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2. Kapitel (1939-1945)

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Als der Krieg am 1. September 1939 ausbrach, war ich gerade mal ein 16 Jahre alter Gymnasiast. Wegen der Nachricht war in Königsberg ungefähr die Hälfte der Leute bedrückt und ängstlich. Die Nazis und ihre Sympathietanten stellten ebenfalls ca. 50% und waren begeistert über den Einmarsch der Wehrmacht in Polen. Obwohl meine Eltern als Sozialdemokraten absolute Kriegsgegner waren, mussten sie sich mit den neuen Gegebenheiten arrangieren. Auch die vielen Nazi-Horden aus SA und SS in den Straßen waren zwar lästig, aber nicht abwendbar. Ähnlich wie bei der Bevölkerung waren ungefähr die Hälfte der Lehrer überzeugte Nazis, die ihre politischen Ansichten offen kundtaten. Die anders denkenden Lehrer waren leider äußerst zurückhaltend geworden.

Die Anzahl der Kriegsgegner verringerte sich, als eine Siegesmeldung, die nächste ablöste. Immer mehr Leute glaubten, dass der Führer ein genialer Feldherr war, weil ihm scheinbar alles gelang. Sicherlich verschwanden zunehmend jüdische Familien, aber man machte sich darüber keine Gedanken. Die Leute erzählten sich auf der Straße, dass die Juden ins Ausland immigriert waren. Von Konzentrationslagern wussten wir zu diesem Zeitpunkt nichts. Auch mehrere jüdische Mitschüler aus meiner Klasse tauchten plötzlich nicht mehr auf.

Meine Schwester machte 1940 ihr Abitur und begann Chemie an der Universität in Königsberg zu studieren. Meine Eltern waren äußerst stolz, dass ihre Tochter aus einfachen Verhältnissen es geschafft hatte, einen Studienplatz zu bekommen. Damals war es nicht selbstverständlich, dass Frauen überhaupt studierten. 1940 war ich weiterhin überzeugt nach dem Abitur Nautik in Königsberg zu studieren.

1942 machte ich als 19-Jähriger mein Abitur. Meine Noten waren gut bis sehr gut. Viele von meinen Mitschülern konnten es gar nicht abwarten in den Krieg zu ziehen. Gleich nach der Abiturfeier gingen alle zu den verschiedenen Waffengattungen. Weder ich noch meine Mitschüler begannen wegen des Krieges ein normales Studium. Natürlich ging ich zur Kriegsmarine und begann dort eine Offiziersausbildung. Allerdings war ich zunächst nur ein schlichter Kadett zur See.

Mein größtes Interesse bei der Marine galt den U-Booten, die zu diesem Zeitpunkt sehr erfolgreich auf dem Atlantik unter der Führung von Admiral Dönitz waren. Deswegen entschied ich mich, meine Ausbildung auf U-Boote zu fokuszieren. 1943 wurde ich von der Kriegsmarine in Rotterdam auf einem Stützpunkt stationiert, um dort zum Ein-Mann-U-Boot-Fahrer ausgebildet zu werden. Die Niederlande waren zu diesem Zeitpunkt von Deutschland besetzt.

Der Marinestützpunkt befand sich direkt am Rotterdamer Hafen. Meine Kameraden und ich hatten uns häufig gelangweilt, denn es passierte neben unserer Spezialausbildung monatelang relativ wenig. Ich freundete mich mit einem Frank G. an, mit dem ich häufig über das Land zog. Erstaunlicherweise hatten wir im Gegensatz zu anderen Militärs viele Freiheiten.

Unsere Fortbewegungsmittel waren Fahrräder, die damals schon in Holland sehr beliebt waren. Als ich mal wieder mit Frank am frühen Abend über Feldwege fuhr, schlugen plötzlich neben uns Kugeln ein. Den oder die Scharfschützen konnten wir nicht sehen, obwohl das Gelände eine extrem flache Morphologie aufwies. Sofort warfen wir uns in einen Graben am Wegesrand und verharrten dort. Mit großer Wahrscheinlichkeit stammten die Kugeln von niederländischen Widerstandskämpfern. Wir waren als deutsche Besatzer bei der Bevölkerung sehr unbeliebt und nicht erwünscht. Nachdem wir eine Stunde im Graben verweilt hatten, krabbelten wir aus unserer Deckung und schauten vorsichtig in die Umgebung. Da niemand zu sehen war, stiegen wir rasch auf unsere Räder und fuhren weiter.

