Читать книгу Daniel in Babylon - Martin Renold - Страница 3

1. Kapitel

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„Hei, Beltsazar“, ruft Abed-Nego seinem Freund zu, „hast du nicht Lust, mit uns einen Wettlauf zu machen?“

Der Angesprochene reagiert nicht. Er sitzt in sich versunken auf einem Stein, der die Ecke eines dreihundert Fuß langen und hundertvierzig Fuß breiten Spielfeldes markiert.

Abed-Nego, der mit seinen beiden Freunden, abgetrennt von den babylonischen Knaben, die sich in der diagonal gegenüberliegenden Ecke des Spielfeldes mit einem Ballspiel beschäftigen, etwa zwanzig Schritte von Daniel entfernt steht, ruft noch einmal eindringlich, aber nicht zu laut: „Beltsaaazar“.

„Lass ihn“, sagt Sadrach, einer der vier Freunde, zu denen auch Mesach gehört. „Er hat sich immer noch nicht an seinen neuen Namen gewöhnt.“

„Es ist nicht nur das“, meint Abed-Nego. „Er hätte es am liebsten, wenn wir uns alle mit unseren alten israelitischen Namen rufen würden. Er glaubt, er würde unserem Volk und unserem Gott untreu, wenn wir uns untereinander mit den babylonischen Namen ansprechen.“

„Er weiß doch, dass das gefährlich ist“, mischt sich nun auch Mesach ins Gespräch ein. Wir können unserem Gott doch trotzdem treu sein. Aber wir müssen uns vor unsern anderen Mitschülern in Acht nehmen. Nicht alle sind uns Israeliten gutgesinnt.“

Mesach wirft einen raschen Blick zu den babylonischen Kameraden hinüber und zu dem Mann, der die vier jungen Israeliten und die acht jungen Babylonier auf das Spielfeld vor den Mauern begleitet hat. Doch der geht außerhalb des Feldes hin und her, anscheinend ohne groß auf die ihm anvertrauten Knaben zu achten.

Daniel, oder Beltsazar, wie er nun heißt, bleibt auf dem Stein sitzen. Abed-Nego hat Recht. Die Schmach, die man ihm, seiner Familie und seinem Volk angetan hat, kann er nicht vergessen. Er hat immer noch die Bilder im Kopf, wie die Krieger des babylonischen Königs Nebukadnezar in das Haus seines Vaters eingedrungen waren. Brutal. Ohne anzuklopfen. Auf Befehl des Königs, sagten sie, müssten alle, Vater, Mutter und die Geschwister, mit ihnen gehen. Ein paar Kleider durften sie mitnehmen, ausdrücklich auch gutes Schuhwerk. Den Schmuck warfen sie in einen Sack, und dann legten sie seinem Vater Fesseln an. Die ganze Familie wurde weggeführt.

Die Sonne hatte vom Himmel herabgebrannt. Daniel erinnert sich, wie er sich umgewandt hatte. Ihr blendendes Licht war auf das Haus gefallen, hatte die Mauern vor dem Hintergrund des tiefblauen Himmels noch weißer erscheinen lassen, als sie schon waren, so als wollte sie die Erinnerung daran in seine Augen einbrennen. Oder wollte sie die Schmach und den Schmerz noch erhöhen? Schau nur noch einmal hin, das musst du zurücklassen, die Straße, wo du schon als kleiner Bub mit den Nachbarskindern gespielt hast, das Haus, in dem du deine Kindheit verbracht hast. Im Gefängnis wirst du in ewiger Nacht und Dunkelheit leben.

Schon beim Nachbarhaus und unterwegs begegneten sie weiteren babylonischen Soldaten, die ganze Familien, ihre Nachbarn, wegschleppten. Asarja, sein bester Freund, war auch unter ihnen. Er sah ihn, als er sich umdrehte. Er wollte zu ihm, doch ein Soldat hielt ihn auf. Marsch, lauf vorwärts! Er verstand die fremde Sprache nicht, aber die Hand, die ihn unsanft stieß, genügte, um zu verstehen. Alle wurden durch die Gassen hinabgetrieben. Die Antreiber drängten sie mit lauten Rufen vorwärts. Als sie unter dem Tempel vorübergingen, sahen sie, wie Soldaten goldene Gefäße über die Treppe hinabtrugen. Auf halber Höhe blieben sie stehen und hoben die heiligen Gegenstände hohnlachend in die Höhe. Und hinter ihnen, auf der obersten Stufe, bewacht von seinen Soldaten, stand wie ein Priester mit erhobenen Händen Nebukadnezar. Das war mehr noch als die persönliche Schmach eine Entweihung des Tempels, eine Gotteslästerung.

