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2. Gegen mich

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Leck mich am Arsch, das Wetter ist gegen mich, -Gott und die Menschheit sind gegen mich! Es mag kurz vor Mitternacht sein, ein eisiger, von strengem Wind gepeitschter Regen sticht mir ins Gesicht, während ich mit langsamen Pedalumdrehungen mein Rennrad durch die feuchtkalte Märznacht lenke. Nasse eisige Hände, ein ebensolches Gesicht und getrieben von einem einzigen Gedanken,-hinauf zum Turm, nichts wie hinauf. Die Strecke, die vor mir liegt ist kaum fünf Kilometer lang, nicht viel für einen Mann der seit der Kindheit auf dem Fahrradsattel sitzt und später als Erwachsener über zehntausend Kilometer pro Jahr in die Pedalen trat und zudem sechstausend Kilometer jährlich mit den Laufschuhen zurücklegte. Und doch sind sie mir verhasst, diese nächtlichen Radtouren, welche mich bei Wind und Wetter, bei hohem Schnee und eisigen Minusgraden, fünf, sechs oder gar sieben Mal pro Woche von meiner Wohnung zum ebenfalls fünf Kilometer, vom früheren Wohnort sogar zehn Kilometer, entfernten Arbeitsplatz,-einer kleinen Bäckerei, führten, oder besser gesagt trieben. Aber die jetzige Fahrt ist anders. Ich bin nicht unterwegs zur Arbeit, schon seit etlichen Wochen bin ich arbeitsunfähig krankgeschrieben, habe die letzten vier Wochen stationär in der Psychiatrie verbracht und bin erst seit wenigen Tagen in tagesklinischer Behandlung, das heißt bei Nacht bin ich Zuhause. Und genau dort kam der erneute Schub, der mich, obwohl ich ein gewisses Maß an Medikamenten einnehme, von einer zur anderen Sekunde zwang, bei Nacht und Dunkelheit, Hals über Kopf das Fahrrad zu nehmen und zielgenau Richtung Aussichtsturm in die, nur von dem schwachen Fahrradscheinwerfer bescheiden ausgeleuchtete eisige Nacht zu fahren. Meine Familie hatte keinen Verdacht geschöpft, denn im Treppenhaus der baufälligen Schrottimmobilie, die uns eine gerissene Maklerin angedreht hatte, sagte ich, dass mein Ziel die psychiatrische Notaufnahme der mir bekannten Klinik sei. Obwohl die Strecke dorthin ungefähr zwanzig Kilometer lang war, hätte niemand einen Einspruch dagegen eingelegt, denn jeder kannte meine Einstellung, wusste dass ich keine Einwände duldete. Wenn ich etwas tun wollte, dann tat ich es, ob es ein Eintausend Kilometer langer Rucksackmarsch alleine durch Arizonas Wüsten oder der Langstreckenmarsch der Alpenüberquerung war, egal Nie hätte ich zugelassen, das mein besorgtes Umfeld meine stets alleine durchgeführten Extremtouren kritisieren würde. Also fuhr ich, während meine Lieben dachten, das die helfende Klinik mein Ziel sei, hinauf Richtung dunklem Aussichtsturm. Mein gesamtes Leben verbrachte ich im deutschen Bundesland Hessen und genau dort steht seit den achtziger Jahren der 34 Meter hohe, hölzerne Turm, der rund um die Uhr zugänglich ist und bei Wanderern und Lebensmüden gleichermaßen Interesse weckt. Seit seiner Erbauung sprangen unzählige von seiner Brüstung in die Tiefe, die Anwohner in der Umgebung hörten davon über Mundpropaganda oder über den Funk der freiwilligen Feuerwehr. Die Medien vermieden es stets über einzelne Vorfälle zu berichten, selbst wenn der Turm monatliche Opfer zu beklagen hatte. Wohl sollte er nichts von seiner Unschuld verlieren. Darum möchte auch ich auf konkrete Lagedaten verzichten. Nach gut zwei Kilometer biege ich in der stockfinsteren Nacht von der Hauptstraße ab, schlage die serpentinenartig nach oben führender Seitenstraße ein und fahre wie ferngelenkt die Steigung empor. Warum bin ich hier? -, frage ich mich unbewusst und erhalte als Antwort das real wirkende Turm Bild vor Augen. Was geht hier ab? Mein Blick aus,-wegen des peitschenden Regens, halb zugekniffenen Augen, haftet im Dunkel der Nacht an dem weißen Seitenstreifen, welcher die schmale Straße rechts begrenzt. Bloß nicht im Regennebeldunkel