Frank war vom Typus her ein richtiger Draufgänger, der mich sehr beeindruckt hatte. Vor allem seine stets positive Grundeinstellung hatte mir gut gefallen, denn ich war im Gegensatz zu ihm ein typischer Pessimist. Einmal schauten wir uns interessiert eine niederländische Kirche an, allerdings nicht um zu beten. Frank hatte er bei einer Heiligen-Statur mit zwei nach vorne gestreckten Armen, den linken abgeschlagen. Danach grüßte die Figur mit dem rechten Arm permanent den Führer. Natürlich war uns vollkommen klar, dass solche Aktionen bei der Zivilbevölkerung nicht gerade gut ankamen, aber im Krieg herrschten eben andere Gesetze.

Unser Marinestützpunkt hatte eine Flugabwehrkanone auf dem Dach, um feindliche Bomber abzuschießen zu können. Bislang waren wir allerdings wenig erfolgreich, weil die Flugzeuge auf ihrem Weg von England nach Deutschland und zurück viel zu hoch über uns flogen. An einem Abend spielten wir gerade Karten und waren mal wieder reichlich vom Bier alkoholisiert. Plötzlich hörten wir einen einzelnen Bomber, der sehr langsam in geringer Höhe über unseren Stützpunkt flog. Sofort rannten Frank und ich zur Flak und schossen auf den nach England fliegenden Bomber, dem nur noch ein intakter Motor geblieben war, da er vermutlich zuvor irgendwo angeschossen wurde. Mit großer Sicherheit hatten wir ihn getroffen, denn er stürzte nicht weit von uns entfernt auf einer Wiese ab und explodierte sofort. Was mit der Besatzung passiert war, hatten wir niemals erfahren.

Ende 1944 glaubte keiner mehr von uns an den Endsieg. Die Stimmung auf dem Stützpunkt war zunehmend miserabel. Da Ostpreußen bereits teilweise von Russen besetzt war, konnte ich meinen zweiwöchigen Fronturlaub nicht mehr in Königsberg verbringen. Zu diesem Zeitpunkt war meine Familie zu Fuß auf der Flucht von Königsberg nach Sielen in Nordhessen. In diesem Dorf hatte meine Mutter bis zur Heirat meines Vaters gelebt, danach war sie zu ihm nach Königsberg gezogen. Gott sei Dank hatten sie es Wochen später tatsächlich geschafft, in Sielen anzukommen.

Statt nach Ostpreußen fuhr ich mit Frank in seine Heimatstadt nach Zerbst in Sachsen-Anhalt. Dort hatte er seine Familie und eine Freundin. Ich war froh ihn begleiten zu können, denn meine Stimmung war miserabel, weil ich mir wegen der Flucht meiner Familie große Sorgen machte. Als wir in Zerbst ankamen, trafen wir Franks Freundin Betta, die ihre hübsche Schwester Elisabeth mitgebracht hatte. Zu viert unternahmen wir harmlose Ausflüge und versuchten die beiden Mädchen mit unseren Erzählungen von der Front zu beeindrucken. Damit sie unseren Worten auch glaubten, stellte ich mich mit einem gestreckten Arm auf eine Wiese. Wie im Zirkus hielt ich zwischen zwei Fingern einen Apfel. Frank schoss mir aus der Hüfte mit einem Revolver den Apfel aus den Fingern. Die Vorführung war etwas gewagt, kam aber bei den Damen sehr gut an.

