Читать книгу Das Erbe von Sunneck. Band 2 - Martina Frey - Страница 6

August 1242

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Der Turm diente als Lager, Unterkunft der Soldaten und Aussichtspunkt. Der untere Teil des Gebäudes bestand aus einer dicken Steinmauer, während der aufgestockte Teil aus einem Holz- und Lehmgeflecht gebaut war und im Laufe der Jahre Risse bekommen hatte.

Von dort oben hatte Jonata einen wunderbaren Blick über das Tal. Die Sonne blitzte zwischen den Wolken auf und tauchte es abwechselnd in Licht und Schatten.

Jonata zog sich gerne auf den Turm zurück, wenn Oskar hier oben seinen Dienst schob. Der Gefolgsmann störte sich nicht an ihrer Anwesenheit.

Hier fand sie Zeit und Ruhe, um nachzudenken. Sie wusste nicht, wie viele Wochen sie schon hier in Mechtheim war. Sie erkannte nur an ihrem stetig wachsenden Bauch, wie schnell die Zeit verging.

Längst war es ihr gelungen, das Gesinde zu erziehen und das Wohnhaus in Ordnung zu halten. Es war fast wie auf Sunneck. Sie hatte den Haushalt zur Zufriedenheit ihres Vaters geführt. Es würde auch für Mechtheim genügen.

Noch immer schmerzte der Gedanke an ihren Vater. Wie sehr vermisste sie ihn. Sobald sie versuchte, sich sein Gesicht in Erinnerung zu rufen, sah sie, wie Ulrich ihn niederschlug und er in seinem Blut starb.

Jonata atmete die frische Luft ein. Wind kühlte ihr von der Arbeit erhitztes Gesicht und fuhr durch ihr Haar. Das, was sie berührte, war Vergangenheit.

Ihre Hand ruhte auf ihrem Bauch, nicht als Schutz oder liebevolle Geste, sondern, weil sie sich immer wieder vergewissern musste, dass darin etwas wuchs.

Nichts von dem was geschehen war, konnte sie rückgängig machen. Die Menschen, die sie liebte, waren tot oder weit fort von ihr. Roberta, ihre jüngere Schwester war zu ihrer Tante nach Wiesbaden gegangen. Dort gab es genug Aufgaben, die Roberta ablenkten. Mit der Zeit würden die schrecklichen Erinnerungen verblassen. Vielleicht würde sie vergessen können, was man ihr auf Sunneck angetan und welche Angst sie ausgestanden hatte. Außer ihrer Schwester gab es noch mehr Menschen, an die Jonata denken musste. An ihren Verlobten oder die Edelknechte Martin und Linus. Jonata wusste nicht, was aus ihnen geworden war.

Sie sprach mit niemandem über die Geschehnisse oder gar über Lorentz, schon gar nicht mit Simon. Für ihn war Sunneck nur ein erobertes Stück Gemäuer. Für Jonata war es ein Stück ihres Herzens, das jetzt in Schutt und Asche lag.

Oft genug fragte sie sich, wohin Lorentz gegangen war. Sein Ansehen beim Erzbischof hatte er mit dem Angriff auf Sunneck verloren, das hatte sie von Hermine erfahren. Lorentz würde sicher nicht nach Mainz zurückkehren und dort um Gnade betteln. Wohin war er gegangen? Würde er ihr jemals vergeben können? Wie jedes Mal, wenn diese Erinnerungen zurückkamen, fragte sie sich, was sie hätte anders machen können. Die Zeit auf Sunneck, nach dem Tod ihres Vaters, veränderte alles. Das Leben an Ulrichs Seite hatte sie geprägt. Womöglich würde sie das Glück, nach dem sie sich mit Lorentz sehnte, gar nicht mehr finden. Ulrich hatte ihren Willen brechen wollen. Fast wäre es ihm gelungen und sie hätte verloren, was Lorentz immer an ihr bewunderte. Ihre Willensstärke und ihre Tatkraft.

Jetzt wuchs Verbitterung in ihrem Herzen und ein Teufel in ihrem Leib. Ihre Hand glitt von ihrem Bauch.

Wäre Lorentz eher nach Sunneck zurückgekommen, hätte er vieles verhindern können. Hätte er sie früher befreit, statt sie so lange unter Ulrichs Joch leiden zu lassen, wäre alles anders gekommen. Wo war er die ganze Zeit gewesen, als sie ihn brauchte? Was hatte ihn so lange zögern lassen?

Es war sinnlos, Verlorenem nachzuweinen. Ihr Körper hatte einem anderen Mann gehört. Kein anderer wollte so eine Frau noch haben. Damit war das, was Lorentz und sie verband, verloren.

»Ihr solltet ins Haus gehen«, murmelte Oskar plötzlich neben ihr. »Ihr seht blass aus, Herrin. Ihr schlaft zu wenig.«

In ihren trübsinnigen Gedanken gestört, hob sie den Kopf.

War es ihr anzusehen? In den Nächten kehrten ihre Träume nach Sunneck zurück. Immer wieder durchlebte sie die schrecklichen Tage mit Ulrich, erduldete seine Gemeinheiten und Grausamkeiten, bis sie jedes Mal schweißgebadet erwachte. Sobald sie begriff, dass Ulrich tot war und er ihr nie wieder Leid antun konnte, weinte sie erleichtert.

»Vielleicht habt Ihr Recht, Oskar«, erwiderte Jonata und stieg den Turm hinab. Bevor sie sich hinlegte, beschloss sie, nach Simon zu sehen.

Jonata fühlte sich ohne Hermines Unterstützung hilflos. Ihr fehlte es, sich mit jemandem auszutauschen und um Rat zu fragen. Ihr Leben lang war sie von ihrer Familie umgeben gewesen. Niemals war sie auf sich allein gestellt, bis zu jenem schicksalhaften Tag.

Sie betrat das Wohnhaus und stieg die Stufen hinauf, bis sie vor Simons Kammer ankam. Sachte klopfte sie an und trat ein. Trotz der vereinzelten Sonnenstrahlen, die durch die schmale Maueröffnung fielen, wirkte die Kammer düster.

Simons Gesicht sah ausgemergelt und fiebrig aus. Seine Verletzungen heilten endlich. Manchmal versuchte er aufzustehen. Er war ungeduldig und wütend geworden, wenn er kraftlos zurückgefallen war.

Vor einiger Zeit hatte sie frischen Eiter entdeckt. Dieser Rückfall verbannte Simon weiterhin auf sein Lager und verschlechterte seine Laune. Die Schweißperlen auf seiner Stirn glänzten. Feuchte, helle Strähnen klebten an seinem Gesicht. In den letzten Tagen war es ihm besser gegangen.

»Du hältst es hier bei mir aber lange aus«, sagte Simon.

Sachte strich sie seine nassen Haare zurück. »Ich habe dir ein Versprechen gegeben, weißt du noch?«

Simon lächelte schwach. »Natürlich, aber Gunnar ist der Meinung, du würdest uns unseren Feinden ausliefern und nur auf den richtigen Augenblick warten.«

»Gunnars Argwohn ist kaum zum Aushalten. Hätte ich euren Untergang gewollt, wäre ich nicht mit euch gegangen, sondern hätte Lorentz sein Vorhaben beenden lassen.«

Simon drehte seinen Kopf zur Seite und blickte zu der Fensteröffnung. »Glaubst du, dein Lorentz wird kommen, um dich zu holen und mich büßen zu lassen?«

Daran hatte sie oft gedacht. Manchmal malte sie sich aus, wie Lorentz mit Soldaten aufmarschierte, um sie erneut zu befreien. Wenn sie sich besonders einsam fühlte, tröstete diese Vorstellung sie sogar. »Er hält sein Versprechen.« Vielleicht machte sie sich dabei etwas vor, aber in den letzten Wochen war alles friedlich geblieben. Niemand war mit kriegerischen Absichten in dieses Tal gekommen. Das war ein gutes Zeichen.

»Außerdem ist er nicht mehr mein Lorentz«, fügte sie hinzu.

»Du musst nicht hierbleiben und mir beim Sterben zusehen«, sagte Simon.

»Beim Sterben? Wie kommst du darauf?«, fragte sie mit einem Anflug von Besorgnis.

»Du hast angefangen für mich zu beten, das bedeutet, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt.« Seine Lippen verzogen sich spöttisch.

»Ruh dich aus und komm zu Kräften. Du kannst nicht sterben. Gunnar und die anderen brauchen dich.« Sie wollte sich erheben, da umfasste Simons Hand die ihre.

»Ich will hier nicht länger liegen, Jonata. Ich werde wahnsinnig. In den letzten Monaten habe ich die meiste Zeit in einem Bett verbracht, und zwar nicht auf jene Weise, die mir lieb gewesen wäre.« Um seine Lippen zuckte es. »Ich hasse es, hier untätig und nutzlos herumzuliegen.«

»Wenn du dich noch etwas geduldest, wirst du dein Lager bald verlassen können.«

Er nahm ihre Worte hin und widersprach nicht mehr. Stattdessen hielt er ihre Hand fester und strich mit dem Daumen über ihren Handrücken. »Bereust du es, mit mir gekommen zu sein?«

Sie war hin- und hergerissen. Immer wieder fragte sie sich, ob sie richtig entschieden hatte. »Ich hatte keine Wahl, das weißt du. Ich will Frieden und ich will dieses Kind zur Welt bringen und vergessen …« Jonata entzog sich seiner Berührung. Sie wusste nicht, was er über Ulrichs Kind dachte. War er froh, einen Verwandten zu bekommen? Hasste er die Brut seines Bruders genauso wie sie? Nein, bestimmt nicht. Ihr Blut verband die beiden.

Wenn es Simon besser ging und sie den Mut fand, würde sie ihn fragen.

»An meinen Gefühlen zu dir hat sich nichts geändert«, hörte sie Simon sagen.

Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte. Ihre ganze Gefühlswelt war ins Schwanken geraten. Schon lange war sie sich nicht mehr im Klaren darüber, was sie für wen empfinden sollte. Eines wusste sie. Simons Gegenwart beruhigte sie. Er hatte ihr Rückhalt gegeben, wenn sie verzweifelt war. Er war für sie da gewesen.

Er, ein Raubritter.

Nicht ihr Verlobter.

Simon hatte keine Antwort erwartet. Er versuchte, sich aufzurichten, und fiel mit schmerzverzerrter Miene zurück. »Wir haben noch nicht darüber gesprochen, wie es weitergeht, sollte ich doch nicht sterben.«

Nachdenklich betrachtete sie ihn.

Die letzten Tage und Wochen waren mit Arbeit erfüllt. Am Morgen gab sie dem Gesinde Anweisungen. Die Hühner und Gänse wurden von zwei Jungen gehütet. Die ältesten Knechte kümmerten sich um die Schweine, Rinder und Schafe. Schließlich mussten die Kühe gemolken werden, um daraus Butter und Käse zu machen. Das war ebenso vernachlässigt worden, wie die Hühnereier in Kalk einzulegen oder den Honig zu schleudern, mit dem der Wein und die Speisen gesüßt wurden.

Bei Morgengrauen stand Jonata auf und fiel bei Sonnenuntergang erschöpft auf ihr Lager. Dazwischen gab es keine Zeit zum Grübeln. Immer wieder hatte sie versucht, Lorentz aus ihren Erinnerungen zu verbannen. Würde sie nicht ständig davon träumen, so hätte sie sich einbilden können, alles, was sie auf Sunneck erlebte, sei nie wirklich passiert.

Schließlich sagte sie: »Du solltest gesund werden, statt dich mit Fragen zu quälen.«

»Ich habe sonst nichts zu tun. Ich kann nur nachdenken.« Mürrisch knirschte er mit den Zähnen. »Übrigens habe ich gesehen, dass die Decke in meiner Kammer genauso heruntergekommen ist, wie die auf Burg Sunneck. Und ich bin mir bewusst, wie nutzlos ich für dich und Mechtheim bin.«

Jonata strich mit einer Hand über seine Stirn und war froh, dass er nicht weiter auf eine Antwort pochte. »Sei nicht so ungeduldig.«

»Ich habe Durst …«

Sie ging zum Tisch, schenkte Wasser in einen Becher und kehrte zu Simon zurück. Er zögerte, als sie ihm beim Trinken helfen wollte.

»Was ist?«, fragte Jonata.

»Das letzte Mal, als ich verwundet in einem Bett lag, hast du mir das Wasser ins Gesicht geschüttet.«

Sie musste bei dieser Erinnerung lächeln. Wie sehr hatte sie sich gegen ihre Aufgabe, sich um Simon zu kümmern, wehren wollen. Ulrich hatte seine Methoden gehabt, sie zum Gehorsam zu zwingen. »Da habe ich dich gehasst. Diesmal ist es anders.«

Simon hatte es ernst gemeint, als er sagte, er wollte nicht mehr herumliegen wie ein nutzloses Stück Fleisch. Er musste sich bewegen. Seine Muskeln schmerzten vom Nichtstun, zumindest kam ihm das so vor. Von den anderen Schmerzen mal abgesehen, an die er sich fast gewöhnt hatte.

Jonata kümmerte sich täglich um ihn. Dadurch fühlte er sich noch schwächer. Das war noch nicht alles. Simon war sich bewusst, dass sich seine Familie in den letzten Jahren kaum Freunde gemacht hatte. Ihre Lebensweise hatte vielen Menschen Grauen und Elend gebracht. Aus Nassau mochte ihnen keine Gefahr drohen, aber wie sah es von anderen Seiten aus?

Gunnar unterließ es nicht, bei seinen Besuchen darüber zu reden. Er kam jeden Tag und erzählte von Gerüchten über rachesinnenden Menschen. Mechtheim war angreifbar geworden.

Simon musste sich endlich darum kümmern. Er hörte sich Gunnars Berichte an und konnte sonst nichts tun. Sein Bruder hatte nach Vaters Tod alle Verpflichtungen übernommen. Manche mehr, manche weniger. Ulrich war ein Kämpfer gewesen, kein guter Gutsherr. Nun war Simon für dieses Tal verantwortlich.

Er stützte sich auf seinem Lager ab und stellte die Füße langsam auf den Boden. Der Schmerz benebelte kurz seinen Kopf.

»Was hast du vor?« Gunnar stand in der Tür.