Ein paar Schritte vor Daniel ging Ezechiel, ein Priester. Daniel kannte ihn vom Tempel, wenn er am Sabbat mit seinem Vater zum Gebet ging.

Ezechiel war einen Augenblick stehen geblieben. Daniel hatte gesehen, wie er sein Haupt vor Scham, dass solches seinem Gott angetan wurde, gesenkt hatte. Als Daniel zu Ezechiel aufgeschlossen hatte, hob dieser seine Augen wieder, und einen kurzen Augenblick schauten der Priester und der Knabe Daniel einander in die Augen. Jeder sah im andern Tränen schimmern, ehe Ezechiel von seinem Antreiber wie ein störrischer Esel weitergetrieben wurde. Diesen Anblick der Schande beim Tempel und den Blick Ezechiels kann Daniel nie vergessen.

Nein, es ging nicht ins Gefängnis. Außerhalb der Mauern standen Ochsenkarren bereit, auf denen die weinenden Frauen und die zum Teil laut schreienden kleinen Kinder sich hinsetzen durften. Die Männer und alle, die sonst noch gehen konnten, mussten zu Fuß hinter den Wagen gehen. So eine Demütigung. Schließlich waren die Väter alle ehrenhafte Männer, Richter, Schriftgelehrte, hohe Beamte, angesehene Kaufleute und Tempeldiener. Zwei und zwei aneinandergefesselt, mussten sie gehen, angetrieben von den Soldaten Nebukadnezars.

Daniel und einige seiner Freunde, die er unter den Gefangenen gesehen hatte, waren wie alle Jugendlichen, Knaben und Mädchen, nicht an die Strapazen des Marsches und an die Kälte in den Nächten, in denen unter freiem Himmel gelagert wurde, gewöhnt. Nachts in den Lagern wurden die Männer manchmal von ihren Fesseln befreit. Aber das Lager wurde bewacht. An Flucht war nicht zu denken. Die Männer und jeder sonst, der rechnen konnte, zählte die Tage. Doch einer war wie der andere, selbst am Sabbat wurde marschiert. Wochenlang ging es in brütender Hitze über steinige oder sandige Wüsten und durch enge Täler und über hohe Pässe. Das Wasser in den Schläuchen reichte manchmal kaum bis zum nächsten Brunnen oder zur nächsten Oase.

Daniel sieht die Bilder, die ihn oft noch nachts in erschreckenden Träumen verfolgen, vor sich, als wäre all das noch nicht zu Ende. Es sind Erinnerungen an viel Gejammer und Schreien, an bleiche Gesichter mit dunklen Augenhöhlen und alte, schwache Menschen, die die Strapazen nicht überlebten und einfach im Sand verscharrt wurden. Die meisten, auch die in Jerusalem geachteten und vornehmen Männer, sahen schon nach wenigen Tagen zerlumpt und verstaubt wie Bettler aus. Und alle beschäftigte die Sorge, was aus ihnen werden sollte, wenn sie Babylon, wohin man sie, wie es hieß, verbringe, überhaupt erreichen würden.

Zuerst waren sie das ganze Jordantal hinaufgetrieben worden. Sie hatten die Berge des Libanon gesehen, ehe sie an den Oberlauf des Euphrats gekommen waren. Von da an ging es leichter, aber es schien endlos, immer in der Nähe des Flusses, der allmählich zu einem breiten Strom wurde. Dann trieb man sie wieder in ödes Land hinaus, um die Siedlungen zu umgehen. Die grünen Palmenhaine sahen sie meistens nur von weitem.

Endlich kamen sie Babylon näher. Schon aus der Ferne sahen sie den riesigen Königspalast und die Zikkurat, den gewaltigen hohen Bau, der sich nach oben stufenweise verjüngte und die Stadtmauer um ein Mehrfaches überragte.