von der Straße abkommen und verunglücken. Warum eigentlich nicht? Der Anstieg vor mir scheint endlos. Wie lange bin ich schon unterwegs? Wo bleibt die Beleuchtung des nächsten Dorfes, das unmittelbar unter dem Aussichtsturm liegt? Ich erkenne wie das Schwarz der schmalen Straße allmählich grau und alsbald sogar weiß wird. Schnee, der Regen geht in Schnee über, Scheiße. Erstmals dreht das Hinterrad des Rennrades leicht durch. Die nächste Haarnadelkurve und ein weiteres Durchdrehen folgen. Ich steige ab, berühre mit meinen Schuhen glättetestend den matschig feucht schneeigen Untergrund und schiebe das Rad weiter bergan. Mein Kopf scheint hohl und leer zu sein, nur von einem dumpfen, kaum spürbaren Dröhnen erfüllt, während vom Körper eine kaum ertragbare innere Unruhe ausgeht, welche mit Worten kaum zu beschreiben ist. Was tue ich gerade, ich der nichts wert ist, wo will ich hin? Wo liegt der Sinn meines Tun, habe ich jemals etwas Sinnvolles getan? Und immer wieder der Turm als Spiegel der Fragen als Antwort im Geiste. Nebel, dichter werdender Nebel füllt den Scheinwerferstrahl mehr und mehr aus. Der Nebel scheint auch von meinem Schädelinneren Besitz ergriffen zu haben, Nebel überall. Da erkenne ich schräg oberhalb vor mir eine milchige, weißgelbe, schemenhafte Wolke in der Nebelsuppe. Sie ist sichtbar durch die erste Straßenlaterne des Dorfes, welches auch durch den Turm weithin bekannt ist. Das vielleicht kaum zweihundert Seelen zählende Dorf, für hessische Verhältnisse ein Bergdorf, schläft. Kein Geräusch geht von ihm aus. Wäre Sommer hätten die Schlafenden die Fenster offen und man würde Schnarch - und Furzgeräusche hören. Sicher auch die schamlosen Stöhn Laute der Fickenden und Bumsenden. Aber es ist Winter, kalter stiller Winter. Von einer Gefühlsvielfalt, von oben nach unten, von links nach rechts, von vorne nach hinten gezerrt, schiebe ich mein Rad über die mittlerweile geschlossene Schneedecke durch das kleine Dorf. Wenige Minuten später liegt der Ort, den ich über eine noch steile ansteigende schmale Straße, im Grunde nur noch ein asphaltierter Weg, ins Dunkel der Nacht verlasse, hinter mir. Ich habe den Eindruck das der Nebel mich auffressen will, so dicht ist er mittlerweile. Vom Ortsrand sind es noch gut tausend Meter bergan zum Turm. Die Strecke kenne ich auswendig von jahrelangen Lauftraining Runden. Wie viele hundert Male habe ich selbst nur für Trainingszwecke die Marathondistanz von 42 Kilometer oder auch die 100 Kilometer Marke überschritten? Unzählige Male, Unzählige, -und warum? Nur um mich von der Masse der Mitmenschen, für die ein Marathon eine große Anstrengung bedeutet, zu distanzieren, um ihre Leistungen abzuwerten und somit in einer Liga zu laufen, wo sie nicht sind. Der Lauftreff Marathoni lief nach monatelanger, was sage ich,-jahrelanger Vorbereitung einen Stadtmarathon, ich lief im Winter bei minus 15 Grad Celsius in 48 Stunden nonstop eine 265 Kilometer Runde um den Bodensee. Wie verrückt, nur um nicht zu den Anderen dazu zu gehören, um mich abzusondern, von der ungeliebten Mitbürgerwelt. Und das Training absolvierte ich an Steigungen, nur Kilometer mit vielen Höhenmetern hatten für mich Sinn. Darum kannte ich das Gebiet um den Turm in und auswendig. Irgendetwas stimmt nicht, denke ich plötzlich im dichten, von Schnee und Wind durchpfiffenen Nebel. Warum steigt die Strecke nicht mehr an? Normalerweise endet der Anstieg erst auf dem Plateau, auf welchem der Turm wurzelt. Ich muss in der dichten Nebelsuppe den Abzweig zum Turmweg versäumt haben. Und das in einer Gegend, die ich wie die sprichwörtliche Westentasche kenne. Leck mich am Arsch. Ich Versager, denke ich bei mir und bekomme gleichzeitig Panik,-ich könnte den Turm nicht rechtzeitig erreichen, als ob mir irgendein wichtiger Termin davonlaufen würde. Wir irre bin ich, -und wo bin ich? Es kann nur eine Möglichkeit geben. Auf der Stelle