»Nach was sieht es aus?«, zischte Simon. »Ich will nach dem Rechten sehen. Sag mir, was da draußen vorgeht.«

»Ich war die letzten Tage im Tal unterwegs. Wir wollten Naturalien einsammeln, aber außer Wachs für die Kerzen und Käse habe ich von den Bauern nichts bekommen. Als ich mir die Burschen anschaute, die ein Schwert halten können, wurde mir ganz bange. Wenn das so weitergeht, verlierst du deine Rechte an diesem Land und das restliche Lehen, das dir die Eppsteiner überließen. Wir werden alle als Hörige enden.«

»Lass diese Schwarzseherei.« Simon brauchte keine unerfreulichen Vorhersagen. Solange er auf sein Lager verbannt war, erschien ihm die Welt da draußen so fern. Gunnars Beschwerden hatten ihn bis vor wenigen Tagen kalt gelassen. Eine Zeit lang war ihm alles egal gewesen. Dann wünschte er sich, sein Bruder wäre noch am Leben und würde sich um alle Probleme kümmern. Ulrich hatte seine eigene Art, mit Menschen umzugehen. Niemand wagte es, gegen ihn aufzubegehren. Schließlich war diese Teilnahmslosigkeit verschwunden und Simon hatte begonnen sich Gedanken zu machen.

Jetzt, da er sich besser fühlte und Jonatas wundersame Kräuterverbände endlich wirkten, musste er sich der Wirklichkeit stellen.

»Ein Rat von mir als dein langjähriger Freund«, sagte Gunnar. »Du kommst nicht mal bis zur Tür.«

Seine Worte prallten an Simon ab. »Scher dich zum Teufel.«

Das ließ sich Gunnar nicht zweimal sagen, denn er drehte sich um und ging.

Schließlich, nach einer Weile, als das wilde Pochen in seinen Wunden nachließ, bewegte sich Simon wieder.

Mechtheim war jetzt sein. Es war Zeit, dass er seine Pflichten erfüllte. Er war jetzt der Herr dieses Stück Landes und dafür verantwortlich.

Simons Gefolgsmänner verließen das Tal, da es keine Arbeit und auch keine Bezahlung gab. Gunnar hatte sich bei seinen Besuchen über Jonata beschwert, die hier ein völliges Durcheinander anrichtete. Simon musste endlich auf die Beine kommen, um für Ordnung zu sorgen. Er liebte Jonata, keine Frage, aber sie konnte nicht das Leben seiner Leute durcheinanderbringen.

Erschöpft saß er auf seinem Lager, ergab sich den Schmerzen und fiel zurück.

Morgen, dachte er.

Morgen würde er aufstehen.

»Es kommen Händler », rief eine der Mägde aufgeregt. »Dürfen wir hin?«

Jonata lächelte und wischte ihre schmutzigen Hände an der Schürze ab. Sie warf einen prüfenden Blick auf den Käse. Er würde jetzt in Ruhe reifen können. Mit Stolz konnte sie auf die letzten Tage zurückblicken. Sie hatten viel geschafft und die Kammern mit Vorräten aufgefüllt. Die Hühner hatten ein neues Gehege bekommen und waren niemandem mehr im Weg. So konnten sie jeden Tag ein paar Eier sammeln. Im Garten wartete noch viel Arbeit, denn die Früchte mussten abgeerntet und das Essen vorbereitet werden. Jonata wollte den Frauen etwas Freude gönnen. Sie hatten es sich verdient.

»Geht ruhig«, rief sie den Mägden zu.

Ihr Blick fiel auf den eingeweichten Dinkel, den sie heute mit Hilde zu einem Eintopf verkochen wollte.

»Danke Herrin. Ihr solltet auch hingehen.« Die Magd lächelte ihr schüchtern zu, dann wurde sie von den anderen Frauen aus der Küche gezogen und alle waren verschwunden.

Für einen Augenblick dachte Jonata darüber nach, sich die Angebote der Händler anzuschauen. Sie könnte Stoff für neue Kleider gut gebrauchen.

Seufzend nahm sie einen Kübel und verließ die Küche.

Neben dem Haus lag der eingezäunte Garten. Der Anblick erfüllte Jonata wieder mit Stolz. Längst war der verwilderte Ort von Unkraut befreit worden. Die beschädigten Holzlatten am Zaun waren ausgebessert und hielten dem nächsten Sturm stand. Nachdem Jonata mit der Köchin das letzte Essbare aus dem Wildwuchs herausgeholt hatte, war der Garten umgegraben worden. Nach kurzer Zeit wuchsen Rüben, Kohl, Schalotten und vieles mehr. Auch Liebstöckel, Fenchel und Rosmarin gab es wieder. Lauch und Zwiebeln waren bald erntefertig, ebenso Salbei und Thymian. Eine Magd bewässerte regelmäßig die frischen Pflanzen und eine andere rupfte das Unkraut.

Hildes Sohn war heute Morgen in den Wald gegangen, um Pilze zu sammeln. Damit würden sie Gemüse in einer kräftigen Soße zubereiten. Mit dem wenigen, das sie hatten, jeden Tag aufs Neue etwas Schmackhaftes zu zaubern, war eine Herausforderung. Jonata wusste nicht, wie lange ihr das gelingen würde.

Bisher hatten sich die Mechtheimer von der Beute ihrer Raubzüge wohl genährt. Wilderei in den Wäldern des Nassauer Grafen oder Überfälle auf Händler und Bauern am Rhein entlang waren ihre Einnahmequelle gewesen. Ohne diese Raubzüge blieben Kasse und Küche leer.

Erwartungsvoll beobachtete Jonata, wie sich das Tor öffnete und die fahrenden Händler hereinkamen. Es waren vier Wagen, beladen mit allerlei Waren. Ihr Eintreffen sorgte für ausgelassene Stimmung unter den Bewohnern. Das Angebot war vielfältig. Von Gewürzen, über Stoffe, bis hin zu Beuteln und Gürteln aus Leder, Töpfen und Löffel und anderem Hausrat.

Jonata schlenderte an den Wagen entlang, fand eine Auswahl an Gewürzen und einen neuen Kessel, den sie gut gebrauchen konnten. Schließlich stand sie vor einer Frau, die ihr Stoffe anbot.

»Seht, edle Dame, hier ist etwas, wie für Euch gemacht.«

Sehnsüchtig strich Jonata mit den Fingern über die Seide. Es war ein schöner Stoff, auf den eine edle Stickerei passen würde. Jedoch war er nichts für die alltägliche Arbeit und den Schmutz. In diesem Tal gab es keine Feste, zu denen sie sich angemessen kleiden musste.

»Ich habe keine Verwendung mehr für diese Art«, sagte sie sehnsüchtig.

»Er passt zu Euren Augen«, pries die Frau ihre Ware an.

»Leider kann ich es mir nicht leisten.« Allerdings fand sie einen grün gefärbten Wollstoff und etwas Leinen, aus dem sie Leibchen nähen konnte. Das, was sie trug, war bald verschlissen. Während sie mit der Frau feilschte, war sie sich nicht sicher, ob sie den Stoff bezahlen konnte. Nachdenklich, was sie zum Tausch anbieten könnte, kramte sie in dem Beutel an ihrem Gürtel. Schließlich fand sie etwas. Es war ein glatter Silberring mit einem winzigen grünen Stein. Ihr Vater hatte ihr dieses Schmuckstück geschenkt. Einer der wenigen Erinnerungen an ihn. Das hinderte sie daran, den Ring einfach wegzugeben. Sie hatte keine Habseligkeiten aus Sunneck mitnehmen können. Nur das, was sie in diesem Beutel trug, war ihr geblieben. Neben ihren persönlichen Dingen besaß sie noch eine Brosche ihrer Mutter und das Geschenk ihres Vaters. »Reicht das?« Widerwillig hielt sie der Frau den Ring hin.

»Oh.« Diese nahm das Schmuckstück und begutachtete es kritisch. »Dafür bekommt Ihr noch die Seide.«

Jonata freute sich. Mit diesem Stoff würde sie Kleider für sich nähen können. Ihr Vater würde diesen Tausch bestimmt verstehen und ihr verzeihen.

Gunnar stand mit verschränkten Armen am Eingang des Hauses. »Gebt Ihr jetzt schon Mechtheimer Geld aus?«, schimpfte er, als sie näherkam.

Jonata reckte ihr Kinn vor. »Ich muss mich vor Euch nicht rechtfertigen, aber seid beruhigt. Ich kaufte es mir mit einem Geschenk meines Vaters. Der letzte Schmuck, der mir von ihm geblieben ist. Aber ich würde sonst nackt herumlaufen müssen, weil mir das, was ich am Leib trage, bald abfällt.«

Er sagte nichts darauf, sondern ließ sie vorbeigehen.

Ihre gute Laune war kurz vergangen, kehrte aber schnell wieder zurück, als sie den Stoff näher betrachtete. Das war hervorragende Ware, die sie gut gebrauchen konnte. Die Auswahl ihrer Kleider war weiterhin bescheiden.

Hilde hatte ihr vor einigen Tagen die restlichen Kleidungsstücke aus dem verschlossenen Raum geholt. Es war nicht viel gewesen, ein Leibchen und eine alte Cotte. Den Rest hatten die Motten zerfressen. Das würde aber genügen, um sie erst einmal vor der hereinbrechenden Kälte zu schützen.

Nun wollte Jonata aus dem gekauften Stoff Unterkleider, ihrem Körperumfang angepasst, nähen. Es war nicht aus weichem Atlas, wie sie es mochte, sondern aus ungefärbtem Leinen, der auf der Haut kratzte. Dem neuen Obergewand fehlten die Silberfäden und bunten Farben. Es war schlicht und würde für die tägliche Arbeit genügen. Das feinere Kleid, das sie sich aus der Seide nähen würde, wollte sie für einen besonderen Anlass aufheben.

Zufrieden mit ihrem Kauf holte sie einen Weidenkorb und legte ihre Wäsche hinein. Bis zum Mahl war noch genügend Zeit, um zum Bach zu gehen. Mit der dreckigen Wäsche beladen, verließ sie das Haus.

»Wohin geht Ihr?«, fragte Gunnar im Hintergrund.

»Nach was sieht es aus?«, stellte sie frech die Gegenfrage.

»Bleibt nicht zu lange weg«, brummte er.

»Als wenn es Euch kümmert, was aus mir wird.« Jonata trat durch die Tür und warf einen Blick zum Himmel. Es war ein freundlicher Tag, mit ein paar Wolken, die sich nun langsam auflösten. Die Sonnenstrahlen liebkosten Jonatas Gesicht.

Beschwingt durchschritt sie das Tor und ließ ihren Groll gegen Gunnar zurück. Es war ein gutes Gefühl für sich zu sein.

Die Männer arbeiteten auf den Feldern. Mit kurzen Sicheln schnitten sie die Ährenbüschel und hinterließen lange Stoppeln. In der Nähe verlief der Bach, der zum Rhein hinfloss. Anfangs war er nur ein Rinnsal gewesen. Nach einem Tag Regen hatte er sich in einen breiten, knöchelhohen Strom verwandelt.

Es gab eine gute Stelle am Ufer, den die Frauen zum Waschen nutzen. Dorthin ging Jonata. Heute war niemand hier, sodass sie sich ihren Gedanken und der Arbeit widmen konnte.

Das Säubern der Kleider war anstrengend. Immer wieder tauchte Jonata den Stoff in das Wasser und schrubbte die Flecken aus. Auch die Schürze musste sie mehrmals unter Wasser tunken, bis sich die Sprenkel darauf auflösten. Ulrichs Decke, die sie bereits öfter gewaschen hatte, hing triefend an einem Ast.

Nach kurzer Zeit hatte Jonata vom kalten Wasser gerötete Hände.

Der Wind fuhr wie eine unsichtbare Hand über die Grashalme und wiegte sie. Nur wenige Schritte von Jonata entfernt jagten sich zwei Hasen. Drüben auf dem Wachturm begann Oskar seinen Dienst, das Tal zu überwachen. Es war alles friedlich und fast fühlte sich Jonata wohl an diesem Ort.

Ihr Blick fiel zu einigen Büschen, an denen die Blätter verdächtigt wackelten. Seitdem sie durch das große Tor gegangen war, hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden.

Die beiden Hasen waren längst im hohen Gras verschwunden. Die Vögel saßen auf den Ästen zwischen den Blättern und zwitscherten.

Plötzlich stoben sie auf und flogen davon.

Jonata richtete sich auf und hörte jemanden näherkommen. Es waren keine gleichmäßigen Schritte, viel zu kurz, um von einem Erwachsenen zu stammen.

»Wer beobachtet mich?«, fragte Jonata in Richtung des Busches, der eben geraschelt hatte und jetzt heftiger zu wackeln begann.

»Komm heraus, hab keine Angst. Ich beiße nicht.« Auch wenn Gunnar das behauptete.

Tatsächlich bewegte sich jetzt etwas hinter dem Busch und ein Junge trat schüchtern hervor. Sein Haar war viel zu lang, das Gesicht von Dreck verschmiert. Er sah aus, als hätte er vor Kurzem geweint. Sein schmächtiger Körper steckte in einem viel zu großen Hemd und einer abgetragenen Hose. Schuhe trug er keine.

Zögerlich kam er näher. »Bist du Jonata?«

Sie legte das nasse Kleid neben sich und wischte mit dem Handrücken über ihre Stirn. Durch das Knien begann ihr Rücken zu schmerzen. Ächzend richtete sie sich auf. »Das bin ich. Kann ich etwas für dich tun?«

»Mein Vater schickt mich«, stammelte er. »Es heißt, Ihr würdet Euch in der Heilkunde auskennen.«

Jonata stand auf und klopfte den Staub von ihrem Rock. »Das stimmt. Was ist passiert? Ist dein Vater verletzt?«

Der Junge blinzelte seine Tränen fort. Statt auf ihre Frage zu antworten, bat er: »Sagt Gunnar nicht, dass ich mit Euch rede.«

Sie seufzte. »Ich verspreche es. Und jetzt erzähl mir, was passiert ist.«

»Ich äh … soll Euch zu meinem Vater bringen. Es ist wichtig«, fügte er den letzten Satz hastig hinzu. »Und bringt etwas mit, um Wunden zu versorgen.«

Da sie dem Jungen ansah, dass er nicht mehr erklären wollte, nickte sie ihm zu. »Warte hier, ich komme gleich zurück.« Sie packte geschwind alles zusammen, wollte keine Zeit verlieren und trug den Korb zum Haus. Sie würde sich später um die nassen Kleider kümmern. In aller Eile und der Hoffnung, von niemanden gesehen zu werden, packte sie einen Beutel mit Pasten, Kräutern und Verbänden.

Dann lief sie zum Stall. Der Bursche war nicht zu sehen, lungerte wahrscheinlich irgendwo herum, daher sattelte sie eines der Pferde selbst. Sie wollte kein Aufsehen erregen. Niemand sollte Fragen stellen oder sie aufhalten. Was auch immer dem Jungen widerfahren war, sie musste ihm helfen.

Ohne Argwohn öffneten die Wachen das Tor und ließen sie mit ihrem Pferd durch. Als Jonata zurück zum Bach ritt, fragte sie sich, was sie erwartete. Hätte sie wenigstens Oskar sagen sollen, wohin sie ritt?