Schon seit Tagen war man mehr als bisher Kameltreibern und Händlern begegnet, die auf ihren Eseln oder auf von Eseln gezogenen, mit Waren hoch beladenen zweirädrigen Karren Babylon entgegenstrebten oder von dorther kamen. Und das Land war immer grüner und fruchtbarer geworden. Sie marschierten mit schmerzenden Füßen und wunden Herzen an Hainen mit Dattelpalmen und Granatapfelbäumen vorüber. Ein blühendes Land. Doch was sollte aus ihnen werden? Würden sie versklavt, die Familien getrennt werden? Die Angst, die auf der ganzen Reise ihre Begleiterin war, wurde zur beklemmenden Qual.

Asarja, Daniels Freund, der in Jerusalem mit seinen Eltern und Geschwistern nur zwei Häuser weiter gewohnt hatte und mit dem er sich beim ersten Nachtlager doch noch zusammengefunden hatte, zeigte ganz unverhohlen Freude und Neugier, die berühmte Stadt kennen zu lernen. So viel hatte man von ihr gehört, Gutes und Schlechtes. Keine Stadt auf dem ganzen Erdkreis sei größer und schöner als Babylon, hieß es. Und groß und gewaltig zeigte sie sich den Gefangenen, hell im Sonnenlicht aus der Ebene herausragend. Dachte Asarja denn nicht an das, was ihm und allen anderen widerfahren würde?

Daniel war viel zurückhaltender. Babylon, die große Hure, sagte man, sei ein einziger Sündenpfuhl. Er hätte liebend gerne auf Babylon und dessen Größe und Schönheit verzichtet, um in Jerusalem zu bleiben und dort sich zum Priester ausbilden zu lassen.

Doch dieser Traum war nun für ihn zu Ende.

Asarjas Freude wurde gedämpft, als es schien, dass sie an Babylon vorbeiziehen mussten. Wie weit sollte denn diese Reise noch gehen?

Südlich von Babylon durften sie endlich rasten. Das Gerücht ging um, dass sie hier bleiben sollten. Es war kein wüstes Land. Hohe Palmen und kleinere Bäume wuchsen hier. Und nicht weit von hier floss ein Nebenarm des Euphrats. Asarja dachte als Erstes an ein kühles Bad, das allen Schmutz und Schweiß von ihm abwaschen würde.

Ein paar Tage vergingen, ohne dass man wusste, was nun geschehen würde. Dann wurde ein großes Gebiet abgesteckt und eingezäunt. Viel Material wurde herbeigeschafft. Daraus sollten sie sich Hütten bauen. Auch das nötige Werkzeug, das sie dazu brauchten, war dabei. Jeden Tag bekamen sie Verpflegung. Als die Hütten standen, wurde ihnen auch Werkzeug gebracht, mit dem sie das umliegende Feld bebauen sollten.

An Wasser fehlte es ja nicht, obwohl dieser Nebenarm des Euphrats um diese Jahreszeit fast ausgetrocknet war. Doch es gab die Vermutung, dass er manchmal auch über das Ufer trat, denn der Boden schien fruchtbar zu sein.

Die Angst löste sich langsam auf. Die Menschen atmeten auf, wagten allmählich zu glauben, dass es doch nicht so schlimm würde. Sie begannen sich am Gezwitscher der Vögel, am Flattern der Schmetterlinge und am Rauschen des Stroms zu freuen. Und auch die Aussicht darauf, nicht nur herumzusitzen, sondern arbeiten, etwas aufbauen zu können, gab ihnen neuen Mut und Lebensfreude.

Schon bald begann ein reges Leben. Jeder, der gesund und bei Kräften war, musste mithelfen. Es gab ein paar wenige Männer, die wussten, wie man Hütten baut und auch einen Acker bestellt, und die all den Menschen, die nur das Stadtleben in Jerusalem gekannt hatten, zeigen konnten, wie man solche Arbeiten anpackt. Auch die Jugendlichen, je nach Alter, bekamen ihre Arbeit zugewiesen.

Eines Tages, als bereits die einfachen Hütten standen, in denen sich die Familien notdürftig eingerichtet hatten, näherten sich vier Männer auf Kamelen der Siedlung. Zwei ritten voraus, dahinter folgten zwei mit Schwertern bewaffnete Soldaten. Vor dem provisorisch errichteten Eingangstor stiegen sie ab. Einer der Männer trug einen dunkelblauen Umhang über der Schulter und eine Kette mit einem großen, runden Anhänger auf der Brust. Der eine der Soldaten trat mit ihm und dem zweiten, offensichtlich weniger bedeutenden Mann zu den Hütten, der andere Soldat blieb bei den Kamelen. Schon bald hieß es, der schön Bekleidete sei der oberste Kämmerer des Königs. Der andere Mann hatte das Aussehen eines Israeliten. Er war tatsächlich ein israelitischer Kaufmann, der schon länger in Babylon lebte und nun als Dolmetscher gebraucht wurde.

