Die Gefühlswelten eines sechzehnjährigen Jungen mögen abgründig sein, dramatisch – bei Robert vermutlich noch dramatischer als bei anderen Jungen – jedoch bieten sie eines gewiss nicht: Das, was noch nie zuvor gewesen ist.

Polina

Was schreibst du denn da?

Robert

Ein Konzept.

Polina

Was für ein Konzept?

Robert

Ein Ausstattungskonzept für eine Theaterinszenierung von Virginia Woolfs Roman Orlando.

Polina

Wie unfassbar langweilig!

Robert hebt den Blick und sieht Polina an.

Erzählendes

Und so wirkt jede Beschreibung dessen, was Robert in diesem Moment, da er seinen Blick hebt, wie der Schlag trifft, abgenutzt; jeder freiwillige und unfreiwillige Gesichtsausdruck, den er angesichts dieses Gefühls präsentieren könnte, schon tausend Mal da gewesen. Jede Frucht, mit der man die Unbekannte mit dem russischen Akzent vergleichen könnte, haben wir schon unschön verpackt in Supermärkten verrotten sehen; jedes Tier, das ihr ähneln könnte, lag schon einmal gut durchgebraten auf unseren Tellern. Und so bleibt uns nur, blind zu glauben: Zu glauben, wenn ich sage, dass Robert in aller Unschuld in diesem Moment von einem sehr, sehr großen Gefühl überwältigt wird.

Polina

Jetzt schau nicht so beleidigt.

Robert

Ich bin nicht beleidigt, ich bin nur – was machst du da?

Polina

Dehnen. Ich dachte, um die Uhrzeit hätte ich hier ein bisschen Ruhe, aber nein.

Robert

Wer bist du?

Polina

Ich bin Polina Dawydow.

Robert

Nein, ich meine ... wer bist du?

Polina

Ich bin Artistin in einem Wanderzirkus, wir haben heute auf der Stadtwiese aufgebaut.

Robert

Aber wer bist du?

Polina

Weiß der Teufel, worauf du hinauswillst. Kannst du bitte mal meinen Oberkörper auf den Boden drücken? Danke. Schön, hier doch nochmal jemanden zu treffen, der zupacken kann.

Robert

Wofür trainierst du, Polina Dawydow, Zirkusartistin Polina Dawydow?

Polina

Eine neue Nummer, morgen ist sie fertig. Dafür muss ich üben. Ungestört. Ich zeige nicht gerne unfertige Nummern.

Robert

Du meinst ... ich soll gehen?

Polina

Du kannst sie dir gerne morgen anschauen. Als Erster. Willst du?

Erzählendes

Wie interessiert man also gestandene Zuschauer für die Liebesgeschichte von Jugendlichen? Durch blumige Poesie, durch präzise Sprache, durch starke Bilder?

Robert

Ja, ja, tausend Mal Ja, Polina Dawydow!

Polina

Na gut, dann morgen um Fünf, hier an dieser Stelle.

Robert

Ich werde da sein. Nirgendwo lieber.

Polina

Wenn du meinst. Wie heißt du überhaupt?

Robert

Robert. Robert von Balsa.

Erzählendes

Oder einfach nur, indem man die Feststellung, dass der Protagonist in sein unvermeidliches Unglück läuft, bereits im Vorfeld eindeutig und ohne jeden Zweifel trifft? Tatsächlich – da findet sich der Zuschauer in der Rolle eines zufälligen Zeugen bei einem schlimmen Verkehrsunfall. Der Selbsterhaltungstrieb ruft „Geh weg! Geh weg!“, der Anstand ruft „Geh weg, aber ruf vorher noch einen Krankenwagen!“ – und doch hat der arglose Passant keine andere Wahl als stehenzubleiben vor den Schrecklichkeiten und zu schauen, zu schauen, zu schauen.

Das klingt aussichtsreich! Das verspricht Erfolg! Heute Abend werden Roberts Gedanken ganz bei der Akrobatin Polina Dawydow sein, die in seinen Träumen ihren Körper so elegant verbiegt, wie es eigentlich keinem lebenden Menschen möglich sein sollte; am nächsten Tag bewundert er ihre neue Nummer, noch ein paar Tage später ... Ja, es ist an der Zeit für einen Zeitsprung. Auch das liegt in der Macht einer auktorialen Erzähler-

figur ... irgendeinen Vorteil muss der Job schließlich haben.