Schon von Weitem entdeckte sie den Jungen.

Sie beugte sich vor und reichte ihm eine Hand, um ihn auf das Pferd zu ziehen.

Er schüttelte erschrocken den Kopf. »Nein, Herrin … das darf ich nicht.«

»Sei nicht dumm. Wir sollten nicht trödeln. Wenn du von Wunden sprichst, klingt das sehr ernst.«

Erst zögerte er, dann nahm er ihre Hand und ließ sich in den Sattel hinter Jonata ziehen.

»Halt dich gut fest. Wie ist dein Name?«

»Samuel.«

»Wohin müssen wir, Samuel?«

Der Junge zeigte zu einem Hang direkt vor ihnen. »Es ist nicht weit. Es ist eine kleine Siedlung am Rand des Mechtheimer Landes.«

Jonata trieb ihr Pferd an. Sie ritten einen Weg entlang, durch das Tal, dann den Hang hinauf. Samuel schwieg und wirkte, als wollte er lieber keine Fragen beantworten. Jonata beherrschte sich. Unbeirrt lenkte sie das Pferd durch ein kurzes Waldstück.

»Da vorne ist es.« Samuel riss sein Arm hoch und zeigte an ihr vorbei.

Sie verließen den Wald. Mehrere Lehmhäuser, Vorratshütten und Ställe reihten sich um einen Brunnen. Eingezäunte Gärten grenzten an die wenigen Hütten. Die meisten Wohnhäuser waren zerfallen. Als Jonata näherkam, entdeckte sie, dass in diesen Ruinen Menschen lebten. Zwischen klaffenden Lücken der Häuserreihe lagen verkohlte Balken. Sie waren der einzige Hinweis darauf, dass dort einmal Häuser gestanden hatten.

»Was ist passiert?«

»Überfälle«, erwiderte der Junge, als sei es völlig normal. Er löste sich von Jonata und rutschte vom Pferd, ehe sie es zum Stehen brachte. Er zeigte auf eine Hütte mit einem schiefen Strohdach. »Da wohnen wir.«

Jonata griff nach dem Beutel, den sie an den Sattel gebunden hatte. Hoffentlich habe ich genügend eingepackt, schoss es ihr durch den Kopf.

Samuel wirkte nicht mehr so angespannt, wie bei ihrem Aufbruch und rannte auf die Hütte zu, durch die offenstehende Tür. »Vater, Mutter, ich bin zurück. Die Herrin ist bei mir.« Er klang, als sei er überzeugt, dass jetzt alles gut werden würde.

Jonata empfand ganz anders. Sie konnte seine Hoffnung nicht teilen. Mit gemischten Gefühlen betrat sie das Haus, in dem der Rauch der Feuerstelle über ihrem Kopf waberte. Es roch nach Kräutern und Blut. Es war ein vertrauter Geruch.

Ihre Augen mussten sich erst an das düstere Licht gewöhnen. Sie erkannte eine Bewegung neben sich und erschrak. Ein Mann trat auf sie zu. Er hatte sich im Dunkeln einer Ecke aufgehalten und betrachtete sie jetzt misstrauisch aus der Nähe.

»Ihr braucht meine Hilfe?«, fragte sie unumwunden.

Nun trat ein Ausdruck von Erleichterung auf sein Gesicht. Der Mann verbeugte sich leicht vor ihr. »Ich danke Euch, Herrin.«

Sie wusste immer noch nicht, warum sie hier war. Von welchen Überfällen hatte Samuel gesprochen? Und welche Wunden sollte sie versorgen?

»Ihr habt gutgetan, mich zu rufen. Was soll ich tun?«

Der Mann trat zur Seite und zeigte auf ein Lager. Ein Junge, der Samuel ähnelte, lag bewusstlos darauf. Sein Atem ging schnell. Blut sickerte durch seine Kleidung auf der Brust.

»Was ist mit ihm?« Jonata kniete sich zu dem Jungen und untersuchte ihn. Er hatte auf der Schulter Verletzungen und einen Schnitt über der Brust. Beides stammte von einer Schwertklinge. Sie kannte solche Art von Wunden.

»Wir leben an der Grenze«, hörte sie Samuels Vater sagen. »Seit Ulrichs Tod werden wir überfallen. Man stiehlt uns, was wir haben. Sie nehmen uns das Vieh und holen sich unser Getreide. Wir haben bald nichts mehr, um zu überleben.«

Erst jetzt entdeckte Jonata eine weitere Gestalt hinter dem Mann.

»Sie schikanieren uns, ehe sie wieder davonziehen«, schluchzte plötzlich eine Frau. Sie nahm Samuel in den Arm und strich ihm liebevoll über die Haare. »Mein ältester Sohn wollte unsere letzte Ziege verteidigen, als diese Kerle heute Morgen zu uns kamen. Sie haben ihn … einfach niedergeschlagen.«

Entsetzt hörte Jonata zu und machte sich daran, die Wunde zu säubern und die Heilpaste zu verteilen. Ein bitterer Geschmack lag auf ihrer Zunge. »Sorgt euch nicht. Es ist keine schlimme Verletzung. Euer Sohn ist bald wieder gesund.« Nach getaner Arbeit erhob sich Jonata und blickte in die Runde. Ihre Ankunft hatte sich herumgesprochen. Inzwischen waren auch die Nachbarn in die Hütte getreten und hatten die neue Herrin beobachtet.

»Habt ihr mit Simon oder Gunnar gesprochen?«, fragte Jonata.

»Niemand hilft uns«, antwortete ein alter Mann im Hintergrund. »Es heißt, Ritter Simon lebt nicht mehr lange.«

»Das stimmt nicht«, widersprach sie heftig. »Ihm geht es von Tag zu Tag besser.«

Sie fragte sich, ob Gunnar von den Überfällen wusste und mit Simon gesprochen hatte.

Warum hatte keiner der beiden etwas unternommen? Simon hätte längst einen Befehl geben können.

Die Anwesenden in der Hütte blickten sich an. »Ulrich hat uns verteidigt, aber er ist ja nicht mehr da. Gunnar weiß von den Überfällen, aber er hat gesagt, dass er uns nicht helfen kann.«

»Wenn unser Herr Ulrich hier wäre, würde uns niemand angreifen!«, rief eine Frau ärgerlich. »Es hätte keiner gewagt, die Mechtheimer herauszufordern.«

Die Stimmen um sie herum wurden immer aufgebrachter.

»Simon ist nicht wie sein Bruder. Er ist schwach!«, sagte einer der jüngeren Männer voller Verbitterung.

Jonata biss sich auf die Lippen, ehe sie sprach: »Euer Herr ist nicht schwach, nur weil er nicht so kaltblütig ist wie Ulrich.«

Für ihre Äußerung wurde sie teils entrüstet, teils überrascht angestarrt. Sie hatte längst begriffen, dass dieser Raubritter für seine Gräueltaten genauso gefürchtet wie geachtet wurde. Allein sein Ruf hatte diese Menschen beschützt. Jonata war überzeugt, dass sie ihn nie persönlich kennengelernt hatten, sonst würden sie anders über ihn reden.

»Ulrich ist tot.« Jonata unterdrückte den Wunsch, sich bei ihren Worten dankbar zu bekreuzigen. »Wer sind diese Kerle, die euch überfallen?«

»Taugenichtse, die auch am Rhein zugange sind. Sie ziehen öfters hier durch und wissen, dass wir schutzlos sind.«

»Ihr müsst zu Simon gehen und ihm sagen, in welcher Not ihr seid«, beharrte Jonata.

Eine Frau trat zu ihr und senkte den Kopf. »Könntet Ihr es ihm nicht sagen, Herrin? Sagt Ritter Simon, dass wir seine Hilfe brauchen.«

Jonata blickte in die hoffnungslosen Gesichter der Umstehenden. »Natürlich werde ich das. Ich bin überzeugt, dass er euch beisteht.«

Wieder warfen sich die Menschen im Inneren der Hütte stumme Blicke zu.

»Diese Kerle wollen bald wiederkommen«, sagte Samuel zu ihr. »Helft Ihr uns?«

Unbehagen überkam Jonata. Sie nickte dem Jungen zu und verließ das Haus. Draußen stellte sich ihr eine ältere Frau in den Weg. Plötzlich legte sie eine Hand auf Jonatas Bauch und lächelte. »Er wird stark sein. Er ist Ulrichs Kind. Ihr müsst auf ihn aufpassen, er wird von vielen gehasst, aber auch von vielen gefürchtet werden. Er ist die Rettung für Mechtheim.«

Jonata zuckte zurück. Die Frau sprach von einem Jungen. Bei diesem Gedanken fröstelte es Jonata. Ein Junge mit Ulrichs Augen und dessen Erbarmungslosigkeit. Die Alte hatte keine Ahnung, dass der erste Mensch, der dieses Kind fürchtete, die eigene Mutter war.

Ungehalten schob Jonata die Hand der Frau von sich. Ohne etwas zu erwidern, stieg sie auf ihr Pferd und kehrte nach Mechtheim zurück. Sie war erschöpft, trotzdem beeilte sie sich, um mit Simon zu sprechen. Er musste wissen, was auf seinem Land geschah.

Kurz nach ihrer Ankunft entdeckte sie Oskar und seinen finster dreinblickenden Kamerad Gunnar, der gerade das Haus betrat. Dieser Mann war ihr jetzt noch mehr ein Dorn im Auge. Er versuchte, jede ihrer Bemühungen zu helfen oder Freunde zu finden, zu unterbinden. Das hätte fast das Leben eines Jungen gekostet.

Auch das wollte sie ein für alle Mal klären. Ungehalten folgte sie Gunnar durch das Haus, schnurstracks in Simons Kammer.

Die Veränderung der beiden Männer fand Jonata amüsant. Während sich Simons Blick aufhellte, zogen sich Gunnars Augenbrauen zusammen.

»Hattest du einen angenehmen Tag?«, wollte Simon wissen. Er saß auf einem Schemel am Tisch und zerpflückte ein Stück Brot, statt es zu essen.

Jonata blieb an dem Tisch stehen. »Angenehm würde ich ihn nicht nennen. Ich habe die Schwertwunde eines Jungen versorgt. Weißt du, dass die Grenze deines Landes überschritten, und ein Dorf überfallen wurde? Und das nicht nur einmal. Aber es ist den Menschen ja verboten, mich zu fragen, ob ich helfe.«

Simon öffnete den Mund, während Gunnar seine Lippen aufeinander presste, als müsste er mit sich ringen, nicht laut zu schreien.

»Wo warst du?«, fragte Simon argwöhnisch.

»An der östlichen Grenze, am Rande des Tals. Ein Junge kam zu mir und bat mich um Hilfe. Er war verzweifelt und hat mich angesprochen, obwohl das scheinbar verboten ist.« Herausfordernd warf sie dem Schuldigen einen Blick zu.

Nun öffnete Gunnar den Mund. »Ich versuche, die Leute vor Euch zu schützen.«

»Ihr seid nicht ganz richtig im Kopf«, regte sich Jonata auf. »Wenn die Menschen Hilfe brauchen, werde ich ihnen helfen und Ihr könnt es nicht verhindern.«

Gunnar machte einen drohenden Schritt auf sie zu. In seinen Augen funkelte es gefährlich. »Ihr seid nur für kurze Zeit hier, Jonata. Sobald Ihr eine Gelegenheit findet, werdet Ihr Mechtheim verlassen und uns allen in den Rücken fallen, davon bin ich überzeugt. Warum sollten die Menschen Euch vertrauen? Ihr werdet sie enttäuschen und verraten!«

Entrüstet stemmte Jonata ihre Hände in die Hüften. »Jetzt hört Ihr mir mal gut zu, Gunnar. Ihr werdet mir nicht verbieten, jemandem zu helfen.«

Fassungslos über ihre Schroffheit starrte Gunnar sie an. »Kein Weib hält solche Reden und verhöhnt einen Mann. Gott wird Euch für Eure Frechheit bestrafen. Eine Frau sollte demütig schweigen und tun, was man ihr aufträgt. Hat Euch das keiner versucht beizubringen?«

»Sicher, meine Kinderfrau, mein Vater und auch Ulrich. Wollt Ihr es jetzt versuchen? Nur zu. Ihr bekommt mich nicht zum Schweigen, selbst Ulrich ist das nicht gelungen.«

»Schluss jetzt!«, unterbrach Simon die beiden Streithähne und schob die Brotkrümel zu einem Haufen zusammen. »Ich finde euren Wortwechsel durchaus amüsant, aber er ist völlig unnütz. Ich will erfahren, was vorgeht. Gunnar. Jonata. Was hat es mit den Überfällen auf das Dorf auf sich?«

Gunnar warf ihr einen so bösen Blick zu, dass Jonata glaubte, er versuche, Pfeile auf sie abzuschießen. Er sagte nichts mehr, schnaubte stattdessen und stapfte zornig auf die Tür zu. »Ich kümmere mich darum.«

»Warum erzählst du mir nichts davon?«, rief Simon ihm nach.

»Ich habe es dir erzählt, aber du hast mir nicht zugehört. Jetzt reg dich nicht auf. Die Heilerin sagte, du musst dich schonen.«

»Ich muss endlich etwas tun«, brauste der Ritter auf.

Gunnar wirbelte herum und zeigte spöttisch auf Simons verbundene Brust. »Willst du aufstehen, dir das Schwert umgürten und in den Kampf ziehen? Sieh dich an. Du bist …« Er sprach nicht weiter, winkte erneut ab und riss die Tür auf. »Die Frau hätte nichts sagen sollen, aber so ist das nun mal mit den Weibern. Immer plappern sie alles aus.«

Jonata öffnete empört den Mund, um sich zu verteidigen, da sagte Gunnar: »Lass dich nur von dieser Frau blenden, Simon, aber halte mir nicht später vor, ich hätte dich nicht gewarnt.« Nach diesen Worten verließ er, türenknallend die Kammer.

Jonata blieb mit Simon allein zurück.

Dieser runzelte die Stirn. »So aufgeregt habe ich ihn schon lange nicht mehr gesehen.«

»Ich schon«, murmelte Jonata. »Jetzt lass uns reden. Am Ende des Tals gibt es ein Dorf, mit halb zerfallenen Hütten und die Menschen sind so arm … es war ein schrecklicher Anblick. Sie werden immer wieder überfallen.«

Simons Körper versteifte sich. »Ich war schon lange nicht mehr dort.«

»Warum? Erschienen dir die Bewohner unwichtig?«

»Ich … Ulrich war …«

»Oh ja, ich verstehe«, unterbrach sie Simon aufgeregt. »Ulrich war zu sehr damit beschäftigt, Händler und Burgen zu überfallen.«

»Das ist mein Problem und nicht deines«, grollte er.