Der vornehme Babylonier schien sich vor allem für kräftige und gut aussehende Knaben zu interessieren. Einen nach dem anderen rief er zu sich.

„Wer wohnt hier am nächsten?“, übersetzte der Dolmetscher die Frage des Kämmerers.

Einer meldete sich schüchtern.

„So führ uns zu deinen Eltern“, sagte er weiter in freundlichem Ton.

Alle, mit dem ganzen Schwarm von Knaben, gingen mit dem Ersten zu dessen Eltern.

„Ihr bleibt stehen und wartet hier auf den obersten Kämmerer“, sagte der Dolmetscher. Der oberste Kämmerer des Königs ging nun mit dem Knaben und dem Dolmetscher hinein in die Hütte. Es stellte sich heraus, dass er vier Knaben auswählen sollte, die für drei Jahre im Königspalast eine Ausbildung machen müssten, um später dem König Nebukadnezar dienen zu können. Die Knaben sollten möglichst aus gutem Hause sein, was nicht leicht zu beurteilen war angesichts dessen, dass alle Hütten gleich und die Menschen ärmlich aussahen. Doch der oberste Kämmerer, der sich mit dem Namen Aspenas vorgestellt hatte, ließ durch den Dolmetscher ermitteln, welchen Beruf und Stand der Vater in Jerusalem hatte, ob der Knabe lesen oder gar schreiben könne.

Der erste Knabe schien den Anforderungen nicht zu genügen. Dann ging es so von Hütte zu Hütte, bis am Ende nur noch vier übrig blieben.

Diese vier sollten, sofern ihre Väter nicht zu Hause waren, ihren Vater vom Arbeitsplatz holen. Denen wurde erklärt, was der oberste Kämmerer mit ihren Söhnen vorhatte. Dann sollten sich die Söhne von ihrer Familie verabschieden.

„Neue Kleider werdet ihr im Königspalast bekommen“, versprach Aspenas. „Es wird euch auch sonst an nichts fehlen. Wenn ihr euch gut haltet und fleißig seid, werden eure Eltern und Geschwister euch ein bis zwei Mal im Jahr in Babylon besuchen können.“

Natürlich waren viele Tränen geflossen, auch bei Daniels Mutter. Doch der Vater hatte sie gebeten, aufhören zu weinen. Schließlich würde es ihrem Sohn ja gut gehen, besser als all den anderen, die bleiben müssten. Der oberste Kämmerer hatte den Knaben ja versprochen, die Gunst des Königs werde ihnen gewiss sein.

Daniel war froh, dass auch Asarja ausgewählt wurde. Die anderen zwei Knaben kannte er nicht.

Im Palast, in den sie gebracht und gewaschen wurden, neue Kleider bekamen und fürstlich bewirtet wurden, holte sie am dritten Tag ein Bote des obersten Kämmerers ab, um sie dem König vorzustellen.

Der Raum, in dem die vier nun für drei Jahre miteinander leben sollten, befindet sich nicht im Königsschloss, sondern dem Schloss gegenüber auf der anderen Seite der breiten, langen Straße, die sich schnurgerade durch den ganzen Stadtteil hinzieht. Der Palast ist größer als das Königsschloss und hat drei verschieden große Innenhöfe. Vom Fenster ihres Zimmers aus können die Jungen auf einen dieser Höfe hinunterschauen, in dem ein paar Palmen aus grünem Grasboden herauswachsen und wo an jenem Vormittag ein paar Beamte wohl in einer Arbeitspause beieinanderstanden und diskutierten.