Robert und Ola, eine Woche später.

Robert

Sascha. Die moskowische Prinzessin. Orlandos große Liebe. Androgyn. Kleidung, die dazu gemacht ist, sich darin zu bewegen – eine weite Hose über einer engen, um die Muskeln warm zu halten. Schwarz ... uneitel ... kein Schmuck, nur ein Tattoo auf dem Rücken. Großflächig, exotisch, geheimnisvoll ... das sieht man aber erst, wenn sie sich auszieht, und das lassen wir dann unkommentiert ... und einen Gürtel braucht sie, an dem man sie hochheben kann. Am besten mit Karabinerhaken. Klar, Karabinerhaken! Dann kann sie sich immer überall abseilen, immer da, wo Orlando es am wenigsten erwartet! Karabinerhaken ... also, am besten berührt sie den Boden einfach überhaupt nicht, dann kann Orlando sie zu fangen versuchen ... aber sie bewegt sich immer in einer Dimension mehr als er, entscheidet immer für sich, wann sie in seiner Nähe sein will ... wie ein bunter Vogel, der sich nicht fangen lässt, nur halt in schwarzen Klamotten...

Ola

Robert – nein. Einfach nur nein.

Robert

Wieso Nein?

Ola

Punkt eins: Wir können niemanden von der Ecke der Aula baumeln lassen, das ist gegen jede Sicherheitsvorschrift.

Robert

Das ist schon klar, aber wir können ja mal mit dem Theater sprechen, ob wir die Aufführung dahin verlegen können. Immerhin sind wir Kooperationsschule. Sagt Herr Walser. Sagt er doch?

Ola

Zweitens: Warum zum Henker willst du unbedingt halbnackte exotische Schönheiten auf der Bühne haben? Der bunte Vogel, ganz in Schwarz, mit mystischem Tattoo ... das ist doch nur Klischee, aber volle Breitseite!

Robert

Sowas gibt’s, Ola, sowas gibt’s in Echt, und das wollen die Zuschauer sehen!

Ola

Nein. Ich will das zum Beispiel nicht sehen. Oder – halt – steckt da dieses Zirkusgirlie hinter? Die, wegen der du letzte Woche plötzlich doch nur ne Stunde Zeit hattest? … Volltreffer, oder? Der bunte Vogel in Schwarz... Ernsthaft, was willst du mit der? Die hat mich ja regelrecht weggejagt!

Robert

Weil sie ihre Nummer nicht direkt Gott und der Welt zeigen wollte, das kann man doch verstehen!

Polina betritt die Szenerie, unbemerkt von Ola.

Ola

Nicht Gott und der Welt, klar ... aber dir. Ich wollte der noch helfen. Mit ihrem bescheuerten Tanzseil. Aber da lässt sich Madame wohl nur von Männern zur Hand gehen.

Polina

Bonjour.

Ola

Ach du scheiße.

Robert

Polina!

Polina

Keine Eile. Robert, hilfst du mir nochmal mit dem Seil?

Ola

Hallo. Also. Ähm ... Du, das tut mir jetzt leid. Also, was ich gerade gesagt habe. Das kam falsch rüber. Ich hab eigentlich nichts gegen dich, es ist nur – wir müssen hier eigentlich ne Schulaufgabe machen, aber seit einer Woche denkt Robert an nichts anderes als dich und das wirkt sich nicht so günstig auf unsere Arbeit aus –

Robert

Ola!

Ola

Sorry, Robert. Das war jetzt auch blöd. Ich kann grad nur blöd. Sorry.

Polina

Geht es um diese Orlando-Geschichte? Von dieser englischen Schriftstellerin?

Ola

Ja, genau. Du erinnerst Robert wohl an eine Figur, und das baut er jetzt die ganze Zeit ins Konzept ein ... an so eine russische Fürstin, ganz am Anfang des Buches, Sascha heißt sie ... die Geliebte von Orlando. Jetzt schau nicht so, Robert.