»Diese Menschen brauchen deine Hilfe und ich habe ihnen versprochen, dass du etwas für sie tust. Sie stehen unter deinem Schutz.«

Wütend stierte er sie an und fegte mit einer Hand die Brotkrümel vom Tisch. »Ich danke dir für deinen Ratschlag, aber ich glaube nicht, dass ich schon so tief gesunken bin, von einer Frau gesagt zu bekommen, was ich tun soll.«

Sie war nicht beleidigt, kannte die Art, wie mit ihr umgegangen wurde, sobald sie sich in Dinge einmischte, die sie nichts angingen. Das war schon früher so gewesen. Obwohl ihr Vater seine Töchter sehr geliebt hatte, zeigte er ihnen stets ihre Grenzen. Vor allem Jonata hatte er oft zurechtweisen müssen. Dass Simon sich ähnlich verhielt, überraschte sie nicht.

»Sie brauchen dich, mehr wollte ich dir nicht sagen«, fügte sie hinzu. »Dich, nicht Ulrich.«

Er antwortete ihr nicht.

Das beängstigende Gefühl überkam sie, er wünsche sich, sein Bruder wäre noch am Leben und würde die Dinge auf seine Art klären. Eine Unheil bringende Vorstellung, die ihr unwillkürlich einen eisigen Schauer über den Rücken jagte.

Die Tage des Nichtstuns hatten ihn entnervt. Das war seine einzige Entschuldigung für seine Gereiztheit. Es tat ihm leid, dass er Jonata so schroff angefahren hatte. Obwohl sie gleichgültig blieb, sah er ihr an, dass sie am liebsten seine Kammer verlassen hätte.

»Ich will, dass du mir hilfst«, brüllte Simon, während Jonata ihre Arme vor ihrer Brust verschränkte.

»Deshalb musst du mich nicht anschreien.«

»Ich dachte, du willst, dass ich mich um alles kümmere. Außerdem will ich wissen, was du für ein Durcheinander geschaffen hast, von dem Gunnar ständig spricht.«

Ihr Gesicht lief vor Ärger rot an. »Was erzählt er über mich? Dass ich für Unruhe sorge? Dass alles heruntergewirtschaftet ist? Das wirst du ja schon selbst erkannt haben«, fuhr Jonata unbeirrt fort. »Du und Ulrich ihr habt euch nie um die Landwirtschaft und um eure Bauern gekümmert, oder?«

Jonatas Worte klangen spöttisch und abfällig und stachelten seinen Unmut noch mehr an.

Er hatte es satt, in diese Kammer verbannt zu sein. Seine Schwäche und die Schmerzen waren ihm lästig. Er hielt es nicht mehr länger aus. »Schwatz nicht, Frau, hilf mir, aufzustehen!« Er streckte ihr seine Hand hin, denn er befürchtete, ohne ihre Stütze, würde er zusammenbrechen, wie ein alter Klepper. »Ich liege mich noch wund. Jetzt ist Schluss.«

Er griff nach ihrer Hand und zog sich von seinem Lager auf die Beine. Er wollte mehr schaffen als nur eine Runde um den Tisch. Es war ein gutes Gefühl, auch wenn es ihm so vorkam, als würden seine Beine unter ihm nachgeben. Zorn überkam ihn angesichts seiner Schwäche. Ein alter Mann war rüstiger als er.

Die Schmerzen so gut es ging ignorierend, sah er auf Jonata nieder. Ihr Haar duftete nach Rosen. Ihre Nähe erweckten seine Sinne zu neuem Leben. »Die ganze Zeit musste ich zu dir aufblicken, das gefiel mir nicht.« Simon packte sie an den Schultern, zog sie zu sich und küsste sie. Danach hatte er sich gesehnt. Es war der einzige Gedanke, der ihm Hoffnung gab, irgendwann aufzustehen und weiterzumachen; sie in den Armen zu halten und ihr nahe zu sein. »Das wollte ich schon die ganze Zeit tun.«

Seitdem sie in Mechtheim angekommen waren, hatte sich etwas zwischen ihnen verändert, das spürte er deutlich. Es war wie eine Mauer zwischen ihnen, die er jetzt einzureißen versuchte. Er spürte ihre Zurückhaltung und wollte Jonata nicht länger in Verlegenheit bringen. Er ließ sie los und drehte sich lachend um. »Heute ist der richtige Tag, um aufzustehen.«

Seine Schritte waren unsicher und schleppend, aber er wollte keine Schwäche zeigen. Daher ging er ohne Jonatas Hilfe durch das Zimmer und hielt sich an der Tür fest. Schweiß rann ihm den Rücken hinunter.

»Du weißt, was du da tust?«, fragte sie skeptisch.

»Das weiß ich schon lange nicht mehr.« Er verließ die Kammer, ging an dem Versammlungssaal vorbei und erhaschte einen kurzen Blick hinein. Es sah aufgeräumt aus, wie früher, dachte er und erreichte die Treppe. Eine Stufe nach der anderen ging er hinunter.

Die Tür nach draußen stand offen. Eine Magd eilte aus der Küche, entdeckte Simon und blieb überrascht stehen.

Simon ignorierte sie, konzentrierte sich auf die Stufen, damit er sie nicht auf einmal nahm und hinunterstürzte.

Jonata folgte ihm wortlos.

Die Sonne traf sein Gesicht. Eine wohltuende Wärme durchströmte seinen ganzen Körper, als sei es eine Kraft, die seine Muskeln zucken und sein Blut schneller durch die Adern fließen ließ.

Gunnar und Oskar standen auf dem Hof und musterten ihn.

»Ich habe nicht daran geglaubt, dass du in ganzen Stücken unten ankommst«, erklärte Gunnar amüsiert.

»Seid gegrüßt, Herr. Ihr seht gut aus.« Oskar lächelte erfreut.

»Was genau meinst du mit ganzen Stücken? Sehe ich aus, als sei ich ein Greis?«, erwiderte Simon spöttisch.

»Nein, aber wie jemand, der gerade dem Teufel entkommen ist.«

Simon grinste schief und blieb vor Gunnar stehen. Er spürte den Schweiß an seinem Gesicht hinunterlaufen. Der nächste Lufthauch kühlte es. Die Anstrengung hatte seinen Atem beschleunigt. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr. Jonata war ihm gefolgt.

Sie beobachten mich, als hätten sie gewettet, wie lange ich mich auf den Beinen halten kann, dachte er grollend.

Simon hob eine Hand und wedelte hinter sich, als suchte er etwas.

Jonata verstand seinen stummen Wink, denn sie trat an seine Seite. Wortlos stützte er sich auf ihre Schultern ab.

Er sah sich um, während sie langsam über den Hof gingen. Irgendetwas hatte sich an diesem Anblick verändert. Der Misthaufen war verschwunden. Nichts lag mehr herum, was nicht dorthin gehörte. Der Gestank nach Unrat und Schimmel lag auch nicht wie sonst in der Luft. Der Zaun, wo die Pferde weideten, war in Ordnung gebracht worden. Selbst die Hühner liefen nicht mehr herum, sondern waren in ihrem Gehege eingesperrt.

»Es sieht anders aus, als sonst.«

Sein Waffenkamerad zeigte anklagend auf Jonata. »Sie hat das zu verantworten.«

Simon lachte, obwohl er wusste, dass er es bereuen würde. Schmerzen durchzuckten seinen Körper. »Das ist das Durcheinander, über das du dich jeden Tag bei mir beschwert hast?«

Jonata schnaubte höhnisch und schwieg.

»Sie scheucht jeden herum und erteilt uns und dem Gesinde Befehle«, klagte Gunnar sie an.

»Jonata, was hast du ihnen angetan?«, witzelte Simon.

»Ihr habt in einem Dreckhaufen gelebt«, zischte sie. »Ich habe Mechtheim von Ungeziefer befreit.«

Gunnar stierte sie zornig an. »Ungeziefer? Sie zwingt uns, am Tisch vor dem Mahl die Hände zu waschen.«

»Ihr wart Dreckferkel, bevor ich euch Manieren beigebracht habe«, verteidigte sich Jonata.

»Sie hat die Hunde aus dem Saal geworfen und die Mägde räumen ständig hinter uns her, bevor wir uns schlafen legen.« Die Anklagen fanden keinen fruchtbaren Boden, denn Jonata erwiderte nichts mehr und auch Simon fand keine Einwände. Alles, was er hörte, gefiel ihm.

»Ein Wunder, dass wir nicht jeden Tag frische Kleidung bekommen«, endete Gunnar mit seiner Aufzählung.

Simon drückte eine Hand gegen seine Brust und lachte weiter. Er ahnte, dass Jonata nicht tatenlos herumsitzen würde. Dafür kannte er sie gut genug. Sie hatte die Zeit seiner Krankheit genutzt, um diesen Ort wieder wohnlich zu machen.

Seine Mutter war ähnlich gewesen. Voller Tatendrang und Eifer. Dieser Hof war seit ihrem Tod völlig heruntergekommen. Ulrich hatte vieles vernachlässigt und sich nur um seine Überfälle und Streitereien mit Nassau gekümmert. Was aus den Bauern, dem Hof und Mechtheim wurde, war ihm egal.

Simon erinnerte sich noch gut an den ein oder anderen Vorfall. Ulrich hatte nach einem Streit um die Weinrationen Hilde aus der Küche verbannt. Das hatten sie alle zu spüren bekommen. Erst als Hilde in die Küche zurück durfte, gab es wieder etwas Anständiges zu essen. Simon war es irgendwann leid gewesen, seinen Bruder darauf aufmerksam zu machen, dass das Gesinde Anweisungen brauchte. Ulrich hatte die Befehle gegeben und er war nicht dafür bekannt gewesen, sich von jemandem etwas vorschreiben zu lassen. Am allerwenigsten von seinem jüngeren Bruder.

»Ihr müsst den Wein kosten, Herr«, mischte sich Oskar mit glänzenden Augen ein. »Der mundet, wie zu Lebzeiten Eurer Mutter.« Verlegen verstummte er, als Gunnar ihn anstarrte, als hätte er ihn gerade an den Feind verraten.

An seine Mutter erinnert zu werden, berührte ihn auf seltsame Weise. Schon lange hatte niemand mehr von ihr gesprochen. Nur zu gut wusste er, dass Jonata selbst den schlimmsten Sauerampfer schmackhaft würzen konnte.

»Ich habe ihn auf Sunneck gekostet«, erwiderte er anerkennend. »Und ich hoffe, ich kann bald wieder etwas trinken außer bittere Kräutersäfte.«

»Mir wird schlecht«, murrte Gunnar angesichts der Bewunderung. »Ich weiß immer noch nicht, womit sie das Gesöff süßt und würzt.«

»Ich vergifte ihn nicht, so wie Ihr es behauptet, Gunnar«, verteidigte sich Jonata. »Es wächst alles im Garten.«

Gunnar fuchtelte mit den Händen herum. »Ich will es gar nicht wissen. Ich warte nur darauf, dass mein Herz eines Tages stehen bleibt.«

Durch Jonatas Körper fuhr ein Ruck. »Es wird nicht von meinem Getränk stehen bleiben, Gunnar, sondern davon, dass Ihr Euch ständig so aufregt und herumbrüllt.«

»Meine Hände wasche ich, meine Schuhe stelle ich ordentlich hin, Frau, aber brüllen tue ich, so viel wie ich will. Ich frage Euch nicht um Erlaubnis.«

Jonata presste die Lippen aufeinander.

»Eure Zänkerei amüsiert mich nur begrenzt. Gunnar, sag mir, wie es aussieht. Wie viel Mann haben wir? Was ist mit den Vorräten?«

»Ich habe nicht viele Gefolgsleute finden können. Einige sind sogar in den letzten Wochen wieder auf und davon. Die meisten unserer Pferde mussten wir im Sommer in Sunneck zurücklassen und mit den Waffen haben wir auch so unser Problem. Der Schmied hat kein Eisen mehr. Dein Waffenknecht flucht jeden Tag. Über die Vorräte müssen wir in aller Ruhe reden.«

Simons gute Laune verschwand. Er wusste, dass Gunnar gerne übertrieb und alles schwarzsah, doch irgendwie hatte er das Gefühl, dass sein Kamerad diesmal die Wahrheit sagte. »Ist es so schlimm?« Simon seufzte und ließ die Hand von seiner Brust sinken.

»Wir könnten uns holen, was wir brauchen«, sagte Gunnar. »So wie früher, als …«

Simon hob eine Hand und brachte den Mann zum Schweigen, ehe er Jonatas entsetztes Gesicht bemerkte. »Nein. Die letzte Ernte war im ganzen Land schlecht, nicht nur bei uns. Wir holen uns nichts. Das ist vorbei.«

Seine Verbitterung war deutlicher zu hören, als er beabsichtigte. Er hatte den Vorwurf nicht gerne von Jonata gehört, aber insgeheim musste er ihr recht geben. Ulrich hatte vieles vernachlässigt und sich weder um seine Verpflichtungen noch um seine Schutzbefohlenen gekümmert. Krankheit, Hunger, schlechte Ernte, das alles war ihm gleichgültig gewesen. Ulrich füllte seine Taschen und holte sich, was er wollte. Ihnen war es nie schlecht gegangen. Keinen einzigen Gedanken hatte Simon je an die Menschen verschwendet, die darunter gelitten haben. Diesen Fehler würde er nicht noch einmal begehen.

»Es sind reiche Kaufleute mit ihren Waren auf dem Weg nach Koblenz«, sagte Gunnar. »Ich habe das von den Händlern erfahren, die hier waren. Da könnten wir gute Beute machen. Die haben ihr Lager in einem der Nassauer Dörfer aufgeschlagen.«

Simon verkrampfte sich plötzlich. »Das ist endgültig vorbei.«

Oskar neigte den Kopf und schien erleichtert über diese Entscheidung.

Sein Nachbar machte weiterhin ein düsteres Gesicht. »Gut, dann muss ich wohl deutlicher werden, Simon. Wir haben nichts, womit der Schmied Waffen machen kann, wir haben nichts, was wir essen können. Jonata hat alles versucht, aus dem Garten etwas Essbares zu holen. Bis etwas nachwächst, dauert es. Das Vieh hat kaum noch Futter. Wir können uns ja überraschen lassen, wie wir am ehesten sterben. Entweder werden wir angegriffen oder wir verhungern.«

»Es reicht Gunnar!«, fuhr Simon ungehalten dazwischen und verzog schmerzhaft das Gesicht. »Ich habe keine Lust mich zu rechtfertigen, warum wir den Weg meines Vaters und meines Bruders nicht weiter gehen. Wir werden es auch anders schaffen.«

Simon warf einen Blick über den Hof. Die Sonne trocknete viel zu schnell die Erde aus. Mägde schleppten die Wasserkübel zum Garten, um die zarten Pflanzen zu gießen. Die Dorfbewohner kämpften genauso ums Überleben, wie sie alle. Mit viel Glück würden sie dieses Mal mehr Getreide einholen als im letzten Jahr.