Der Mann, der die Knaben abgeholt hatte, begleitete sie nun in den mittleren Teil des Palastes, wo sich auch der Thronsaal des Königs befindet. Hier wartete der oberste Kämmerer auf sie, der sie in eine kleine, verborgene Kammer hinter dem Thronsaal führte, von der aus der König bei großen Anlässen in den Saal treten kann. Wenig später kam Nebukadnezar herein, begrüßte sie freundlich und setzte sich auf eine steinerne, mit der Rückwand verbundene Bank. Der König befragte die Jungen noch einmal über Beruf und Stand ihrer Väter, und der Kaufmann, der wieder als Dolmetscher dabei war, übersetzte, was sie gesagt hatten. Der König schien zufrieden zu sein, denn nach der Vorstellung jedes Einzelnen, der einen Schritt vortreten musste, nickte er. Wenn dann der König ihm einen neuen, babylonischen Namen gegeben hatte, gab der Kämmerer dem Knaben ein Zeichen, dass er wieder zurücktreten könne. Nachdem der Kämmerer noch ein paar Worte mit dem König gewechselt hatte, was die Knaben nicht verstanden und auch nicht übersetzt wurde, ging der Kämmerer mit ihnen hinaus und erklärte ihnen, Nebukadnezar sei zufrieden mit ihnen und wünsche nun, dass sie im Palast ausgebildet würden, um nach drei Jahren in seine Dienste zu treten.

Erst als Daniels drei Freunde einen ersten Wettlauf entlang der Längsseite des Sandplatzes gemacht haben, den Hananja, der jetzt Sadrach heißt, gewonnen hat, erhebt sich Daniel von seinem Sitz und schlendert langsam zu den andern, als ob er sich nun doch anders besonnen hätte.

„Los, dreimal rund um das Feld“, ruft er plötzlich, als er bei ihnen ist, und alle drei laufen überrascht Daniel hinterher, so schnell sie können. Der vergrößert seinen Vorsprung und kommt als Erster, rasch atmend und am nackten, von der Sonne gebräunten Oberkörper schwitzend ans Ziel, wo er lachend einen nach dem andern erwartet.

„Daniel, du bist der Beste“, sagt Mesach, der als Letzter einläuft, vollkommen außer Atem.

Dass Misael, so sein israelitischer Name, ihn mit seinem ursprünglichen Namen angesprochen hat, ist für Daniel der schönste Preis für seinen Sieg. Seit ihnen der König die neuen babylonischen Namen gegeben hat, dürfen sich die vier Freunde nicht mehr mit ihren alten Namen ansprechen. Hier auf dem Spielfeld, wenn kein aufmerksamer Bewacher und auch kein Mitschüler in der Nähe oder ihr Lehrer, der sie neben allem andern im ersten Jahr auch in den körperlichen Übungen unterrichtet, dabei ist, kann das Verbot ja einmal durchbrochen werden. Doch die drei andern haben sich so sehr an ihre neuen Namen gewöhnt, dass sie auch an diesem Ort Daniel nur mit Beltsazar ansprechen. Wie schnell könnte man sich sonst einmal verplappern.

Als der Bewacher wieder näher kommt und er die Zeit für die lockeren Spiele für abgelaufen hält, beenden die vier und auch die acht Babylonier ihre Spiele und Wettkämpfe und eilen zu der Ecke, wo sie ihr Oberkleid abgelegt haben, schlüpfen hinein und lassen sich von dem Bewacher wieder in zwei Reihen durch die Stadt in den Palast zurückführen.

Solche Stunden ohne Lehrer, wo sie ihre Spiele und Wettkämpfe selber bestimmen können, sind selten. Die Stunden für die körperlichen Übungen mit dem Lehrer finden sonst jeweils im kleinsten der drei Innenhöfe des Palastes statt.

Wie sie in den Palast zurückkehren, empfängt sie Hased, ihr Lehrer, in einem kleinen, kahlen Zimmer. Die acht babylonischen Jungen werden von einem anderen Lehrer in einem angrenzenden Raum unterrichtet.

Die vier setzen sich vor ihrem Lehrer auf den kühlenden Steinboden.

Hased ist ein älterer Mann, der auch israelitisch spricht, ihnen aber bereits ein wenig die babylonische Sprache beigebracht hat, aber auch, wie sie sich im Palast oder im Schloss zu benehmen hätten und wie sie sich verhalten müssten, falls sie einmal zum König Nebukadnezar gerufen würden, was aber seit der ersten Audienz im kleinen Vorzimmer des Thronsaals nicht mehr geschehen ist. Allzu gerne würden die Knaben einmal einen Blick in den Thronsaal werfen. Doch das ist ihnen ausdrücklich verboten. Zudem stehen immer zwei Soldaten davor Wache.