Polina

Weißt du, Ola – du heißt doch Ola?

Ola

Ja, genau.

Polina

Das ist ja lustig, ausgerechnet Ola! Das ist polnisch, oder? Also ist das nur eine Kurzform und eigentlich heißt du ... Aleksandra?

Ola

Ja.

Polina

Also, Aleksandra, weißt du – dieser Roman, dieses Konzept: Das interessiert mich überhaupt nicht.

Ola

... ah, okay ...

Polina

Konzepte, Gerede ... das ist mir alles nichts, weißt du? Und vielleicht ist das ja auch nichts für Robert, deshalb verbringt er seine Zeit vielleicht lieber mit mir als mit diesem Konzept.

Ola

Also –

Polina

Aleksandra ... du weißt, dass die russische Kurzform davon nicht Ola, sondern Sascha ist, oder? Wie diese Fürstin da, von der du grad geredet hast. In die Orlando so verliebt ist – wenn ich das richtig verstanden habe? Naja, Namen sind eben doch nur Namen ...

Ola

Ich – Robert, ich muss gehen –

Polina

Ach was, bleib ruhig hier. Inzwischen bist du ja nicht mehr fremd für mich, du darfst mir gerne beim Training zusehen.

Robert

Ola –

Ola

Nein, Robert ... ich hab Plenum. Ist ja Dienstag. Du weißt ja. Jeden Dienstag. Bis morgen.

Polina

Bis bald, Aleksandra.

Erzählendes

Wir wollen nicht ungerecht sein. Diesmal hat Robert durchaus verstanden, was gerade vor sich gegangen ist; jedoch ist er, wie nahezu jeder Jugendliche in solch einer Situation, heillos überfordert.

Polina

Ich glaube, ich habe heute doch keine Lust auf Training. Wollen wir uns ein Eis holen und einfach ein bisschen hier rumliegen?

Robert

Polina –

Polina

Oder warte! Ich habe noch eine bessere Idee. Wir holen uns kein Eis und liegen da drüben ein bisschen rum.

Robert

Wieso da drüben?

Polina

Da ist's viel schöner. Komm, ich zeig's dir.

Erzählendes

Polina soll Recht behalten: Da drüben ist es wirklich viel schöner. Da drüben liegen die beiden nebeneinander auf jener Decke, die Robert mitgebracht hatte, um seine und Olas Unterlagen darauf ausbreiten zu können; sie liegen da drüben im Schutz einer Wildrosenhecke, wenngleich von den Wildrosen zu dieser Jahreszeit noch nicht viel zu sehen ist; sie liegen unter einem Dach von zarten, hellgrünen Frühlingsbuchenblättern, die von Zeit zu Zeit von einem Windhauch sanft gestreichelt werden; so schön ist's da drüben, dass Robert, als er da liegt und den Kopf dreht und in Polinas Augen blickt und erkennt, dass Polina im selben Moment ebenfalls den Kopf zu ihm gedreht hat, von einem nie gekannten Glück überwältigt wird und allzu bereitwillig vergisst, was nur eine Viertelstunde zuvor geschehen ist. Und er muss sich nicht einmal ein Herz fassen, so natürlich und wahr erscheint es ihm, Polina in die Arme zu nehmen, und er erfährt, so flüstert er, zum ersten Mal die Freuden der Liebe. Und als die Ekstase vorbei ist, unterhalten sie sich über das, was es gibt in der Welt, und sprechen von Sehenswürdigkeiten und Reisen, vom abenteuerlichen Zirkusleben, von Löwen, Elefanten und Polinas zahmer Ratte namens Iwan Wassiljewitsch Grosny.