Gunnar rieb mit einer Hand über sein bärtiges Kinn. »Ulrich hätte gewusst, wie wir …«

»Ulrich ist tot«, brauste Simon zornig auf und spürte Jonata zusammenzucken.

»Und was sollen wir tun, wenn wir angegriffen werden?«, fragte Oskar. »Da reiben sich einige die Hände. Jeder weiß, wie verwundbar Mechtheim geworden ist.«

»Ich weiß, dass sich der Tod meines Bruders herumgesprochen hat. Ich weiß auch, dass wir vorbereitet sein müssen.«

»Genau das ist unser Problem«, entgegnete Gunnar. »Wir haben nichts, um uns vorzubereiten. Wenn wir einen Raubzug planen, können wir unsere Stärke beweisen und uns holen, was wir brauchen.« Gunnars Stimme wurde lauter. Er hob eine Faust, um seine Worte zu unterstreichen. »Wenn wir zeigen, dass wir noch genauso erbarmungslos sind, auch ohne Ulrich, werden sie uns weiter fürchten und dann …«

»Nein«, unterbrach Simon ihn entschieden. »Ich habe viel nachgedacht, das kann ich am besten, denn ich liege ja nur herum. Ich kann euch sagen, da gehen einem die irrsinnigsten Dinge durch den Kopf.«

»Ja, denk weiter nach, Simon. Ich sehe in der Zwischenzeit zu, wie alles den Bach runtergeht.« Ungehalten stapfte Gunnar davon, während Oskar zurückblieb.

»Seht es ihm nach, Herr. Im Augenblick lastet alles auf seinen Schultern.« Oskar warf Jonata ein aufmunterndes Lächeln zu und kehrte zu seiner Arbeit am Stall zurück.

Simon sah auf den Schopf der Frau, die langsam zu keuchen begann, da er ihr zu schwer wurde. Ihm war nicht aufgefallen, dass er sich immer mehr auf Jonata abstützte, weil ihn seine Kraft verließ. Auf ihrer Stirn glitzerten Schweißperlen.

»Ich habe Gunnar zu viel zugemutet«, murmelte Simon jetzt. »Gehen wir zurück?«

»Das wäre mir recht«, stieß sie angestrengt hervor.

»Du kannst jetzt nicht schwächeln, Jonata. Ich kann allein nicht zum Haus gehen.«

»Du könntest schon, willst es nur nicht.«

Simon grinste und ließ sich von ihr in den großen Saal führen. »So bin ich dir ganz nah. Das gefällt mir.«

Er sah sich in dem großen Raum um und staunte, als er sich auf eine der Bänke niederließ. »Du hast viel geleistet.« Er suchte nach den Hunden, die Jonata verbannt hatte, zumindest zu den Zeiten, in denen die Tafel aufgestellt wurde. »Hier sah es nicht mehr so ordentlich aus, seitdem … seit …« Simon verstummte.

Jonata setzte sich neben ihn. »Über deine Mutter wird liebevoll gesprochen. Sie muss eine beeindruckende Frau gewesen sein. Hilde, die Köchin, erzählt manchmal von ihr. Du dagegen sprichst nie über sie.«

Er nahm Jonata an der Hand und ging mit ihr hinauf in das obere Stockwerk. Die kurze Rast hatte ihm gutgetan. Vor einer der verschlossenen Türen blieb er stehen. Kurz starrte er darauf, als müsste er sich überwinden, dann drehte er den Schlüssel, der im Schloss steckte, herum und stieß die Tür auf.

Es roch muffig. Alles war staubig. Der Raum schien ein Lager für alte, unnütze Dinge geworden zu sein. In einer Ecke stand eine Kinderwiege. Alte Schemel, muffelige Decken stapelten sich vor einem breiten Bett. Der Baldachin war zerrissen, Spinnweben hingen daran. Ein Kerzenleuchter aus Hirschgeweih lag auf dem Boden, direkt bei einer alten Truhe, deren Beschläge verrostet waren.

Simon trat ein und sah sich um, als sei er das erste Mal hier.

»Dies war das Gemach meiner Eltern«, murmelte er.

Hier hatte seine Mutter die meiste Zeit ihres Lebens verbracht, wenn sie sich nicht mit dem Haushalt beschäftigte. Staub bedeckte die karge Einrichtung, Spinnweben zogen sich durch den Raum und klebten an seiner Stirn, als Simon hindurchging. Er blieb vor einem Gemälde stehen, auf dem eine Frau zu sehen war. Sie sah den Betrachter mit einem freundlichen Lächeln an, doch ihre Augen wirkten traurig. So kannte Simon seine Mutter. Gütig, traurig, ängstlich.

Der Maler hatte sie gut getroffen. Carl, Simons Onkel, hatte den Künstler damals persönlich aus Mainz abgeholt. Dieses Bild war das einzig Wertvolle in diesem Haus.

»Meine Mutter wurde damals als älteste Tochter mit meinem Vater vermählt. Bis zu ihrem Hochzeitstag hatten sie sich nicht gesehen.«

»Sie traten als zwei Fremde vor den Altar?«

Er nickte. »Mein Vater war wie Ulrich. Unerbittlich, rücksichtlos. Er ergötzte sich an der Furcht der anderen und besonders an der meiner Mutter. Es war so, als wollte er sie stets unterwürfig und ängstlich sehen.«

»So wie Ulrich mich sehen wollte«, stellte Jonata fest und trat neben den jungen Mann, um mit ihm das Gemälde zu betrachten. »Sie war sehr schön.«

»Das war sie … so wie du.« Simon wandte sich fort. »Sie hat mich oft mit traurigen Blicken angesehen. Sie hatte Angst vor Ulrich und mir. Ich habe das nie verstanden.«

Diese Frau hatte sich vor ihren Söhnen, vor ihrem eigenen Fleisch und Blut gefürchtet. Würde Jonata das Gleiche tun? Simon kannte ihre Abneigung zu ihrem Kind. Sie hatte sogar schon versucht, es loszuwerden. Würde sie vor ihrem eigenen Sohn Angst haben? Diese Frage stellte er sich nicht das erste Mal.

Simon drehte sich zu ihr um. Niedergeschlagenheit breitete sich in ihm aus und hinterließ einen bitteren Geschmack auf seiner Zunge. »Aber ich bin nicht wie mein Vater, ich wollte niemals so sein.«

»Wie ist sie gestorben?«

Er war sich nicht sicher, ob er antworten wollte. Die Erinnerung an jenen Tag verbannte er stets aus seinem Kopf, denn es machte ihm seine eigene Schwäche bewusst. Womöglich hätte er ihren Tod verhindern können, wäre er nicht so blind gewesen. Sein Vater hatte ihm eingebläut, keine Gefühle zu zeigen, die einen schwach erscheinen ließen.

»Das erzähle ich dir ein anderes Mal«, murmelte er und wollte ablenken. »Lass uns über das Dorf sprechen. Hast du dich um den verletzten Jungen gekümmert?«

Sie ging darauf ein und wandte sich von dem Bild ab. »Das habe ich. Ihm geht es besser, aber die Menschen haben immer noch Angst. Ich frage mich, ob wir die Leute nicht herbringen können. Hier sind sie in Sicherheit.«

Ihr Vorschlag regte ihn auf. »Ich kann die hungrigen Mäuler nicht auch noch stopfen, Jonata.«

Sie schüttelte den Kopf. »Mehr hast du dazu nicht zu sagen?« Sie trat einen Schritt von ihm zurück. Simon erkannte die Enttäuschung in ihren Augen. »Sagtest du nicht eben, du seist nicht wie dein Bruder?«

Seine Gesichtsmuskeln verhärteten sich. »Das bin ich auch nicht.«

»Aber herzlos genug, um die Menschen, für die du verantwortlich bist, im Stich zu lassen.« Ihre Stimme war immer lauter geworden.

Ihr Vorwurf traf ihn und machte ihn wütend. »So hast du nicht mit mir zu reden.«

»Ach, stört es dich etwa, ausgerechnet von mir die Wahrheit zu hören?«

»Nein, das nicht. Es stört mich, dass du nicht begreifst, wie die Wahrheit aussieht. Ich kann nichts tun. Es ist aussichtslos.« Gunnar hatte ihm immer und immer wieder gesagt, wie es um Mechtheim stand. Wie sollte er den Menschen helfen?

»Ich würde etwas tun, selbst wenn es aussichtslos wäre, Simon.« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Wäre er aufmerksamer gewesen, hätte er das entschlossene Funkeln in ihren Augen bemerkt. Doch er achtete kaum darauf und war mit seinen Gedanken ganz woanders.

Die Räuber hatten angekündigt, bald wiederzukommen. Der Gedanke daran und die Sorgen ließen Jonata nicht los. Simons Tatenlosigkeit hatte sie genauso aufgeregt wie enttäuscht. Dabei hoffte sie, er würde Verantwortung zeigen und seinen Grund und Boden verteidigen. Nur zu gut wusste sie, wie es sich anfühlte, hilflos einer Gefahr ausgesetzt zu sein. Dass Samuel das Gleiche durchmachte, ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Sie musste nach seinem verletzten Bruder sehen, ob er kein Fieber bekommen hatte und sich vergewissern, dass es ihnen allen gutging.

Von dieser quälenden Unrast befallen, schlich sie über den Hof, zur Schmiede hinüber. Dort, das hatte sie bereits herausgefunden, bewahrte der Waffenknecht die Waffen auf. Der Bestand war spärlich und wie Simon andeutete, beschämend. Selbst hier müsste aufgeräumt werden, dachte sie, und fand zwischen Unrat und Holzspänen einen Bogen, dessen Sehne neu bespannt werden musste. Außerdem lagen Pfeile auf dem Boden herum, von denen sie mehrere einsammelte. Den ein oder anderen konnte sie gut gebrauchen.

Ihr fiel der beschädigte Bogen ein, den sie bei ihrer Ankunft mitsamt Ulrichs Kleidung in die Truhe verbannt hatte. Zufrieden mit ihrer Ausbeute verließ sie die Schmiede und kehrte in ihre Kammer zurück.

Rasch holte sie den Bogen aus der Truhe und prüfte den Schaden. Die Sehne war noch zu gebrauchen. Geschwind fertigte sie aus beiden Bogen einen nutzbaren. Zufrieden begutachtete sie ihre Arbeit. Sollten diese Gesetzlosen auftauchen, würde sie wenigstens bewaffnet sein. Insgeheim dankte sie Kilian, der ihr damals diese Handgriffe beigebracht hatte. Wehmütig dachte sie an den guten Freund, der beim Angriff auf Sunneck sein Leben lassen musste.

Da es zum Nachmittag auffrischte, zog sie sich um. Das Unterkleid kratzte. Die neue Cotte schnürte sie mit flinken Handgriffen und flocht ihre Locken zu einem Zopf.

Sie warf einen Blick zum Fenster. Die Sonne hatte sich heute noch nicht gezeigt und würde es auch nicht mehr. Dicke Wolken drängten sich über den Himmel. Es sah nach Regen aus. Wenn sie um diese Tageszeit aufbrach, ließen die Wachen am Tor sie ungehindert passieren. Immerhin war sie keine Gefangene und konnte ein und ausgehen, wann sie wollte.

Sollte sie vor ihrem Aufbruch nach Simon sehen? Besser nicht, dachte sie. Nach ihrem letzten Gespräch waren sie wütend auseinandergegangen.

Jonata verließ das Haus und ließ ihre Stute satteln.

Oskar hielt am Tor Wache, als sie bei ihm ankam.

»Ihr wollt noch hinaus? Es sieht nach Regen aus.«

»Ich will Kräuter für eine Wundpaste sammeln«, sagte sie und hoffte, Oskar würde ihre Lüge nicht bemerken. »Regen macht mir nichts.«

»Es würde dem Herrn nicht gefallen, wenn Ihr krank werdet.«

»Keine Sorge, ich bleibe nicht lange weg«, beruhigte sie den Mann mit einem Lächeln.

Oskar zeigte auf den Sattel, an dem der Bogen hing. »Ich frage mich, ob Ihr auf die Kräuter schießen wollt.«

Ihr brach der Schweiß aus. Wenn Oskar misstrauisch wurde, würde er sie nicht gehen lassen. Vielleicht wäre es besser ihm zu sagen, wohin sie reiten wollte, statt ihn anzulügen. Sie war keine Gefangene, die Rechenschaft über ihr Tun ablegen musste. »Ich bin nur vorsichtig.«

Sie wollte an ihm vorbeigehen, da sagte Oskar: »Seid noch vor Anbruch der Dämmerung zurück.«

»Das mache ich«, versprach sie. »Sage niemandem, dass ich fort bin.« Sie zog das Pferd hinter sich her.

»Warum nicht?«, rief Oskar ihr verwirrt nach. »Ihr geht doch nur Kräuter sammeln.«

Jonata stieg auf die Stute und antwortete dem Mann nicht. Je weniger er wusste, desto besser. Hoffentlich würde er Simon oder Gunnar nicht von ihrem Ausflug erzählen. Sie hatte nicht vor, allein gegen eine marodierende Horde zu kämpfen. Sie würde nach Samuels Bruder sehen und seiner Familie Mut machen. Ihre Anwesenheit zeigte den Menschen im Dorf vielleicht, dass es ihr nicht egal war, wie es ihnen ging. Über die Gefahr wollte sie sich keine Gedanken machen. Sie würde vor Anbruch der Dunkelheit wieder zurück sein.

Sie versuchte, sich an den Weg zu erinnern, und ritt durch das Tal und einen Hang hinauf. Mit gemischten Gefühlen betrachtete sie das kleine Waldstück vor sich. Sie war sich sicher, dass Simon es ihr verboten hätte, noch einmal dorthin zu reiten. Sobald er davon erfuhr, würde er fuchsteufelswild werden. Das war ihr aber egal. Vielleicht hätte sie wenigstens Oskar sagen sollen, wohin sie wollte. Zweifel kamen auf. War es leichtsinnig, Samuel zu besuchen?

Nach kurzer Zeit erreichte sie die kleine Siedlung. Es lag eine friedliche Ruhe über den Dächern. Hühner pickten auf dem Boden herum. Das Blöken eines Schafes war zu hören.

An der Hütte von Samuels Familie band sie ihre Stute fest und nahm den Bogen, den sie am Sattel befestigt hatte. Den Beutel mit ihren Kräutern und Pasten hatte sie auch bei sich, als sie die Hütte betrat.

Wärme schlug ihr entgegen.

Samuel saß am Tisch und schnitzte. Seine Mutter drehte sich um und wischte hastig ihre Hände an der Schürze ab, als sie den Gast erkannte. Ohne jeden Argwohn wurde sie freundlich begrüßt.