„Heute könnt ihr mir zeigen, was von der letzten Geschichtsstunde noch in eurem Gedächtnis geblieben ist“, sagt Hased, zeigt auf Sadrach und fragt:

„Weißt du noch, wer die ersten Gesetze in Babylon geschaffen hat, die heute noch gültig sind?“

„Das war Hammurapi“, antwortet Sadrach.

„Gut“, lobt Hased, und zu Daniel gewandt: „Und du Beltsazar, weißt du, wer Hammurapi war?“

„Ja, Herr, Hammurapi war ein König.“

„Und wann lebte er, Mesach?“

„Hammurapi lebte vor ungefähr 1200 Jahren“, antwortet dieser.

„Und wer regierte in Babylon vor unserem König, Abed-Nego?

„Nebukadnezar der Erste“, antwortet Abed-Nego, ohne zu zögern.

„Nein, das stimmt nicht“, erwidert Hased. „Denk noch einmal nach, Nebukadnezar der Erste ist vor fünfhundert Jahren König in Babylon gewesen.“

„Ich weiß es“, ruft Mesach eifrig. Doch der Lehrer gibt ihm ein Zeichen zu schweigen.

Abed-Nego denkt eine Weile nach, dann sagt er: „Nabo… Nabopolassar.“

„Richtig“, bestätigt Hased, „und du Mesach, wenn du schon so viel weißt, kannst du mir auch sagen, wer der Sohn von Nabopolassar ist?“

Auf diese Frage ist Mesach nicht vorbereitet. Er überlegt, aber er findet die Antwort nicht.

„Du, Beltsazar, weißt du es?“

„Ja, Herr, der Sohn von Nabopolassar ist der König von Babylon, Nebukadnezar der Zweite.“

„Das ist richtig“, sagt Hased. „Aber warum so umschweifend? Sag doch einfach: unser König?“

Beltsazar will nicht antworten. Aber Hased drängt ihn: „Hm? Antworte bitte!“

Daniel errötet und sagt dann: „Weil unser, mein König Jojakim, der König über Juda, ist.“

Die drei andern machen vor Schreck große Augen, als wären sie einem wilden Löwen oder einem Gespenst begegnet. Abed-Nego schaut ängstlich zu seinem Freund hinüber, der auf der anderen Seite hockt.

„Das war einmal“, sagt Hased. „Aber wenn ihr Babylonier sein wollt und dem König dienen möchtet, dann müsst ihr das, was früher gewesen ist, vergessen. Spätestens in drei Jahren, wenn ihr perfekt babylonisch sprechen könnt. Dann müsst ihr aber nicht nur sprechen wie Babylonier, sondern auch denken wie wir Babylonier.“

Daniel sagt nichts mehr, sondern denkt, niemand habe ihn gefragt, ob er Babylonier werden wolle. Nicht freiwillig ist er nach Babylon gekommen. Er wusste, er hatte keine andere Wahl, aber im Herzen will er immer Israelit bleiben, und nichts wünscht er mehr, als dass er nach diesen drei Jahren mit seiner Familie und dem ganzen Volk nach Jerusalem zurückkehren kann.

„Ihr müsst noch viel lernen“, sagt Hased. „Ich werde jetzt noch weiter von der Geschichte Babylons erzählen. Passt gut auf, morgen werde ich euch abfragen, was ihr noch wisst von dem, was ich euch heute lehre.“

Die vier Jungen lauschen nun aufmerksam ihrem Lehrer, bis es Zeit zum Essen ist. Sie bekommen zusammen mit den babylonischen Schülern ihre Speisen vom Tisch des Königs in einem anderen, an den Wänden schön bemalten Raum.

Das geschieht auf Befehl Nebukadnezars, der die vier der besonderen Obhut des obersten Kämmerers anvertraut hat, damit dieser verantwortlich ist, dass die Knaben die beste Erziehung bekommen, denn nach der dreijährigen Ausbildung sollen die Besten dem König, für was immer er für sie bestimmen würde, dienen können.

Schon auf dem Marsch von Jerusalem, wenn Nebukadnezar auf seinem Pferd an dem Zug der Gefangenen vorbeiritt, waren ihm ein paar gut aussehende Knaben aufgefallen, weil sie einigermaßen kräftig einherschritten, obwohl sie unter der Hitze und mit dem abgetretenen Schuhwerk litten. Auch hatte er an ihren Gesichtszügen erkannt, dass sie, nicht wie viele andere, von edlem Geblüt und Charakter sein mussten, wie sich später dann auch bestätigt hat. Gewiss hatte der oberste Kämmerer die Besten ausgesucht.