Eine weitere Woche lang sollen sich Polina und Robert treffen, jedoch nie wieder an diesem ihrem Ort; einmal steht sie vormittags vor dem Fenster von Roberts Klassenzimmer und schneidet Grimassen, bis dieser sie bemerkt, und er verschwindet mit einer Ausrede aus dem Unterricht, während Ola mit eiserner Miene an die Tafel starrt; an einem Abend schaut Robert sich die Zirkusvorstellung von Polina an und kommt aus dem Staunen nicht heraus, als er sieht, wie sie sieben Meter über dem Boden das präsentiert, was er im Kleinen bereits auf der Wiese hinter der Schule bewundern durfte. Der Höhepunkt des Abends ist jedoch nicht Polinas Nummer; der Höhepunkt sind die leidenschaftlichen Küsse, die sie im Dunkeln zwischen Wohnwagen und Tiergehegen austauschen, Polina noch im glitzernden Kostüm und mit streng zurückgebundenen Haaren.

Aber nichts währt ewig und Glück und Melancholie sind, wie die Philosophen wissen, oft nur eine Messerschneide voneinander entfernt. Nach einem vergeblichen Versuch, Polina auf die Option einer gemeinsamen Zukunft anzusprechen –

Robert

Ich kann es nicht ertragen, dass dieses Glück enden soll, Polina, deshalb wollte ich dich fragen –

Polina

Hä? Aber wir sind doch zusammen.

Robert

Ja. Jetzt. Aber was ist mit morgen?

Polina

Schau mich an, Robert. Ja, so ... ich denke, du bist zu ernsthaft. Und doch nicht ernsthaft genug.

Erzählendes

– hat Robert das Thema fortan gemieden, und so kommt das, was nach diesen weiteren sieben Tagen des uneingeschränkten Glücks folgt, so sehr es auch zu erwarten war, überraschend, plötzlich, zu früh; die leere Sandfläche, dort, wo die Manege war, wirkt wie aus einer postapokalyptischen Welt, unwirklich und kalt, als gäbe es keine Überlebenden außer Robert, der einsam dort steht, mit einem Strauß aus inzwischen erblühten Wildrosen in der Hand.

Ola betritt die Szenerie.

Ola

Hey.

Robert

Das Glück ist nur ein Traum, und der Schmerz ist wirklich.

Ola

Hesse?

Robert

Voltaire. Was tust du noch hier, Ola? Warum bemühst du dich noch um mich? Ich war unzuverlässig, ich war schlecht zu dir, und doch – ich hab gedacht, ich werd's nicht bereuen, eigentlich hab ich gar nicht gedacht ... und jetzt steh ich hier, allein mit diesen neuen Gedanken ...

Ola

Ich hab doch gesagt, das geht nicht gut aus, Robert. Tut's für Orlando doch auch nicht. Das mit der russischen Prinzessin. Nimm's dir nicht zu Herzen.

Erzählendes

Um zu verstehen, was nun passieren wird, müssen wir auch die augenblickliche Gemütslage von Robert verstehen. Vor wenigen Tagen noch war er überzeugt, sich bereits einen umfangreichen Eindruck vom Leben und von der Liebe in all ihren Facetten verschafft zu haben. Und dann war Polina Dawydow am Horizont erschienen, und plötzlich war Roberts Souveränität dahin. Das, was er nun fühlte, hatte er noch nie zuvor gefühlt; das, was ihn dort aus der Ferne gelockt hatte, hatte ihn augenblicklich in seinen Bann gezogen, und es schien überhaupt keine Option, diesem Ruf nicht zu folgen. Kurz: Unser Held hatte alle Warnungen in den Wind geschlagen, hatte sich mit aller Leidenschaft und ohne jeden Verstand in die Fluten der Liebe gestürzt und war prompt gekentert.

In dieser lebensbedrohlich scheinenden Situation also taucht plötzlich ein kleines, unscheinbares Rettungsfloß direkt neben ihm auf. Das Floß verspricht Sicherheit, das Floß verspricht, ihn durch die Sturmflut der Emotionen ans Ufer zu bringen, das Floß verspricht sogar, dass Robert dieses Ufer nicht gedemütigt und halb ertrunken, sondern in einem halbwegs passablen Zustand erreichen kann. Und angesichts dessen erscheint das, was sich nun abspielt, vielleicht ein wenig verständlicher, wenngleich immer noch unfassbar dämlich.

Robert beugt sich zu Ola und küsst sie.

Ola

Robert?

Robert

Boah, deine Lippen sind voll weich ...

Robert küsst Ola erneut.

Ola

Robert!