Während Frank mit Betta knutschte, flirtete ich mit Elisabeth, die mir sehr gut gefiel. Sie erwiderte eindeutig meine Bemühungen, sodass ich es wagte sie zu küssen. Elisabeth und ich unterhielten uns viel über den Krieg, den ich ihr als verloren darstellte. Gleichzeitig teilte ich ihr mit, dass ich mit meinem baldigen Tod bei der Marine rechne, weil ich demnächst mit einem Ein-Mann-U-Boot von Rotterdam nach Antwerpen fahren und einen Sprengsatz an ein feindliches Schiff der Alliierten befestigen werde. Ein Taucheranzug wird mich dabei vorm kalten Wasser schützen. Wenn der Zeitzünder aktiv ist, werde ich an Land schwimmen und mich durch die feindlichen Linien schlagen, um wieder nach Rotterdam zu gelangen. Zu diesem Zeitpunkt war Rotterdam noch von den Deutschen besetzt, während der Hafen von Antwerpen bereits von den Alliierten eingenommen wurde. Nach meiner Einschätzung lagen meine Überlebenschancen bei diesem Himmelfahrtskommando bei Null. Deswegen erklärte ich Elisabeth, dass eine Liebesbeziehung mit mir sinnlos wäre. Natürlich sollte sie mich als Held sehen, der für sein Vaterland sterben wird. Elisabeth war zwar bestürzt über meine Erzählung, sah aber keinen Grund Abstand von mir zu halten. Somit entwickelte sich trotz aller Umstände eine Liebesbeziehung, die wegen meiner vermutlich geringen Lebenserwartung nur von kurzer Dauer sein wird. Obwohl Frank für das gleiche Selbstmord-Unternehmen vorgesehen war, schien er darüber wenig besorgt.

Als Frank und ich Zerbst verließen, hatten Elisabeth und ich die jeweiligen Adressen getauscht. Wir wollten uns schreiben, so lange es irgendwie möglich sein wird. Die beiden Schwestern brachten uns zum Bahnhof und umarmten uns liebevoll auf dem Bahnsteig. Als unser Zug kam, stiegen Frank und ich ein und fuhren wenig später los. Die Frauen winkten uns noch lange hinterher. Elisabeth war eine wunderbare Frau. Ob es ein Wiedersehen geben wird, wusste ich wegen des bevorstehenden Einsatzes nicht. Allerdings hatte ich mich in sie Hals über Kopf verliebt.

Nachdem Frank und ich wieder auf dem Marinestützpunkt in Rotterdam waren, begann für uns die Vorbereitung auf unseren Ein-Mann-U-Boot-Einsatz, der wie Blei auf meiner Seele lag. Mehrere Male sollte unser Einsatz am nächsten Tag erfolgen, aber jedes mal wurde er verschoben. Zur Entspannung fuhren wir eines Abends mit den Fahrrädern über die Feldwege. Frank wollte mir unbedingt etwas Unglaubliches zeigen und sagte: „Du wirst dieses Ereignis sicherlich bis zu deinem Lebensende nicht mehr vergessen.“ Nach ein paar Kilometern stoppten wir und legten die Fahrräder in den Straßengraben. Anschließend schlichen wir durch ein Feld bis zu einem Maschendrahtzaun und legten uns davor flach auf den Boden. „Eventuell müssen wir etwas warten“, sagte er zu mir. „Du machst es aber spannend“, antwortete ich. Eine Stunde später begann es auf dem Gelände furchtbar zu fauchen, wie ich es noch niemals zuvor gehört hatte. Wir sahen eine Stichflamme, die sich senkrecht nach oben in die Luft ausbreitete. Von einer Rampe entfernte sich fauchend ein länglicher Gegenstand, der einen langen Feuerschweif hinter sich herzog. Schnell erreichte das Gerät eine große Höhe und war plötzlich nicht mehr zu sehen. „Das war eine V2-Rakete, die jetzt nach England fliegt. Dort wird sie eine fürchterliche Zerstörung hinterlassen, weil sie einen riesigen Sprengkopf hat“, erklärte Frank. „Diese Waffe ist ja der blanke Wahnsinn, aber kann man damit noch den Krieg gewinnen?“ fragte ich. „Wohl kaum“, antwortete er gelassen.