Obwohl den vier Freunden, wenn man sie beisammen sieht, eine gewisse Ähnlichkeit nicht abzusprechen ist – sie wurden ja alle nach den gleichen Kriterien ausgewählt –, so unterscheiden sie sich doch wesentlich in ihren Charakteren.

Daniel ist ein für sein Alter sehr besonnener, kluger und auch frommer Junge, dem sein Glaube an den Gott Zebaoth ebenso wichtig ist wie die Bewahrung seiner Wurzeln, seiner israelitischen Herkunft. Trotzdem ist er ein eifriger Schüler, der möglichst schnell die babylonische Sprache sprechen und beherrschen und die Keilschrift erlernen möchte. Er war schon in Jerusalem ein aufgeschlossener Junge, der gerne lernte und immer bereit war, seinen Wissensschatz zu vergrößern. Das bringt ihm auch jetzt nicht nur bei seinem Lehrer Hased, sondern auch bei seinen Freunden Respekt ein, so dass es sich fast von selbst ergab, dass Daniel unter ihnen die führende Stellung einnimmt.

Abed-Nego ist Daniels bester Freund, trotz ihrer fast entgegengesetzten Charaktere. Das hat seinen Grund darin, dass sie in Jerusalem Nachbarn und von klein an Spielkameraden waren. Abed-Nego ist eher einer, der auf eine liebenswürdige Art das Leben leicht nimmt, einer, der die Herzen der Menschen im Nu erobert. Auch die beiden anderen, Sadrach und Mesach schätzen sich glücklich, seine Freunde sein zu dürfen. Er ist ein Kamerad, den man einfach gern haben muss. Die Führung überlassen sie aber gerne Daniel.

Sadrach und Mesach haben die beiden Freunde Daniel und Asarja, der jetzt nicht ungern den Namen Abed-Nego trägt, erst als Ausgewählte des Königs kennen gelernt. Sadrach war am Anfang und auch jetzt noch ab und zu traurig, weil er auf dem Marsch nach Babylon ein Mädchen kennen gelernt hat. Er hat sich in Mirjam verliebt, der er sich zuerst bei einem Nachtlager genähert hat, wo seine und Mirjams Familie nebeneinander lagerten und ins Gespräch kamen. Auf dem Marsch hat er jeden Tag Mirjams Nähe gesucht, ist neben ihr marschiert und hat durch sein zurückhaltendes Wesen und seine Hilfsbereitschaft Mirjams Zuneigung gewonnen. Bald blieben sie auch beim nächtlichen Lagern beisammen, hielten sich in der Dunkelheit, wenn es niemand sehen konnte, an den Händen und flüsterten sich immer wieder zu, dass sie beisammen bleiben wollten, was immer mit ihnen in Babylon geschehen würde. Die Trennung, als Hananja nach Babylon gehen musste, fiel beiden schwer, doch sie schworen sich, es solle nicht für immer sein.

Der Stillste von allen ist Mesach. Er bewundert Daniel wegen seiner Klugheit, Abed-Nego wegen seiner fröhlichen Unbekümmertheit, fühlt sich aber am meisten hingezogen zu Sadrach, den er fast ein wenig beneidet wegen seiner Liebe zu Mirjam. Auch er hat sich unterwegs in ein Mädchen verliebt, das aber nichts davon weiß. Er war zu schüchtern. Er versteht Sadrachs stille Trauer. Sie sprechen manchmal untereinander, wenn die andern beiden nicht dabei sind, und halten so die Liebe und die Sehnsucht nach ihren Mädchen lebendig.

Im Speiseraum sitzen die Knaben in drei Vierergruppen, je einen Kreis bildend, am Boden. Von Anfang an hat es sich so ergeben, dass die vier Israeliten in einem eigenen Kreis beisammen sitzen. In der Mitte des Kreises ist ein Tuch ausgelegt. Wenn die Jungen vom Schul- ins Esszimmer hinüberwechseln, sind die Tücher jeweils bereits mit den besten Speisen bedeckt. Da gibt es in verschiedenen Schalen Fleisch und Fisch, Brot und vielerlei Früchte: Äpfel, Feigen, Datteln, Granatäpfel. Und in jedem Kreis stehen zwei Kannen, die eine mit Wasser, die andere mit Wein gefüllt.