Robert

Ola ...

Ola

Bist du bescheuert?!

Ola stößt Robert weg.

Robert

Was ist denn los?

Ola

Du kannst nicht einfach – ich meine – was denkst du dir denn!

Robert

Du siehst echt hübsch aus heute und du warst grad so lieb zu mir uns da dachte ich –

Ola

– dass du einfach so über mich herfallen kannst, oder wie?

Robert

Wie bitte? Über dich herfallen?

Ola

Ich hab nie, absolut nie gesagt, dass ich dich – dass ich dich so – dass ich das will!

Robert

Nicht?

Ola

Natürlich nicht!

Robert

Das seh ich aber anders.

Ola

Bitte?

Robert

Du willst mich schon verdammt oft treffen, Ola – auch schon vor dem Orlando-Projekt –

Ola

Weil wir Freunde sind!

Robert

Und du fasst mich immer an. Immer so mit der Hand auf der Schulter – hier – so –

Ola

Mein Gott, das ist halt meine Art! Das mach ich doch mit allen so!

Robert

Ja, das stimmt natürlich auch wieder.

Ola

Was ist das jetzt für ein Unterton?

Robert

Mir ist nur auch aufgefallen, dass du das mit allen machst. Dass du mit allen flirtest.

Ola

Flirten? Ich flirte doch nicht!

Robert

Natürlich machst du das. Wie nett du immer zu allen bist ... wie du Herrn Walser immer anlächelst ... dann immer diese kurzen Röcke, die sehen ja auch echt heiß aus. Aber hey, das ist ja auch total verständlich. Ich meine, irgendeine Strategie muss man ja haben, um durch's Leben zu kommen. Da passiert das halt nur manchmal, dass Andere das verwechseln. Ob du wirklich willst oder ob das eben nur Strategie ist, meine ich. Aber die Strategie selber – die ist ja super. Funktioniert einwandfrei. Also, wenn man ein Mädchen ist.

Ola

Halt die Fresse, Robert! Du hast doch keine Ahnung! Du hast keine Ahnung, wie das ist!

Robert

Wie was ist?

Ola

Du hast keine Ahnung, du wirst nie eine Ahnung haben, und irgendwann stirbst du und hast immer noch keine Ahnung. Der ganze Scheiß mit Orlando – mach's alleine. Mach's einfach alleine. Ich bin raus bei deinem bescheuerten Theater.

Erzählendes

In jener Nacht schläft Robert als gebrochener Mann ein. Sein Herz gebrochen dank dieser verfluchten Akrobatin, die er zu seiner großen Liebe auserkoren hatte und die er innerhalb von zwei Wochen gewonnen und wieder verloren hat. Sein Stolz gebrochen dank dieser verfluchten Freundin, die nicht einmal außergewöhnlich gut aussieht und sich trotzdem herausgenommen hat, ihn zurückzuweisen. Niemals wieder einer Frau vertrauen! So denkt Robert sich beim Einschlafen. Nein, niemals überhaupt auch nur wieder Umgang mit einer Frau haben! Gleich morgen würde er sich im Klassenzimmer von Ola wegsetzen; sollte sie doch sehen, was sie von ihrer Überreaktion hatte. Und die Liebe – die Liebe war hiermit für alle Zeiten gestorben. Und erfüllt von Weltschmerz schläft Robert ein, langsamer als sonst, tiefer als sonst, immer tiefer.

Wodurch die nun folgenden Ereignisse ausgelöst wurden? Wenn man Robert später fragen würde, würde er nur gleichmütig mit den Schultern zucken. Das Unerhörte kommt häufig in einer solchen Kleinheit daher, dass man schnell aufgibt, es zu hinterfragen. Sie mögen einwenden, dass ich hier ja die auktoriale Erzählerin bin und dass ich doch deshalb wissen müsse und erklären solle. Jedoch: Mir obliegt auch die Freiheit, etwas nicht zu wissen. Das hier weiß ich nicht. Das hier möchte ich nicht wissen, denn hier soll eine andere Geschichte erzählt werden. Eine Geschichte, die nicht mehr die Geschichte von Robert von Balsa ist.

Orlando*

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