mit dem Fahrrad wenden und der schmalen Reifenspur im Schnee folgend, das Rad zurück schieben bis der Weg wieder bergab führt. Aufmerksam wie ein Fuchs, aufmerksam wie ein Jüngling vor der ersten Erektion schiebe ich also das Rad einige hundert Meter zurück, bis der Weg spürbar abwärtsführt. Irgendwo hier muss der Abzweig sein. Ich hebe das Vorderteil des Rades alle paar Meter an und leuchte durch Bewegen der Lenkstange seitlich in das Nebelmeer. Schließlich taucht eine sanft ansteigende, jungfräulich anmutende Schneefläche zwischen den Hecken und Bäumen auf. Es ist der Weg, der mich weiter Richtung Turm führt. Er erscheint mir als letzter Weg, so wie der seinerzeit letzte Weg, den Jesus Christus zum Platze seiner Kreuzigung führte. Ja, er ist es. Ich spüre die Kieselsteine, welche den Weg seit jeher bedecken, durch die Schuhsohlen drückender Wind schneidet förmlich die schnellen Flocken von Schnee ins Gesicht. Sie wehen fast waagerecht von rechts kommend, so dass ich den Kopf nach links wende. Während meine rechte Hand das Rad schiebt, greift die Linke verkrampft in mein Gesicht, massierend und drückend zugleich. Zudem tauchen in meinem Inneren Fragen und Antworten gleichzeitig auf. Warum willst du zum Turm? Du musst springen, weil es keine Alternative gibt. Warum musst du springen? Weil es der einzige Ausweg ist. Was wird die Familie sagen? Sie würden, wenn sie hier wären vom Sprung abraten und Todesängste ausstehen. Also doch springen, weil ich mir von Niemandem reinreden lasse? Ja, Springen! Weiter zum Turm,-nichts wie hin. Es wird stiller, der Wind lässt nach, Gott sei Dank. Gott,-bist du hier, oder gibt es dich nicht? Der Nebel liegt wie ein dichter Vorhang vor meiner Rennradlampe und meinen tränenden Augen. Da taucht etwas Dunkles, massiges, geradliniges im Lichtkegel auf, die dicken Linien nehmen Gestalt an, werden zu Balken, die sich in die Höhe recken,-Richtung Himmel. OH Gott, denke ich,-der Turm! Fast erschrecke ich beim Anblick der wuchtigen Turmbasis. Ein Schreck durchdringt mich, als ich merke, dass ich den Schlüssel für das Fahrrad-Schloss nicht dabeihabe. Das Rennrad muss also mit nach oben, sonst wird es geklaut, von einem Taugenichts, dessen bin ich mir sicher. Als ich das Rad anhebe, bemerke ich wie stark mein Puls rast. Was ist los mit mir? Ich möchte nach Hause und ich muss doch hinauf auf den Turm. Möchten oder Müssen, was soll ich tun? Ich bin im Niemandsland. Niemand vermisst mich, niemand erwartet mich. Und ich? Ich erwarte niemand, möchte niemand besuchen und erwarte nichts von Anderen oder von mir. Also schultere ich mit der rechten Hand das Rad und betrete die erste der hundertachtzig verschneiten Holzstufen der Turmtreppe. Ich trage das Rad so wie Jesus damals sein Kreuz trug, gebuckelt hinauf in die Höhe. Es schneit nicht mehr so stark, als ich eine Etage nach der anderen erklimme. Während des Aufstieges spüre ich Wärme in meinem Körper, fast schwitze ich ein wenig. Doch was will die Wärme bei mir, wo ich doch bald mit der Kälte des Todes verabredet bin? Ich bin froh, das Fahrrad nicht unten abgestellt zu haben. Bei mir ist es sicher. Dabei ist außer mir sicher niemand auf dem Turm. Stufe um Stufe steige ich höher. Meine Aufmerksamkeit gilt einzig dem Fahrrad. Bloß nicht anstoßen, bloß keinen Kratzer verursachen, denke ich. Denken,-was ist das? Wie oft bin ich schon hier hinaufgerannt? Während einer zwanzig Kilometer Runde peilte ich ihn über Jahre bestimmt drei, vier Mal pro Woche als besonderen Trainingsreiz an, lief hintereinander vier, fünf,-manchmal zehn Mal die hundertachtzig Stufen hoch,-machte oben fünfzig Liegestützen und lief wieder runter. Wobei mit Laufen flottes Dauerlaufwetzen gemeint ist. Schwer atmend wie ein Brunnenputzer lasse ich die letzte Treppenstufe hinter mir. Ich stehe oben, drehe mich mit meinem Rad einmal im Kreis, um mich mit dem Schein der Lampe zu