»Herrin? Willkommen. Setzt Euch. Wollt Ihr etwas trinken?«

»Ich bin nur hier, weil ich nach Eurem Sohn sehen will. Geht es ihm besser?«

Der Blick der Mutter trübte sich leicht. »Er hat zwar kein Fieber, aber er ist müde und schläft viel, Herrin.«

Rasch untersuchte Jonata die Wunden von Samuels Bruder und stellte fest, dass kein Wundbrand entstanden war. Erleichtert richtete sie sich auf.

»Wird er wieder?«, fragte Samuel vorsichtig.

»Du hast mich rechtzeitig gerufen«, erwiderte sie. »Ihm geht es bald besser. Mach dir keine Sorgen um deinen Bruder.«

Samuel lachte zaghaft und hielt das Stück Holz hoch, an dem er eben noch geschnitzt hatte. »Das wird die Ziege, die er verteidigen wollte.«

Jonata erhob sich und nahm das unförmige Holzstück, um es genauer zu betrachten. Ohne seine Erklärung hätte sie nicht erkannt, was es darstellen sollte. Sie wuschelte Samuels Schopf und gab ihm die Schnitzerei zurück. »Dein Bruder wird sich freuen, wenn du damit fertig bist.«

Sie schlenderte mit ihm zum Tisch. »Geht es euch gut?«

»Danke für Eure Mühe. Uns geht es so gut, wie es eben geht. Bleibt zum Essen.«

Die Einladung nahm Jonata dankend an.

»Setzt Euch, Herrin«, forderte die Frau sie auf und kehrte zur Kochstelle zurück. »Das Essen ist gleich fertig.«

Samuel setzte sich Jonata gegenüber und betrachtete sie. »Es heißt, Ihr gehört zu unseren Feinden.«

»Samuel«, ermahnte die Mutter ihn.

Jonata schüttelte nachsichtig den Kopf. »Schon gut. Ich weiß nicht, was alles über mich erzählt wird. Ich muss zugeben, dass die Mechtheimer nicht meine Freunde waren. Sie haben mein Zuhause zerstört.«

»So wie diese Fremden uns überfallen?«

Sie nickte.

»Ich dachte, Ihr bringt Soldaten mit«, sagte Samuel enttäuscht. »Ihr habt versprochen, uns zu helfen.«

Die Mutter brachte eine Schüssel Dörrobst zum Tisch. Ehe Jonata etwas sagen konnte, fragte sie: »Es ist, wie Gunnar sagt, nicht wahr?« In ihren Augen lag ein bekümmerter Ausdruck. »Ritter Simon steht uns nicht bei. Wir sind auf uns allein gestellt.«

Jonatas Schweigen war Antwort genug. Sie fühlte sich hilflos und wünschte sich, sie hätte andere Nachrichten überbringen können. Wie sollten sich diese Menschen hier gegen eine marodierende Horde verteidigen?

Samuels Vater polterte in die Hütte. »Es wird bald regnen«, kündigte er an und bemerkte erst jetzt den Gast. Seine abgetragene Kleidung war dreckig und roch nach Pferdedung. »Herrin, seid gegrüßt.«

»Sie kam, um nach unserem Sohn zu sehen«, sagte seine Frau, ehe er fragen konnte.

»Das ist sehr freundlich.«

Er verließ wieder die Hütte und kehrte mit sauberen Händen zurück. Die dreckige Jacke legte er achtlos über einen Schemel und setzte sich an den Tisch.

Samuel zeigte ihm seine Schnitzerei und erzählte Jonata von den vielen Figuren, die er angefertigt hatte. Dabei strahlte sein Gesicht. Sein Vater bestätigte stolz, wie begabt der Junge war. Samuel versprach, Jonata nach dem Essen seine Sammlung zu zeigen.

Es gab nicht viel zu essen. Wie das letzte Mal auch. Der Rübeneintopf und das Dörrobst machten sie aber satt. Das Brot war trocken und schmeckte fad. Jonata wusste trotzdem zu schätzen, dass die Familie mit ihr teilte.

»Ich habe mit Simon gesprochen«, erzählte sie schließlich zu Samuels Vater gewandt. »Er weiß von den Überfällen.«

»Aber er schaut nur zu«, fügte der Junge enttäuscht hinzu.

»Simon kann euch nicht helfen, weil ihm die wehrhaften Männer fehlen. Keine Sorge, uns wird schon etwas einfallen«, versprach Jonata und steckte sich ein Stück Dörrobst in den Mund.

»Ich weiß nicht, ob das genügen wird«, erwiderte Samuels Vater.

Jonata seufzte leise und trank einen Schluck von dem sauren Wein.

»Ich weiß Eure Mühe zu schätzen, Herrin, aber …« Der Mann verstummte.

Plötzlich wurden Hufschläge laut. Das Geräusch näherte sich schnell.

Jonata hielt mit dem Kauen inne. Mit einem Mal wusste sie nicht, ob es richtig war, hierhergekommen zu sein. Nun war es zu spät für Einsicht. Der Bissen Brot, den sie gerade hinunterschluckte, blieb ihr im Hals stecken.

»Hoffentlich sind sie das nicht«, stieß Samuels Mutter erschrocken hervor. »Herrin, schnell, versteckt Euch. Wenn das die Räuber sind, seid Ihr in Gefahr.«

Jonata schüttelte den Kopf und griff nach ihrem Bogen. »Nicht weniger als ihr auch. Ich bin nicht hier, um mich zu verstecken.«

»Was habt Ihr vor?«, fragte sie.

»Das, was andere tun müssten.« Es klang selbst in ihren Ohren lächerlich.

»Ihr wollt uns beschützen?«, spöttelte Samuels Vater. »Ihr solltet vernünftig sein und auf meine Frau hören.«

»Ich will Euch daran erinnern, dass ihr kämpfen müsst. Ich versuche, mit diesen Kerlen zu reden.«

»Die sind nicht für einen Plausch hier«, widersprach der Mann. »Ich bin ein Bauer, kein Krieger. Ich führe einen Pflug, aber kein Schwert. Und Ihr seid nur eine Frau.«

»Das mag sein.« Jonata erhob sich und öffnete die Tür. »Ich bin nur eine Frau, aber ich kann trotzdem mehr als Nähen.« Mit dem Bogen fest in der Hand trat sie hinaus.

Die Dämmerung war hereingebrochen. Ihr Besuch hatte länger gedauert. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es spät schon war.

Erst sah sie nur Schatten. Schließlich lösten sich mehrere Reiter aus der Dunkelheit. Nach kurzer Zeit erreichten sie das Dorf. Keiner der Bewohner war vor den Hütten zu sehen. Sie verkrochen sich in ihren schützenden vier Wänden, wohl wissend, dass sie nirgends sicher waren.

Erst wusste Jonata nicht, was sie tun sollte. Den Männern entgegentreten und sie bitten, zu verschwinden? Sie konnte sich ausmalen, was die Antwort war. Gegen sie zu kämpfen wäre genauso absurd. Es war sinnlos. Was glaubte sie, tun zu können? Immer prahlte sie über ihre Unerschrockenheit und war von sich selbst überzeugt. Jetzt kam die Gefahr auf sie zu und sie musste einsehen, wie machtlos sie war.

Unentschlossen kehrte sie in die Hütte zurück. Noch immer saß Samuels Familie voller Angst da und starrte sie an. Egal wie aussichtslos ihre Lage aussah, Jonata war nicht hierhergekommen, um sich in einer Ecke zu verkriechen. Sie winkte Samuel zu.

»Geh ans Fenster und beobachte, was draußen vor sich geht.« Der Junge nickte eilfertig und bezog an der Fensteröffnung Stellung.

Jonata legte die Pfeile auf die Bank.

»Ihr solltet fliehen, solange Ihr könnt«, riet Samuels Mutter besorgt. »Diese Kerle werden Euch gefangen nehmen, wenn sie erfahren, wer Ihr seid, Herrin.«

»Dann sollten sie nicht erfahren, wer ich bin«, erwiderte Jonata und legte den ersten Pfeil auf den Bogen. Es gelang ihr nicht gleich, denn ihre Finger zitterten. Ihre eigene Angst ärgerte sie. Sie war hier, um den Menschen Mut zu machen, und sie war gerade dabei ihn selbst zu verlieren.

»Einer von ihnen kommt auf unsere Hütte zu«, wisperte Samuel erschrocken in ihre Richtung.

Die Tür wurde aufgerissen.

Jonata ließ vor Schreck den Pfeil fallen.

Ein Mann stürmte in die Hütte und fuchtelte mit seinem Schwert herum. Sein schwarzes Haar war zerzaust, sein Bart ungepflegt. Der Kleidung nach zu urteilen, trug er sie schon seit langer Zeit. Es war nicht sein derbes Äußeres, der sie zurückweichen ließ. Es war dieser kalte Ausdruck in seinen Augen.

»Habt ihr uns schon erwartet? Gebt mir eure Vorräte, oder ich zünde eure Hütte an«, brüllte er, packte Samuels Mutter im Nacken und zwang sie auf die Knie. »Wird’s bald?«

Jonata spürte ihr Herz wild in ihrer Brust hämmern. Sie stand an der Bank und konnte sich nicht rühren. Panik lähmte ihre Glieder. Dieses Gefühl war so vertraut und erschreckend zugleich.

Ihr Blick fiel auf den Pfeil, der ihr eben entglitten war.

»Seid ihr taub?«, brüllte der Fremde. »Her mit eurem Vorrat!« Er hob sein Schwert und zeigte auf Jonata. »Du! Rühr dich endlich.«

Simon starrte zornig vor sich hin. Der Streit mit Jonata ging ihm nicht aus dem Kopf. Glaubte sie, es wäre ihm gleichgültig, was auf seinem Land geschah?

Ausgerechnet diese Frau machte ihm Vorwürfe. Ausgerechnet sie, die er immer vor seinem Bruder verteidigt und beschützt hatte. Sie, auf die er ein Auge haben musste, damit sie keine Dummheiten machte.

Die Wunden, die ihn plagten, hatte er ihr zu verdanken.

Unwillkürlich hob Simon seine Hand an die vernarbte Stelle auf seiner Brust. Er war mächtig sauer gewesen, nachdem er erfuhr, dass Jonata den Pfeil auf ihn abgeschossen hatte.

Immer kam sie ihm in die Quere.

Er wäre damals im Kampf gegen Lorentz von Marbach siegreich gewesen. Sein Blick war auf Jonata gefallen. Statt Lorentz von Marbach zu töten und damit den Tod seines Bruders zu rächen, hatte er gezögert. Ein fataler Fehler, den Simon noch immer bereute und der ihn heute wie ein Häufchen Elend aussehen ließ.

Simons Hand rutschte von der Brust.

Sobald es ihm besser ging, würde er mit den Männern, die ihm geblieben waren, diese Gesetzlosen verfolgen. Er würde sie auf seine eigene Art und Weise überzeugen, niemals wieder das Land der Mechtheimer zu betreten.

Gunnar trat ein und schlenderte durch die Kammer. Statt seinem sonst düsteren Gesichtsausdruck wirkte er heute gut gelaunt. Es fiel Simon sofort auf und machte ihn misstrauisch. Das war ihm wohl anzusehen, denn sein Kamerad blieb neben ihm am Tisch stehen und grinste.

»Habe ich was falsch gemacht?«, witzelte Gunnar. »Du schaust mich an, als wolltest du mich verprügeln.«

Simon hatte keine Lust zu scherzen. »Ich habe nachgedacht. Wir müssen etwas gegen die Überfälle unternehmen.«

Sofort war die gute Laune wie weggewischt. »Ich weiß. Sag mir was und ich tue es.«

»Wie viel Mann haben wir noch?«

Gunnar schnaubte. »Zu wenige, die ein Schwert halten können. Ich bräuchte alle, um diese Räuber zu jagen. Hier wärt ihr schutzlos, würde ich die Männer mitnehmen.«

Er hätte eher fragen sollen, statt die ganze Zeit damit zu verbringen, hier zu liegen und sich im Selbstmitleid zu suhlen. Es ärgerte Simon immer mehr, dass Jonatas Vorwurf zutraf.

»Die Treusten sind geblieben.« Gunnar fuhr mit einer Hand über seinen Bart. »Diejenigen, die keinen Lohn verlangen, sondern mit dem Essen und der Unterkunft zufrieden sind. Aber es ist eine Frage der Zeit, bis auch sie gehen.«

»Verdammt«, stieß Simon ärgerlich hervor. Er wunderte sich, dass Jonata noch nicht hier war, um ihm weitere Vorhaltungen zu machen. Fast vermisste er es, von ihr beschimpft zu werden. »Wo ist Jonata?«

Gunnar zuckte mit den Schultern. »Ich habe sie vorhin auf dem Hof herumschleichen sehen.«

»Hol sie her.«

Gunnar verdrehte die Augen. »Bin ich ihre Kinderfrau?«

»Geh!«

Grummelnd verließ Gunnar die Kammer und kehrte nach einer Weile allein zurück. »Sie ist nicht da. Oskar hat sie vorhin durchs Tor gelassen.«

Simon zuckte zusammen. Ein ungutes Gefühl stieg in ihm auf. »Wozu?«

»Sie wollte für deine Wunden Kräuter sammeln. Oskar hat sie noch aufgezogen, weil er einen Bogen an ihrem Sattel gesehen hat.« Gunnar schnaubte spöttisch. »Vielleicht will sie den frischen Salbei erschießen.«

»Verdammt«, zischte Simon wieder. »Sie ist von Sinnen.« Zornig schlug er die Decke zur Seite. Dass sie nicht hier war, ließ ihn Schlimmes erahnen. Ihm fielen ihr Streit und ihre Entschlossenheit wieder ein. Er hatte keine zufriedenstellende Antwort geben können, nachdem sie ihn fragte, was er gegen die Übergriffe tun würde. Auch ihre letzten Worte hatte er nicht vergessen. Hatte Jonata sie wahr gemacht? War sie so leichtsinnig?

»Du musst die Pferde satteln«, befahl Simon ohne Umschweife und schwang die Beine zur Seite. Die Schmerzen überwältigten ihn kurz. Ihm stockte der Atem.

»Was regst du dich auf?«, fragte Gunnar. »Die Frau ist Kräuter sammeln.«

»Nein, ist sie nicht. Jonata ist zu diesem Jungen und seiner Familie geritten. Sie war so wütend darüber, als ich ihr sagte, dass ich den Menschen nicht helfen kann. Sie ist …«

»Eine Verrückte«, ergänzte Gunnar, obwohl Simon das nicht hatte sagen wollen.