Am ersten Tag hat Mesach Daniel gefragt: „Was meinst du, dürfen wir von dem Fleisch essen?

Daniel antwortete: „Wir wissen ja nicht, was für Fleisch das ist, vielleicht Kamelfleisch oder Schweinefleisch.“

Und Abed-Nego meinte. „Es könnte auch Fleisch vom Esel sein. Hier gibt es so viele Esel.“

Daniel mahnte: „Am besten lassen wir die Hände vom Fleisch, auch das Brot ist wahrscheinlich nicht nach unseren Geboten hergestellt. Essen wir besser nur von den Früchten.“

Seither essen Daniel und seine drei Freunde nur noch von den Früchten. Sie trinken auch keinen Wein. Die Brote, das Fleisch und den Wein überlassen sie ihren babylonischen Kameraden, die sich gerne an dem Zurückgebliebenen bedienen.

Das hat zur Folge, dass die Babylonier bald an Gewicht mehr zugenommen haben, als für ihr Alter normal ist, und im Unterricht oftmals unaufmerksam sind, weil der viele Wein sie schläfrig macht, während die Israeliten abnehmen und dünn und bleich werden, aber trotzdem immer wach und interessiert am Unterricht teilnehmen.

Als nun nach einiger Zeit der oberste Kämmerer ein erstes Mal in die Schulstunde kommt, um zu sehen, welche Fortschritte die Zöglinge machen, fällt ihm auf, wie elend und schmächtig die Israeliten sind. Er nimmt deshalb, als der Unterricht zu Ende ist, Daniel beiseite und fragt ihn, ob sie etwa zu wenig zu essen bekämen.

„Ich fürchte um mein Leben“, sagt er, „wenn der König sieht, wie jämmerlich ihr ausseht. Er hat mir befohlen, euch das zu essen zu geben, was auch mein Herr, der König, isst. Und nun schaut ihr trotzdem so elend aus.“

Da sagt ihm Daniel, nein, sie würden reichlich bekommen, doch könnten sie die Brote und das Fleisch nicht essen und den Wein nicht trinken, weil sie sich nach der Lehre ihrer Religion damit verunreinigen könnten. Der oberste Kämmerer versteht zuerst nicht, was denn an diesen Speisen unrein wäre, schließlich würden doch der König und alle an seinem Tisch das Gleiche essen. Doch nachdem ihm Daniel von den Gesetzen Moses einiges erklärt hat, fragt er, was sie denn essen und trinken möchten.

„Wir möchten nur viel Gemüse und statt des Weins zwei Krüge Wasser“, sagt Daniel, „dann werden wir satt werden und nicht dürsten.“

Der oberste Kämmerer hat Erbarmen mit den Jungen, doch er fürchtet Nebukadnezars Zorn, wenn er die Israeliten, die des Königs Speise verschmähen, anders behandeln würde als die babylonischen Jungen. Und wie könnte er dies vor den acht jungen Babyloniern geheim halten?

Daniel hat schon seit einiger Zeit bemerkt, dass der Aufseher, der die Speisen bringt, ihm wohlgesinnt ist. Denn Daniel ist immer besonders freundlich zu ihm und dankt für die Speisen. Deshalb bittet Daniel, ob er den Aufseher rufen dürfe.

Nachdem Daniel ihm erklärt hat, worum es geht, macht dieser dem obersten Kämmerer den Vorschlag, die vier Israeliten könnten die Mahlzeiten in seinem kleinen Dienstzimmer einnehmen, dann bliebe das Ganze verborgen.

Der Kämmerer ist damit einverstanden. Die babylonischen Jungen wundern sich zwar, warum die Israeliten auf einmal nicht mehr mit ihnen im gleichen Zimmer essen, und sind enttäuscht, dass sie nicht mehr von deren Speisen naschen können, aber sie wagen nicht zu fragen und denken schon bald nicht weiter darüber nach und sind eigentlich ganz froh, von nun an unter sich zu sein.

Als der oberste Kämmerer nach einiger Zeit in der Schule wieder nachschaut, sieht er zu seiner Zufriedenheit, dass die Israeliten aufgeblüht sind und ihre Körper wieder kräftig und die Gesichter schön sind, ja noch schöner als jene der babylonischen Fürstensöhne, so dass der König mit den Jungen und mit ihm, deren Betreuer, sicherlich zufrieden sein wird.

Daniel in Babylon

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