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3. Kapitel (1946-1950)

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1946 begann in Deutschland der große Hunger, von dem wir auf dem Lande verschont blieben. Im Radio wurde von Flüchtlingsströmen geredet, die sich nach Westen wälzten. Diese Menschen hatten alles verloren und suchten im Westen verzweifelt nach Orten, wo sie sich ansiedeln konnten. Auch auf dem Land in Nordhessen sah ich Flüchtlinge, denen es im Gegensatz zu uns sehr schlecht ging, insbesondere weil sie quasi nirgendwo erwünscht waren.

Meine Eltern wie auch meine Schwester arbeiteten zunächst im Dorf bei Bauern. Ich bekam einen Job im Ausbesserungswerk der Deutschen Reichsbahn in Kassel. Dort wurden beschädigte Lokomotiven wieder hergerichtet, die unbedingt für den Wiederaufbau benötigt wurden. Trotz der äußerst schweren Arbeit hatte es mir dort gut gefallen. Die Stimmung unter den Arbeitern war gut, weil jeder von ihnen über den Frieden froh war. Besonders auffällig war, dass auf einen Schlag sämtliche Nazis verschwunden waren. Vermutlich waren sie Tod, im Gefängnis oder sie hatten einfach nur ihre verräterischen Kleidungsstücke gewechselt. Im zerstörten Kassel waren als Uniformierte nur noch britische und amerikanische Soldaten zu sehen, die bemüht waren die öffentliche Ordnung wiederherzustellen.

Seit meinem Besuch in Zerbst Ende 1944 schrieb ich regelmäßig Briefe an Elisabeth, die sie fleißig beantwortete. Wir erzählten uns gegenseitig auf unzähligen Seiten unsere jeweiligen Lebensgeschichten, wenn das überhaupt möglich war. Unsere anfängliche Verliebtheit entwickelte sich schnell zu einer richtigen Liebe, aber nur auf dem Papier. Seit Januar 1945 war sie in Mannheim bei Verwandten und hatte dort die Bombardierung der Stadt durch die Alliierten erlebt und überlebt. Als sie im Keller eines größeren Mietshauses bei einem Luftangriff mit vielen anderen Menschen saß, hatte sie verdammt großes Glück. Nach dem Angriff bemerkten die Bewohner, dass eine scharfe Fliegerbombe in der Kellerdecke steckte, die kurz zuvor das Dach und vier Stockwerksböden durchschlagen hatte. Der Blindgänger war nicht explodiert, aber immer noch hoch brisant. Wenn die Bombe explodiert wäre, hätte Elisabeth es im Keller sicherlich nicht überlebt. Nach der Kapitulation konnte sie nicht zurück nach Zerbst, da die Kleinstadt von den Russen besetzt war. Um Schwierigkeiten mit den russischen Besatzern in Form von Vergewaltigungen zu vermeiden, war sie in Mannheim geblieben. Sie arbeitete dort in einem Farbengeschäft, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Elisabeth war in dieser Zeit eine sehr wichtige Brieffreundin für mich, aber leider konnte ich sie nicht besuchen. Allerdings war dieser Umstand kein Problem für mich, denn ich kümmerte mich im Dorf insbesondere um die weiblichen Bewohner, denn kleinere Festivitäten fanden, trotz der widrigen Umstände, durchaus statt. Außerdem war ich ein vorzüglicher Tänzer, da ich eine Ausbildung zum Tanzlehrer absolviert hatte. Viele Damen waren von meinen Tanzkünsten schwer beeindruckt. Außerdem war ich ein großer Charmeur, der immer ein Kompliment auf den Lippen hatte. Deswegen gelang es mir spielend, die eine oder andere Frau ins Bett zu bekommen. Natürlich half mir dabei der zu dieser Zeit herrschende starke Frauenüberschuss, denn viele Männer hatten im Krieg ihr Leben verloren oder saßen lange in russischer Kriegsgefangenschaft.

Meine Schwester hatte noch vor der Flucht aus Ostpreußen Ende 1944 ihr Chemiestudium einschließlich der Doktorarbeit abgeschlossen. Somit hatte sie nun ein Doktortitel, aber eine entsprechende Anstellung als Chemikerin zu finden, war kurz nach dem Krieg im zerstörten Deutschland schier unmöglich. Aus diesem Grund war sie gezwungen erst mal in der Landwirtschaft zu arbeiten.