vergewissern, allein auf dem Turm zu sein. Allein auf meinem Turm. Ich bin allein da, umgeben von Nebel und Wolken, die so dicht sind, dass ich weder Lichter von Orten und Sternen, noch die etliche Meter unter mir liegenden Baumkronen sehe. Vorsichtig lehne ich das Rennrad an den mittigen Stützbalken des von oben gesehen dreiseitigen Turmes. Wie viele Rennräder wohl schon hier oben standen, frage ich mich und bekomme keine Antwort. Ohnehin interessiert es mich einen Scheißdreck. Und wie viele Menschen waren wohl schon hier oben, in den knapp Dreißig Jahren, die der Turm schon steht? Auch auf diese Frage finde ich keine Antwort. Aber eines weiß ich gewiss. Über die hölzerne Treppe sind viel mehr Menschen nach oben gelaufen als nach unten, denn die zahlreichen Turmselbstmörder benutzten den Treppenbereich ja nur als Einbahnstraße. Selbstmord, Suizid, Selbsttötung, -alles beschreibt das gleiche, egal wie man es nennt. Es bezeichnet etwas Schreckliches. An das kalte zugeschneite Außengeländer gestützt, merke ich wie mein Atem langsam ruhiger wird, gleichzeitig lässt der Wind weiter nach. Er scheint in der Ferne zu verschwinden, hört sich an wie ein weit entfernter Zug. Ein Zug, ein Zug wäre auch eine sichere Möglichkeit, das Leben rasch zu beenden, geistert es mir durch den Kopf, während ich versuche im Nebel irgendetwas zu sehen, schließlich befinde ich mich auf einem Aussichtsturm. Ich winke ab, bei den weiteren Gedanken an einen Zug. Zu laut, zu schnell, zu erschreckend, einfach zu angsteinflößend. Und dann die armen Angehörigen. Sie können ihren lieben Verblichenen nach einem Zugsuizid häufig nicht mehr zum Abschied ansehen, wegen der starken Verletzungen. Obendrein bekommt die Familie, so habe ich zumindest gehört, von der Bahn eine Rechnung für die Reinigung des Unglücksortes. Eigentlich unverschämt und taktlos, wenn es wirklich so ist. Aber ist ein Suizid nicht auch unverschämt den Angehörigen gegenüber? Ich erinnere mich an einen Familienvater, der sich umbrachte, während Daheim seine Frau und kleinen Kinder schliefen. Ich erinnere mich wie unverschämt ich seine Tat fand, weil er seine Familie mit den Problemen, denen er durch Suizid entkam. Allein ließ. Aus Trotz bin ich seinerzeit nicht mit zur Beerdigung und sagte zu mir selbst, dass man ihm eigentlich posthum in den Arsch treten müsste, diesem Feigling. Damals war ich halb so alt wie Heute, hatte keinerlei Ahnung von Depressionen und dergleichen, obwohl ich,-wie mir Heute klar ist, damals schon lange, lange Zeit selbst belastet war. Damals war ich jedoch nur von Ignorieren zum Thema psychische Erkrankungen umgeben. Frei nach dem Thema,-was man verschweigt, existiert nicht. Ich sehe über die Brüstung nach unten, sehe aber nichts als weiß-grau-schwarze Nebelnacht. Wie lange würde ich wohl fliegen, fallen, stürzen? Wie würden sich die Gedanken während des Sturzes bemerkbar machen? Was wäre, wenn man springen will und seine Meinung während des Fallens ändert? Wie würden es meine Angehörigen erfahren? Würde die Todesmeldung von zwei Polizisten, die gedanklich schon beim Feierabend-Fick sind, meiner Familie übermittelt? Wie würden meine Lieben reagieren? Würden sie darüber hinwegkommen, oder wären sie Zeit ihres Lebens, infolge Schuldgefühle, Psychiatriedauerpatienten? Kann ich das verantworten? Muss ich weiterleben und weiter leiden, damit es anderen herzallerliebst geht? Fragen über Fragen, auf die es kaum eine eindeutige Antwort gibt. Ich möchte gehen, aber wenn ich gehe, geht es den Anderen schlecht, wenn ich bleibe, geht es den Anderen gut, aber mir schlecht. Was für eine Logik, typisch Mensch,-Hauptsache kompliziert. Wäre ich doch ein Gewürm, nur mit dem Fressinstinkt ausgestattet, mehr bräuchte ich nicht zum Leben. Ich hasse die Menschheit, hasse mich selbst und das Leben

WILLST DU LEBEN ... DANN SPRINGE

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