In den folgenden Wochen fuhren Frank und ich häufig zum Raketengelände, um die V2 beim Starten zu beobachten. Erneut gab es grünes Licht für unseren U-Boot-Einsatz, aber auch dieser Termin wurde ohne Begründung verschoben. Plötzlich wurde unser Marine-Stützpunkt von amerikanischen Jagdflugzeugen angegriffen, die erhebliche Zerstörungen hinterließen. Direkt nach dem Luftangriff wurden wir von alliierten Soldaten im Sturm überrannt. Dabei vielen nur wenige Schüsse, da es kaum eine Gegenwehr von deutscher Seite gab. Die meisten Toten und Verletzten verursachte der Luftangriff. Nachdem wir von amerikanischen Soldaten entwaffnet worden waren, kamen Frank und ich im Januar 1945 in kanadische Kriegsgefangenschaft. Vermutlich hatten mir die Alliierten mit ihrem Angriff das Leben gerettet, denn nun gab es Gott sei Dank keinen U-Boot-Einsatz mehr für mich.

Frank und ich wurden von den Kanadiern ausgezeichnet behandelt. Sie waren ausgesprochen freundlich zu uns und versorgten uns mit genug Essen und Zigaretten. Die Lager waren geradezu fürstlich im Vergleich mit den miserablen Zuständen im Osten, von denen wir bereits gehört hatten. Die Zeit verbrachten wir mit diversen Kartenspielen und exzessiven Saufgelagen. Militärische Ränge spielten bei den Kriegsgefangenen keine Rolle mehr.

Kurz nach der Kapitulation von Nazi-Deutschland am 8. Mai 1945 wurden Frank und ich aus der Gefangenschaft entlassen. Jetzt trennten sich unsere Wege. Frank fuhr zu Verwandten in West-Deutschland, da er wegen der russischen Besetzung nicht mehr nach Zerbst konnte. Ich machte mich auf den Weg nach Nordhessen, um dort in Sielen auf meine Eltern und Schwester zu treffen. Die Zugfahrt durch das zertrümmerte Deutschland war erschreckend für mich. Alle Städte, die ich auf meiner Reise passierte, waren zerstört. Diese furchtbaren Bilder konnte ich in meinem weiteren Leben nicht mehr vergessen.

Mit einer etwas lädierten Zivil-Kleidung kam ich mit dem Zug in dem völlig zerstörten Kassel an. Wegen der Kriegsschäden fuhren weder Busse noch Bahnen mehr Richtung Norden ins Weserbergland, deswegen lief ich zwangsläufig mindestens 25 Kilometer von Kassel nach Sielen. Im Dorf angekommen, fragte ich einen Bauern nach dem alten Pfarrhaus, denn dort lebte meine Familie seit ihrer Flucht aus Ostpreußen. Die Adresse hatten sie mir bereits per Brief mitgeteilt. Zuvor war ich in meinem Leben noch niemals in Sielen gewesen. Der Bauer sagte freundlich: „Gleich hinter der Buntsandsteinkirche ist das alte Pfarrhaus.“ Ich bedankte mich höflich für seine Auskunft und lief weiter zu einem zweistöckigen Fachwerkhaus mit einem geziegelten Giebeldach.

Durchs Fenster sah mich zuerst meine Mutter, die sofort aus dem Haus geeilt kam. Ihre ersten Worte waren: „Ich bin froh, dass du lebst!“ Sie umarmte und küsste mich, obwohl sie eigentlich kein Typ von übertriebenen Gefühlsäußerungen war. Mein Vater klopfte mir auf die Schultern und war den Tränen nahe. Meine Schwester begrüßte mich genauso wie die Mutter. Wir waren alle Vier wegen unserer familiären Wiedervereinigung überwältigt. Das Wichtigste war, dass wir diesen furchtbaren Krieg überlebt hatten.

Nachdem ich die Wohnung betreten hatte, ging ich umgehend ins Bad, da ich mich furchtbar schmutzig fühlte. Ich füllte die Badewanne mit warmem Wasser und legte mich anschließend hinein. Später rasierte ich meinen Bart ab und zog mir komplett neue Kleidungsstücke an. Zur Feier des Tages kochte Mutter ein fürstliches Essen, um unsere Wiedervereinigung zu feiern. Hier auf dem Dorf gab es im Gegensatz zu den Großstädten genug Nahrungsmittel, sodass wir in den nächsten Monaten keinen Hunger befürchten mussten.

Die verlorene Generation

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