Wie meine Schwester wollte auch ich studieren, allerdings nicht Chemie sondern Physik. Leider waren 1946 viele Universitäten schwer zerstört, sodass ich nicht sofort einen Studienplatz bekam. Erst 1947 gelang es mir ein Studienplatz für Physik in München zu bekommen. Sofort schrieb ich meiner Brieffreundin Elisabeth von diesem glücklichen Ereignis. Sie antwortete im nächsten Brief, dass sie überraschenderweise auch einen Studienplatz in München bekommen hatte. Sie wollte dort Bildende Kunst an der HDK studieren. Ich entgegnete, dass ich mich über unser baldiges Zusammentreffen in München sehr freue.

1947 zog ich also in das immer noch zerstörte München und nahm mir ein bescheidenes Zimmer. Die ersten Wochen war ich ohne Elisabeth in München, da sie noch bis zum Monatsende im Mannheimer Farbengeschäft arbeiten musste. Als ich das erste Mal die Universität besuchte, traf mich fast der Schlag, weil viele Gebäude nach wie vor zerstört waren. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass hier überhaupt studiert werden konnte. Insbesondere die physikalische Fakultät war schwer getroffen. Eigentlich müssten hier die Studenten erst mal den Hörsaal wieder aufbauen, bevor der Lehrbetrieb beginnt.

Dummerweise verlor ich in München irgendwo meine Lebensmittelkarten, die zum Überleben dringend notwendig waren. Die Rationen waren sowieso schon knapp bemessen, aber ohne Karten war meine Situation ziemlich hoffnungslos. Ich tauschte auf dem Schwarzmarkt meine Uhr gegen Brot. Außerdem bekam ich ein Fresspaket aus Sielen von meinen Eltern geschickt. Trotzdem musste ich wegen des Missgeschicks hungern. Diese schwere Zeit hatte ich in meinem weiteren Leben niemals vergessen.

Ein paar Wochen später kam Elisabeth nach München. Unser Wiedersehen war etwas betrübt, weil ich wegen der Kartengeschichte mager wie ein Strich in der Landschaft war. Wir haben nach ihrer Ankunft zunächst mit ihren Karten die nötigsten Lebensmittel gekauft. Sie war buchstäblich meine Retterin in dieser kalorienarmen Zeit. Wir gingen zusammen zur ihrer HDK, die ebenfalls stark zerstört war. Auch sie wird wohl ihren Hörsaal mit ihren Kommilitonen erst aufbauen müssen. Trotz aller negativen Umstände waren wir glücklich wieder zusammen zu sein. Schnell entwickelte sich bei uns die bereits bekannte Leidenschaft, die wir Ende 1944 in Zerbst erlebt hatten.

Elisabeth bekam ein kleines Zimmer bei ihrem Kunstprofessor und beteiligte sich am Wiederaufbau der HDK. Sie war eine fleißige, begabte Studentin, die schnell Fortschritte bei ihrem Studium machte und häufig von ihren Professoren gelobt wurde. Sie freundete sich rasch mit anderen Kunststudenten an, da sie ein kontaktfreudiger Typ war. Sie lernte alle Techniken der Kunst und spezialisierte sich später auf den Entwurf von Stoffmustern.

Nachdem ich beim Wiederaufbau der physikalischen Fakultät mitgeholfen hatte, begann endlich mein Studium. Vom Krieg und seine Folgen hatte ich ziemlich die Nase voll, aber ohne Hörsaal gab es keine Vorlesung, so einfach war das. Ich lernte begierig, weil ich wegen der vergeudeten Kriegsjahre keine weitere Zeit mehr verlieren wollte. Außerdem wollte ich mit meinen Leistungen meine Eltern beeindrucken und hatte nicht vor, lange von ihnen finanziert zu werden.

In der Freizeit waren Elisabeth und ich häufig im Nymphenburger Park, um dort spazieren zu gehen. Wir verstanden uns immer besser und waren ein richtiges Liebespaar. Allerdings hungerten wir nach wie vor, denn unsere tägliche Kalorienration reichte überhaupt nicht aus. Elisabeth bekam von ihren Eltern kein Fresspaket, weil sie weiterhin in Zerbst in der Sowjetischen Besatzungszone wohnten und selber kaum etwas zu essen hatten. Dagegen schickte mir meine Mutter weiterhin Pakete mit Nahrungsmitteln, die ich großzügig mit Elisabeth geteilt hatte. Gesundheitlich ging es uns beide nicht gut, da wir wegen knapper Nahrung geschwächte Immunsysteme hatten und somit anfällig für Krankheiten waren. Wir waren beide zwei richtige Hungerhaken, die sich mühsam zur Vorlesung schleppten.