»Wenn die Mistkerle zurückkommen und das Dorf überfallen, dann …« Er sprach seine Befürchtung nicht laut aus, aus Angst sie könnte wahr werden. Er versuchte, die Schmerzen zu ignorieren und aufzustehen. »Wir müssen sie zurückholen.« Er verzog das Gesicht und blieb schwankend stehen.

Erst starrte Gunnar ihn verständnislos an, dann stieß er hörbar die Luft aus und drückte Simon zurück auf sein Lager. »Du bleibst hier. So wie du aussiehst, kämst du nicht mal bis zum Tor.«

»Aber Jonata …«

»Ich mache das«, unterbrach Gunnar ihn gereizt. »Ich hole sie.« Er verdrehte die Augen. »Kaum zu glauben, dass ich das sage. Dabei müsste ich froh sein, dass sie endlich weg ist.«

»Sie ist in Gefahr, Gunnar.«

»Und selbst daran schuld. Dieses törichte Weib glaubt wohl, mit Pfeil und Bogen gegen diese Horde etwas ausrichten zu können.«

»Du müsstest sie mittlerweile kennen. Sie tut immer das, was sie für richtig hält und sie tut es nicht für sich, sondern für die Menschen im Dorf.«

»Warum kann sie sich nicht einmal wie eine normale Frau verhalten?«, schimpfte Gunnar.

»Geh.« Es wäre seine Aufgabe den Menschen, die unter seinem Schutz standen zu helfen. Seine Kraft reichte nicht aus, um sich noch einmal von dem Lager zu erheben. Selbst die Wut über sein Unvermögen genügte nicht dafür.

Gunnar eilte grummelnd aus der Kammer. Seine schnellen Schritte verklangen, während Simon dasaß und ihm hinterher starrte.

Sein Herz raste. Selbst die wenigen Bewegungen hatten ihn an seine Grenzen gebracht. Simon war ein nutzloser Klotz geworden. Hilfloser als ein Kleinkind. Das war erniedrigend.

»Verdammt«, zischte er noch mal und ließ sich zurückfallen.

Würde er jemals wieder so gesund werden, dass er sich schmerzfrei bewegen könnte?

Mechtheim war ein elender Haufen geworden, schutzlos und verspottet, und er hatte es dazu gemacht. War Mechtheim nur durch Ulrich stark gewesen? Würde es untergehen, weil Simon tatsächlich zu schwach war, so wie sein Vater und sein Bruder es ihm immer vorgeworfen hatten?

Würde es Simon nicht gelingen das Land seiner Familie zu schützen oder sollte er doch den Weg seines Bruders einschlagen?

Es war nicht das erste Mal, dass er darüber nachdachte. Keiner seiner Feinde würde es wagen, über die Grenze nach Mechtheim zu kommen, solange er genauso gefürchtet wurde, wie einst sein Bruder. Diesen Ruf würde er sich nicht schaffen können, indem er freundlich und ehrenhaft war.

Ein weiteres Verdammt kam ihm nicht mehr über die Lippen, denn er schlief erschöpft ein.

»Was glotzt du mich an, Weib?«, fuhr der Kerl Jonata an. Noch immer hielt er die Frau im Nacken fest und drückte sie zu Boden. Samuels Mutter wimmerte leise. »Hast du nicht verstanden? Du sollst dich endlich bewegen.« Er zeigte auf Samuels Vater. »Und du auch. Los.«

Samuel, der seiner Mutter zu Hilfe eilen wollte, wurde von seinem Vater festgehalten.

Jonata löste sich aus der Erstarrung. »Was wollt Ihr haben? Die Menschen hier besitzen nichts.«

»Halt den Mund.« Abfällig maß er sie. »Wer bist du überhaupt? Ich habe dich hier noch nie gesehen.«

Mutig schob sie ihr Kinn vor und begegnete seinem Blick. »Wer ich bin, tut nichts zur Sache. Ich verlange von Euch, dass Ihr die Menschen in Ruhe lasst.«

Der Kerl lachte schallend. »So, das verlangst du? Und wenn wir es nicht tun?« Er machte einen drohenden Schritt auf sie zu.

»Wird Simon von Mechtheim seine Krieger schicken und Euch töten.«

Bei ihren Worten blinzelte er verwirrt. »Der Mistkerl liegt im Sterben, habe ich gehört. Der ist keine Gefahr.«

Jonata versuchte, ihre zitternden Hände zu verbergen. »Ihr habt kein Recht diese Menschen auszurauben. Dies ist Mechtheimer Land.«

»Wo sind denn die kaltblütigen Krieger des Ritters? Ich sehe niemanden.« Er lachte höhnisch und zeigte auf sie. »Nenn mir deinen Namen, Weib.« Er ließ Samuels Mutter los und machte einen Schritt auf Jonata zu. »Ich werde dich mitnehmen, damit du mir dienst und mir gefällig bist.«

Sie rührte sich nicht von der Stelle und presste die Lippen aufeinander, obwohl ihr danach war, vor ihm zurückzuweichen. Wenn herauskäme, wer sie war, würde ihr das nicht gut bekommen. Er brauchte nur noch einen Schritt, dann war er bei ihr, packte sie am Zopf und zog sie zu sich. Sein Blick fiel hinter sie auf die Bank. »Was willst du denn mit Pfeil und Bogen?« Er lachte wieder. »Willst du uns angreifen?«

»Ich will mich verteidigen«, stieß sie zwischen zusammengepressten Lippen hervor und erduldete das schmerzhafte Ziehen am Kopf.

Der Mann grinste und entblößte verfaulte Zähne. Jonata versuchte, sich angewidert abzuwenden, doch sein Griff ließ es nicht zu. Sein fauliger Atem ließ sie würgen.

»Deine Widerworte gefallen mir nicht. Wenn du am Leben bleiben willst, dann solltest du tun, was ich dir befehle.«

Sie wehrte sich gegen die grobe Hand an ihrem Schopf und unterdrückte einen Schmerzenslaut.

»Lasst sie ihn Ruhe«, rief Samuel plötzlich. Er riss sich von seinem Vater los, rannte auf den Kerl zu und trat nach ihm. »Sie ist die Gemahlin von Ulrich von Mechtheim, also behandelt sie nicht so.«

Jonata schloss kurz die Augen und verdammte ihre Einfältigkeit, ohne Verstärkung hierhergekommen zu sein. Würde der Kerl Lösegeld verlangen? Simon besaß nichts, womit er sie hätte eintauschen können. »Ich bin nichts wert.«

Es würde ihre Lage nicht besser machen, wenn Simon auch noch Lösegeld für sie auftreiben müsste. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

Sie spürte, wie sich der Griff etwas lockerte, und zögerte nicht, sich zu befreien.

»Du bist Ulrichs Gemahlin?« Seine Überraschung währte nur kurz. Der begierige Ausdruck auf seinem Gesicht, der folgte, verhieß nichts Gutes. Der Mann zog einen Dolch hervor. »Ulrichs Gemahlin«, wiederholte er und betrachtete sie genauer. »Was habe ich nur für ein Glück heute?«

»Was sollte das für ein Glück sein?«, wollte Jonata wissen und schielte zu ihrem Bogen. Würde sie die Waffe schnell genug erreichen, um sie mit einem Pfeil zu spannen? Nein, dazu fehlte ihr die Zeit. Der Fremde war flink und unberechenbar.

Er grinste breit und freute sich sichtlich. »Der ganze Unrat in diesem Loch taugt nichts. Aber du…« Frohlockend wedelte er mit dem Dolch hin und her und wollte sie damit auffordern, vor ihm die Hütte zu verlassen. »Du kommst mit.«

»Nein, lass sie in Ruhe.« Samuel stürzte sich erneut auf den Kerl. Der stieß den Jungen zur Seite und wollte ihm den Dolch in die Brust rammen. Jonata stellte sich schützend vor das Kind.

»Wagt es nicht«, stieß sie entschlossen hervor. »Ich gehe mit Euch, aber lasst den Jungen und seine Familie in Ruhe.«

Er entblößte wieder seine faulen Zähne. »Du willst Forderungen stellen? Dein Gemahl hätte dir beistehen können, aber das kann er ja nicht mehr. Was für ein Jammer für dich.«

»Dann fordere ich es nicht, sondern ich bitte Euch.«

Für einen Augenblick zögerte der Mann, ließ kurz seinen gierigen Blick durch das Innere der Hütte schweifen, dann schob er Jonata vor sich her. »Gehen wir.«

Sie stolperte zur Tür, während er ihr folgte.

»Was lässt Euch glauben, ich könnte von Wert sein?«, fragte sie über ihre Schulter.

Statt eine deutliche Antwort zu erhalten, sagte ihr Peiniger mehr zu sich selbst: »Ich werde bestimmt reich belohnt, wenn ich ihm dich ausliefere.« Er freute sich immer mehr.

Entsetzt zuckte sie zusammen. »Wer? Von wem redet Ihr?«

Nun musterte er sie. »Von einem Mann, der auf Rache sinnt«, fuhr er frohlockend fort. »Ihr werdet ihm von Nutzen sein, und er wird mich reich machen.«

Rache?

Von wem sprach er? Was hatte Ulrich getan? Wie viel Hass hatte dieser Raubritter unter den Menschen entfacht, dass diese selbst nach seinem Tod auf Vergeltung aus waren? Ausgerechnet sie sollte nun für seine ganzen Untaten bezahlen. Ulrich brachte ihr Unglück, obwohl er zwischen den Trümmern von Sunneck verrottete. Sie musste unbedingt erfahren, wer ihr so gefährlich werden konnte.

»Wer ist dieser Mann?«, fragte sie beharrlich. »Nennt mir seinen Namen.«

Der Fremde stieß sie vor sich her, ohne zu antworten. Seine gute Laune machte ihr Angst.

Die Begleiter ihres Peinigers wüteten derweil in den anderen Hütten. Scheppern und Schreie waren zu hören.

Dann verstummte der Kampflärm. In der plötzlichen Stille war hier und da ein schmerzvolles Stöhnen zu hören. Dem Kerl hinter ihr fiel es nicht auf. Wahrscheinlich überlegte er noch, wie viel er für sie verlangen konnte.

»Wir ziehen uns zurück«, rief er laut und stieß sie auf sein Pferd zu.

Nach seinem Befehl tauchte ein Fremder um die Ecke der Hütte auf. »Aber wir sind noch nicht fertig«, widersprach er.

»Wir haben mehr, als wir wollten«, lachte ihr Peiniger hinter Jonata.

Grummelnd gehorchte der Mann und rannte auf eine der Hütten zu, aus der eben noch der Lärm gekommen war.

Verzweifelt sah sich Jonata um. Es roch nach Regen. Die dunkeln Wolken verdüsterten den frühen Abend. Wohin hätte sie fliehen können? Ihre Panik wuchs. Noch immer stand ihr Pferd angebunden vor der Hütte. Es tänzelte unruhig auf der Stelle. Wenn sie es erreichte…

Die Hand umfasste schmerzhaft ihren Arm, als wüsste der Kerl, an was sie dachte. »Glaub nur nicht, du entkommst mir«, raunte seine Stimme an ihrem Ohr. Grob zog er sie zu seinem Pferd.

So oft sie sich auch umsah und nach einer Möglichkeit zur Flucht suchte, so aussichtsloser wurde ihre Lage.

»Rauf auf den Gaul und wehre dich nicht.« Sein Gesicht kam ihrem näher. »Ich muss dich nicht verschonen. Ich bekomme meinen Lohn, ganz gleich, wie es dir geht.«

»Das wirst du bereuen«, sagte sie.

Der Kerl lachte. »Vor wem sollte ich mich fürchten?«

Sie hatten das Pferd erreicht. Der Mann wollte sie in den Sattel hieven, da hielt er inne.

Jetzt hörte es Jonata auch.

Ehe sie sich umdrehen und nachschauen konnte, tauchte aus der Dunkelheit ein Reiter auf. Er wirbelte ein Schwert über seinem Kopf. Sein Brüllen ging ihr durch und durch.

Bestürzt schnappte sie nach Luft. Der Griff an ihrem Arm lockerte sich. Sie nutzte die Gelegenheit und stolperte zurück.

Es ging alles sehr schnell.

Der Reiter preschte heran. Ihr Peiniger riss sein Schwert hoch und wehrte den Angriff ab. Jonata fiel zu Boden und kroch weiter, um den Kämpfenden auszuweichen.

Gunnar zügelte sein Pferd und sprang ab, ehe es zum Stehen kam. Mit lautem Gebrüll stürzte er sich auf den Mann. Jonata kam auf die Beine, raffte ihren Rock und rannte geduckt in Richtung Samuels Hütte.

Der Junge eilte ihr entgegen.

»Geh zurück«, schrie sie ihm zu.

Sie weinte vor Erleichterung. Simons Kamerad war nicht allein gekommen. Die anderen Kerle ergriffen die Flucht. Vergebens. Im Dunkel lauerten Angreifer, die sich auf sie stürzten und in einen Kampf verwickelten. Aus einer Hütte trat Oskar und zog eine reglose Gestalt hinter sich her.

»Herrin, ich hatte so Angst«, sagte Samuel und hörte nicht auf ihre Anweisung, sondern rannte ihr in die Arme. »Ich dachte, er würde Euch töten.«

Sie drückte das Kind an sich und zog es zur Hütte. Dort standen Mutter und Vater mit entsetzten Blicken und bleichen Gesichtern.

Im Hintergrund war noch immer Kampflärm zu hören.

Gunnar schlug seinem Gegner schließlich die Waffe aus der Hand und drückte die Klinge des Schwertes an die Brust. Der Mann fiel zu Boden und hob abwehrend die Hände. »Was willst du jetzt tun? Ich bin wehrlos.«

Gunnar thronte über ihm. Er brauchte einen Augenblick, bis er sich beruhigt hatte. Fast glaubte Jonata, er würde zustechen und den Mann töten. »Steig auf deinen Gaul und komme nie wieder hierher.«

»Sonst was?«, stieß der Mann hervor und lachte. »Gehört dir jetzt Mechtheim?«

»Nein, aber ich sichere es, solange es mein Herr nicht kann.«

»Dein Herr? Einer ist schon tot, der andere folgt ihm bald. Was ist Mechtheim noch wert?« Er warf einen Blick zu Jonata hinüber. Ihr fuhr ein kalter Schauer über den Rücken. Noch war er ihr eine Antwort schuldig.

»Verschwinde endlich!«, brüllte Gunnar.

Der Kerl sprang auf die Beine und eilte auf sein Pferd zu. »Du und deine Gesellen könnt nicht immer hier sein. Ihr werdet uns nicht aufhalten.« Lachend sprang er in den Sattel. »Wir kommen wieder und dann holen wir uns Ulrichs Gemahlin.«

Die Männer flohen zu Fuß oder auf ihren Pferden Richtung Wald.

Jonata umklammerte noch immer den Jungen und beruhigte sich langsam.

