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Das menschliche Cello

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Die Musikerin sitzt in schwarzer Corsage auf dem Stuhl, das Violoncello zwischen den Schenkeln. Ihre Finger zittern am Hals des Instruments. Strähnen fließen silbern durch die Flut ihres Haares und locken sich dunkel vor ihrem Bauch. Sie streicht das Cello. Wieder und wieder gleitet der Bogen über die Saiten. Die Musik weitet das Zimmer zu einer Kathedrale. Die Augen der Cellistin ruhen auf der jungen Frau, die ihr nackt und mit verbundenen Augen gegenübersitzt. Weich schweben die Töne durch den Raum, legen sich nieder auf dem Piano in der Ecke, den schweren Samtvorhängen und dem Kirschholzboden. An der Haut des Mädchens perlen sie ab wie Schmelzwasser und hinterlassen ein heißes Sehnen. Mit leicht geöffnetem Mund sinkt ihr Kopf in den Nacken; feine Schweißperlen wie poliertes Glas zieren ihre Oberlippe. Die Abendsonne spielt auf den schummrigen Wänden. Eine vorüberziehende Wolke blickt kurz in das Zimmer, ehe der Wind sie aus dem Schoß des Abends treibt. Ein Lufthauch, warm wie der Atem eines Tieres, strömt durch das offene Fenster ins Zimmer und streichelt die Frauen.

Eine alterslose, porzellangesichtige Japanerin tippelt im schwarzen Tai-Chi-Anzug herein, das graue Haar zum Knoten gesteckt, der von zwei langen, gekreuzten Holznadeln gehalten wird. Sie bringt einen Pinsel mit und chinesische Tusche. Auf das Kopfnicken der Cellistin hin zieht sie das Mädchen behutsam vom Stuhl und fordert von ihr mit hypnotischer Stimme, vor der Musikerin niederzuknien und ihr die Stiefel zu küssen.

Die Kleine tut, wie ihr befohlen.

Die Japanerin setzt sich neben sie auf den Stuhl und malt dem Mädchen mit der Präzision einer Kalligraphin zwei Schallöffnungen auf den schmalen, nach vorn gebeugten Rücken, die in Größe und Form exakt denen des Cellos entsprechen.

Das Flüstern der Musik macht Platz für den Gesang der Zikaden. Die Realität beginnt, ihre Blätter einzurollen.

Die Cellistin gibt der Asiatin einen Wink. Diese verbeugt sich, schiebt den Stuhl in den Winkel und entfernt sich, den Kopf wie im Gebet gesenkt.

Hinter dem Rücken des Mädchens lehnt ein mannshoher Barockspiegel an der Wand. Die Musikerin betrachtet darin von oben bis unten das Abbild der jungen Frau, die devot vor ihr auf dem Boden kniet: blondes Haar, das im Nacken zu einer Spitze ausläuft; Schulterblätter, gefalteten Flügeln gleich; ein vollendet symmetrisch geformtes Gesäß, das auf den Fersen ruht. Die Cellistin legt ihr Instrument fort und rückt mit dem Stuhl ganz dicht an das Mädchen heran, saugt ihr einen leichten Biss auf den Hals, dass der Kleinen die Röte ins Gesicht schießt. Die Zunge der Cellistin gleitet in ihren Mund und presst sich weich gegen die ihre. Mit der Linken packt sie den schmalen Nacken und hält ihn gefangen, die Rechte tastet nach dem Cello-Bogen. Als die Lippen sich voneinander lösen, beobachtet sie sich selbst im Spiegel. Mit wachsender Erregung streicht sie die gespannten Pferdehaarsaiten mehrmals hintereinander über den Rücken des Mädchens, das erzittert und wimmert und sich auf die Lippen beißt, um nicht zu schreien. Die Finger der Cellistin graben sich in den Hals der anderen. Süßer Schmerz fährt durch deren Körper und gebiert flüssige Perlen, die unterhalb der Augenbinde an ihren Wangen hinunterlaufen.

Mit Entzücken gewahrt die Musikerin die Striemen auf dem Rücken des Mädchens. Langsam fährt sie ihr mit der Stiefelspitze in der Loipe des Rückgrats bis zum Steißbein hinab. Eine Welle der Begierde durchfährt sie dabei: ihre Schenkel zittern, ihr Gesicht verzerrt sich vor Lust, und der Brunnen in ihrem Schoß läuft über.

Als die Nacht hereinbricht, klatscht die Musikerin ein paar Mal in die Hände. Ihr schönes Gesicht leuchtet vor Befriedigung. Der besessene Glanz in ihren Augen ist etwas gewichen, der teuflische Zug um ihre kleinen, vollen Lippen jedoch ist geblieben.

Abermals betritt die Japanerin den Raum: sie schiebt einen schwarzen Cello-Koffer vor sich her. Sie legt ihn neben dem Mädchen auf den Boden und klappt ihn auf. Sie nimmt das Mädchen bei der Hand und führt es, bis es sich aus freien Stücken wie ein Embryo in die mit schwarzem Samt ausgelegte Schale hineinschmiegt. Daraufhin wird der Koffer zugeklappt und die Schnallen werden geschlossen. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte stellt die Japanerin den Koffer auf und rollt ihn ins Musikzimmer nebenan, wo sich bereits identische Koffer befinden, in denen menschliche Cellos stumm verharren.

Der Engel, der seine Flügel verbrannte

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