1948 heiraten wir standesamtlich in München ohne Anwesenheit unserer Familien. Unsere Trauzeugen waren Freunde und Elisabeths Kunstprofessor. Obwohl die äußeren Umstände sehr bescheiden waren, war unsere Hochzeit sehr schön. Nun konnten wir problemlos als verheiratetes Paar zusammen wohnen. Ich kündigte mein Zimmer und zog bei Elisabeth ein, die nach wie vor beim Kunstprofessor wohnte. So sparten wir meine Miete, denn Geld hatten wir ebenfalls sehr wenig. Eine Hochzeitsreise gab es nicht, stattdessen haben wir beide fleißig weiter studiert.

Regelmäßig fuhren wir als frischvermähltes Ehepaar zusammen nach Sielen in Nordhessen, um dort meine Eltern zu besuchen. Zu diesen Treffen kam auch meistens meine Schwester, die mittlerweile eine Anstellung in einem Labor bekommen hatte. Meine Eltern fanden Elisabeth ganz in Ordnung, dagegen war meine Schwester wenig überzeugt von ihr. Meines Erachtens war sie einfach nur eifersüchtig, weil ihr geliebter Bruder ungefragt eine wildfremde Frau geheiratet hatte. Zu Elisabeths Eltern in Zerbst wollten wir nicht hinfahren, da sie in der Sowjetischen Besatzungszone wohnten.

In München waren wir häufig in Tanzlokalen. Elisabeth wie auch andere Frauen waren begeistert von meinen Tanzkünsten. Allerdings wurde meine Ehefrau schnell eifersüchtig, wenn ich zu lange mit Konkurrentinnen getanzt hatte. Natürlich war ich weiterhin äußerst charmant zu anderen, hübschen Frauen, obwohl ich verheiratet war. In den Nachkriegsjahren wurden viele Feste gefeiert, weil die Leute schnell ihr Leid vergessen und ihren Spaß haben wollten. Der Zusammenhalt zwischen den Menschen war zu jener Zeit wesentlich stärker ausgeprägt, als es später der Fall war.

Bei einem Spaziergang im Nymphenburger Park küsste ich an einem Baum meine Gemahlin. Zuvor hatte ich stundenlang über mein neues physikalisches Wissen referiert. Elisabeth hatte mir aufmerksam zugehört, aber vermutlich kaum etwas verstanden. Obwohl sie dringend aufs Klo musste, wagte sie mich nicht wegen der für sie peinlichen Angelegenheit zu unterbrechen. Dummerweise konnte sie ihre Blase nicht mehr zurückhalten und pinkelte im Stehen in ihr Kleid. Danach versuchte sie vor mir ihr Missgeschick zu verbergen, aber wegen ihrem Verhalten bemerkte ich es dennoch. Was ich an dieser Geschichte nicht verstand war, warum sie sich nicht einfach rechtzeitig hinter einen Baum gesetzt hatte.

1950 beendete Elisabeth ihr Studium mit sehr guten Noten. Vermittelt durch ihren Kunstprofessor bekam sie in München eine Anstellung in einer Textilfirma und war dort für den Entwurf von Stoffmustern zuständig. Plötzlich verdiente sie das von uns dringend gebrauchte Geld, damit wir uns wenigsten die wichtigsten Grundbedürfnisse erfüllen konnten. Da ihre Chefs hochzufrieden mit ihrer Arbeit waren, hatte sie eine relativ sichere Stellung. Der Job machte ihr sogar großen Spaß, weil sie dort kreativ arbeiten konnte.

Ich ging weiter in die Universität und kämpfte mich schnell durchs Studium. Meine Professoren waren sehr zufrieden mit meinen Leistungen und kündigten an, mich nach meinem erfolgreichen Studium an eine bekannte, deutsche Aktiengesellschaft zu vermitteln. Elisabeth und ich wohnten weiterhin beim Kunstprofessor zur Untermiete, da wir leider immer noch zu wenig Geld für eine größere Wohnung hatten.

Die verlorene Generation

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