Erst als Ruhe herrschte, ließ sie Samuel los.

»Ihr habt sie vertrieben«, rief er plötzlich.

Gunnar atmete scharf die Luft ein und achtete nicht auf den Jungen. Oskar blieb neben ihm stehen. »Das war knapp.«

»Das war sinnlos«, brummte Gunnar. »Diese Mistkerle wissen, wie es um uns bestellt ist.« Sein Blick schweifte zu Jonata, die noch immer zitternd dastand und nicht fassen konnte, was eben passiert war. Obwohl die Gefahr gebannt war, wusste sie, dass es noch nicht zu Ende war. Hatte dieser Kerl die Wahrheit gesagt oder ihr nur Angst einjagen wollen? Wenn es stimmte, würde er sie nicht in Ruhe lassen. Er wollte sie diesem Unbekannten ausliefern.

»Ihr habt unser Leben in Gefahr gebracht«, fuhr Gunnar sie an.

Trotzig straffte sie ihre Schultern. Sie wollte ihm nicht zeigen, wie sehr dieser Zwischenfall sie eingeschüchtert hatte. Sie würde niemals zugeben, dass seine Vorhaltungen berechtigt waren. Zugegeben, sie hatte unüberlegt und spontan gehandelt, dennoch würde sie immer wehrlosen Menschen beistehen.

Sie war Gunnar zu Dank verpflichtet.

»Ihr habt diese Menschen hier gerettet«, erwiderte sie und fügte hinzu: »Und mich.«

»Was ich nicht hätte machen müssen, wärt Ihr, wie es sich gehört, zu Hause geblieben.«

Hatte er eine Ahnung, was für sie ein Zuhause bedeutete? Hatte er je darüber nachgedacht, als er es in Schutt und Asche legte? »Zu Hause?« Verächtlich verzog sie ihr Gesicht und klopfte den Dreck von ihrem Kleid. Der aufgewirbelte Staub knirschte zwischen ihren Zähnen. »Was ist das für ein Zuhause, wo mich niemand ansprechen darf und ich nicht willkommen bin?«

Er spuckte aus. »Jetzt kommt mir nicht schon wieder damit. Ihr tut nie das, was man Euch sagt«, regte er sich auf. »Wo wir gerade dabei sind. Ihr hättet gar nicht hierherkommen dürfen.«

»Warum nicht? Bin ich eine Gefangene von Mechtheim? Das wäre nichts Neues.«

Zornig presste er die Lippen aufeinander. Oskar griff nach seinem Arm, damit Gunnar sich nicht auf sie stürzen konnte. »Reg dich nicht auf, Gunnar.« Er drehte seinen Kopf zu Jonata. »Natürlich seid Ihr keine Gefangene, Herrin, trotzdem lauert überall Gefahr. Ihr dürft nicht leichtsinnig sein.« Sein Blick fiel auf ihren Bauch.

Sie atmete tief durch und unterließ eine herablassende Bemerkung über ihren Zustand.

Gunnar riss sich aus dem Griff seines Kameraden los. »Ich bin nur hier, weil Simon es mir befahl.« Das letzte Wort betonte er.

Ihr war klar, dass Gunnar sie nicht freiwillig beschützte.

»Nur gut, dass Ihr so gefügig seid«, spottete sie.

Mit einem Ruck drehte er sich auf dem Absatz um und pfiff nach seinem Pferd.

Sie fühlte sich schuldig. Gunnar war ihr Lebensretter, dennoch wollte sie ihm gegenüber nicht zu große Dankbarkeit zeigen. Seine Frechheiten hatte sie nicht vergessen.

»Wir reiten zurück«, rief Gunnar den anderen zu und stieg auf sein Pferd.

Rasch wandte sich Jonata um und ging zu Samuel und seine Familie.

»Für heute habt ihr Ruhe«, sagte sie zum Abschied.

»Herrin, es tut mir leid«, murmelte Samuel. »Ich hätte nicht sagen dürfen, wer Ihr seid.«

Sanft strich Jonata über den Schopf des Jungen. »Vielleicht war das sogar gut, denn nun weiß ich, dass dort draußen ein Feind lauert, der mir gefährlich werden kann.«

»Achtet gut auf Euch und Ulrichs Kind«, bat Samuels Mutter. »Und danke, dass Ihr uns beigestanden habt. Ab heute weiß ich, dass wir beschützt werden.«

Den bittereren Geschmack auf ihrer Zunge schluckte Jonata hinunter, dann stieg sie in den Sattel.

»Endlich fertig?«, fragte Gunnar ungeduldig.

»Das sind die Menschen«, sagte Jonata und zeigte auf Samuel und seine Familie, »die genug gelitten haben. Erst unter Ulrichs Tyrannei und nun unter den Angriffen irgendwelcher Abtrünnigen und …«

»Ich habe es begriffen«, unterbrach Gunnar sie. »Ich kann es nicht ändern.«

Sie warf ihm ein schüchternes Lächeln zu. »Doch, Ihr habt es gerade getan.«

Ohne etwas darauf zu erwidern, trieb er sein Pferd an.

Jonata folgte ihm. »Vielen Dank«, murmelte sie kleinlaut.

»Mhmpf.«

»Vielleicht werdet Ihr einmal froh sein, dass ich da bin.«

Gunnars Augenbrauen zuckten in die Höhe. Die Zweifel standen ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. »Niemals. Ihr bereitet nur Ärger.«

Oskar holte auf und ritt neben ihnen an der Spitze. Die restlichen Männer folgten ihnen.

Er nickte ihr aufmunternd zu. »Geht es Euch auch wirklich gut, Herrin? Seid Ihr verletzt?«

Seine Besorgnis tat ihr gut. Gunnars ständigen Groll zu ertragen, zermürbte sie. Besänftigend lächelte sie an. »Jetzt geht es mir wieder besser. Dank Euch.«

»Wohin wolltet Ihr mit diesem Schurken?«, fragte Gunnar.

Ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Er wollte mich zu einem Mann bringen, der auf Rache sinnt. Ulrich muss ihm Schreckliches angetan haben. Sagt mir, kennt Ihr so jemanden?«

Gunnar und Oskar tauschten verstohlene Blicke aus. Ihre Aufregung wuchs. Wussten die beiden etwas?

»Sagt es mir!«

»Ihr wisst am besten, dass Ulrich viele Feinde hatte«, antwortete Gunnar spöttisch und fuhr mit einer Hand über seinen Bart.

»Ihr müsst Euch nicht sorgen.« Oskars Worte standen im Gegensatz zu dem finsteren Blick, den er Gunnar erneut zuwarf.

Ihr wurde übel bei dem Gedanken, dass dort draußen eine Gefahr lauerte, von der sie bisher nichts ahnte. Dabei hatte sie geglaubt, es würde endlich Frieden in ihrem Leben einkehren. Sie hatte ein großes Opfer gebracht und nun musste sie erfahren, dass sie in einer Illusion gelebt hatte.

»Wenn es stimmt, was dieser Kerl behauptet hat, dann zahlt dieser Rächer sehr viel Geld, um mich in die Finger zu bekommen. Was hat Ulrich ihm nur angetan?«

Oskar beugte sich leicht zu ihr, damit er die nächsten Worte nicht so laut aussprechen musste: »Ulrich hat viele Menschen gequält und getötet, nach Belieben. Ich muss Euch nicht erzählen, wie er war. Wer auch immer es ist, er ist nicht der Einzige, der die Mechtheimer auslöschen will. Ihr müsst Euch nicht sorgen, Herrin.«

Er wiederholt sich, fiel ihr auf. Das machte ihr Angst. Entgegen seiner Worte dachte sie darüber nach, was dieser Unbekannte alles versuchen würde, um sie in die Finger zu bekommen. Bald würde er erfahren, dass sie in Mechtheim war. War sie dort sicher vor seiner Rache?

Oskar meinte es gut, das wusste Jonata, trotzdem beruhigten seine Worte sie nicht.

»Also hat Mechtheim viele Feinde«, sagte sie laut. »Wie will Simon sie bekämpfen?«

»Das lasst seine Sorge sein«, gab Gunnar zurück. »Kümmert Ihr Euch um den Gemüsegarten und das Würzen des Weines.«

Oskar lenkte sein Pferd neben Gunnar und beugte sich zur Seite. Obwohl er leise sprach, verstand Jonata seine Worte:

»Wir müssen mit Simon reden. Wenn es wahr ist, was Jonata da sagt, dann kann das eine größere Gefahr für uns werden, als wir bisher annahmen.«

Gunnar nickte wortlos.

Simon stand am Weidezaun und beobachtete die Pferde auf der Koppel. Im Frühjahr war er mit seinem Bruder von hier aufgebrochen und hatte sich vorgenommen, bei seiner Rückkehr das Gatter des Zaunes zu reparieren. Damals war er voller Tatendrang losgezogen, denn der Auftrag versprach ihnen großen Gewinn. Ulrich hatte zahlreiche Männer um sich scharen können, die mit ihm gen Sunneck gezogen waren. Simon hatte dem Kampf entgegengefiebert. Die kleine Festung auf dem Hügel bei Rambach war einfach einzunehmen, fast war Simon enttäuscht gewesen. Bei ihrem Angriff waren sie kaum auf Gegenwehr gestoßen.

Da hatte er aber noch nicht gewusst, dass sich der Pfeil einer Frau in seine Brust bohren und sein Leben verändern würde. Das Schicksal trieb mit einem ein seltsames Spiel.

Gunnar hatte ihn in der letzten Nacht geweckt und mitgeteilt, dass Jonata wohlbehalten zurück war. Über mehr hatten sie nicht gesprochen. Seitdem wurde Simon das Gefühl nicht los, etwas Unerfreuliches läge in der Luft.

Aus dem Augenwinkel sah er zwei Männer auf sich zukommen: Gunnar mit finsterer Miene, was kein überraschender Anblick war. Oskar, auf dessen Gesicht normalerweise stets ein Lächeln lag, sah besorgt aus. »Wenn ihr zusammen auftaucht, heißt das für mich nichts Gutes«, witzelte Simon.

»Wir müssen mit Euch reden, Herr.« Oskar sprach als Erster. »Es geht um gestern Abend.«

Also hatte Simons düstere Vorahnung ihn nicht getäuscht. »Es ist alles gutgegangen, oder?«

»Ich will es nicht zugeben und ich tue es auch nur bei dir …« Gunnar knirschte mit den Zähnen, ehe er weitersprach, »… aber Jonata hatte recht. Die Bauern an der Grenze leben in ständiger Angst. Unser Eingreifen hat kaum Eindruck hinterlassen. Diese Mistkerle kommen zurück, da bin ich mir sicher. Es sind in den letzten Wochen zwei Bauern getötet worden, als sie versuchten, sich und ihre Familie zu schützen. Ein weiterer Junge wurde verletzt, als er die Ziege verteidigte. Das sind Bauern, keine Krieger.«

»Hätte ich eine Lösung, ich würde etwas tun«, gab er zurück und ärgerte sich. Dachte jeder, sein Verstand hätte gelitten? Er wusste sehr gut, wie es um sie stand. Warum musste ihm das jeder unter die Nase reiben?

»Dann müsst Ihr Verbündete suchen«, schlug Oskar vor. Seit vielen Jahren schon diente er den Mechtheimern. Er hatte eine Frau und zwei Töchter. Oskar liebte dieses Tal und hatte geschworen es nicht zu verlassen, sondern dafür zu kämpfen. Er nahm die Gewaltherrschaft der beiden Brüder hin, um sein Versprechen zu halten und wollte Simons Vertrauen nicht enttäuschen. Während der Abwesenheit der Brüder, hatte er sich um das Gut und das Land gekümmert. Seine Ratschläge hatte Simon immer ernst genommen.

Jetzt musste er den Vorschlag spöttisch lachen. »Verbündete? Wer sollte uns beistehen?«

»Die Eppsteiner«, schlug Oskar vor, »oder Euer Onkel.«

Bei diesem Gedanken wurde ihm übel. Carl wäre der Letzte, den er um Hilfe bitten würde. »Mein Onkel kämpft für den Papst gegen die kaiserlichen Truppen. Wenn er hört, dass Mechtheim kurz vor dem Ruin steht, wird er mich vierteilen, statt mir zu helfen.«

Sein Onkel war damals, kurz vor dem Tod von Simons Mutter, fortgeritten. Simon hatte ihn stets bewundert, war aber auch froh gewesen, dass er endlich fortging. Es hatte immer Streitereien zwischen ihm und seinem Bruder gegeben. Simons Vater ließ sich nicht gerne etwas sagen und dessen älterer Bruder Carl verstand es, ihn zu reizen. Ihr Abschied damals war alles andere als friedlich gewesen.

Gunnar machte einen Schritt auf ihn zu. »Wenn dein Onkel hier auftaucht, ist Mechtheim endgültig dem Untergang geweiht. Nichts gegen deine Familie, Simon, aber er kann sogar bösartiger als Ulrich sein.«

»Du sprichst mir aus der Seele.« Simon klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. »Siehst du, es ist alles noch nicht so düster, wie es sein könnte.«

»Wir müssen dir noch etwas sagen«, sprach Gunnar weiter.

Das war noch nicht alles gewesen? Simon stöhnte.

»Einer dieser Mistkerle gestern hat Jonata mitnehmen wollen.«

Simon spürte Kälte in sich aufsteigen.

»Er würde für Jonata eine große Belohnung einstreichen können. Er hat zwar keinen Namen genannt, aber Oskar und ich vermuten, dass Burckhart von Isingen dahintersteckt. Du erinnerst dich noch an ihn?«

Kurz tauchten Bilder vor seinem inneren Auge auf, ehe Simon sagte: »Der ist doch tot.« Ulrich hatte ihn getötet, als Burckharts Männer versuchten, ihn zu befreien. Simon war dabei gewesen und hatte es selbst gesehen.

»Es ist auch nicht der alte Burckhart, sondern sein Sohn, Burckhart II.. Ich hatte so eine Vorahnung und habe mich heute umgehört. Er sucht Männer, um seinen Vater zu rächen. Er ist kein Kind mehr und gut ausgebildet worden.« Gunnar trat auf ihn zu. »Jonata ist in Gefahr.«

»Wer weiß, vielleicht ist er schon auf dem Weg hierher«, befürchtete Oskar. »Wir müssen mehr Wachen aufstellen.«

Seitdem Gerald von Stein ihm im Nacken saß, wusste Simon, dass dieser nicht der Einzige war, mit dem er sich auseinandersetzen musste. Vor Burckhart von Isingen, einem Burschen, fürchtete er sich nicht sonderlich. Trotzdem konnte er Jonata gefährlich werden. Das bereitete ihm Sorgen.

»Ich habe mir den Frieden einfacher vorgestellt.«

Das Erbe von Sunneck. Band 2

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