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3. Erfahrungsnähe

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der Begriff „Offenbarung“

Mit einer Fremdheitserfahrung ganz anderer Art hat zu rechnen, wer die Bibel nach ihrem Offenbarungsverständnis befragen möchte und in ihr Texte sucht, in denen von „Offenbarung“ die Rede ist. Schon gleichartige Begriffe in den Originalsprachen der Bibel sind kaum zu finden. Mag das griechische „apokalyptein“ (lat.: revelare) in seiner Grundbedeutung des Aufdeckens, Enthüllens dem deutschen Wortfeld von „Offenbarung“ noch einigermaßen nah sein, fehlt eine solche Entsprechung in den hebräischen Texten des Alten Testaments (Eichrodt/47: 1599).

Erfahrungsbegriff

Zahlreich dagegen sind in beiden Teilen der Bibel die Zeugnisse davon, dass Gott Menschen etwas sehen oder hören ließ, dass er erschien, sprach, handelte (Preuß/54: 118 – 122). Die Bibel verwendet vorrangig „Erfahrungsbegriffe“ (Eicher/179: 25 – 48; Seckler/201: 67). Sie beschreibt sinnliche Wahrnehmungen innerhalb einer Vorstellungswelt, in der es als möglich gilt, auf diese Weise der göttlichen Wirklichkeit gewahr zu werden. Mit einem doppelten Ziel überliefert die Bibel solche Ereignisse: Die als wichtig bewertete Erfahrung soll zum einen nicht in Vergessenheit geraten. Zum anderen gibt die Beschreibung denen, die sie lesen oder hören, die Möglichkeit, eigene Erfahrungen der Überlieferung zuzuordnen und in ihnen Gott zu erkennen.

Reflexionsbegriff

Die ausdrückliche Rede von „Offenbarung“ bewegt sich dagegen auf einer anderen Ebene. Sie setzt eine Reflexion voraus, in der die beschriebenen Erfahrungen als Offenbarungen verstanden werden. Nur gelegentlich sind in den biblischen Texten Stellen zu finden, die solche Reflexion direkt erkennen lassen. In der Einleitung oder dem zusammenfassenden Abschluss von Erzählungen finden sich mitunter Begriffe, die das Berichtete als Offenbarung qualifizieren. So etwa wird der Bericht über Jakobs Traum von der Himmelsleiter zusammengefasst: „denn Gott hatte sich ihm hier geoffenbart“ (Gen 35,7 mit Rückbezug auf Gen 28,10 – 19). Das Johannesevangelium leitet seine abschließende Erzählung von der Erscheinung des auferstandenen Jesus mit der Ankündigung ein: „Danach offenbarte sich Jesus den Jüngern noch einmal, und er offenbarte sich in folgender Weise“ (Joh 21,1). Noch deutlicher sind Elemente und Begriffe theologischer Reflexion in den biblischen Büchern zu finden, denen dieses Nachdenken selbst bereits ein Anliegen ist. Dies gilt für die so genannten Weisheitsschriften des Alten Testaments, für die neutestamentliche Briefliteratur, vor allem die Paulusbriefe und den Hebräerbrief, und unter den Evangelien vorrangig für das Johannesevangelium.

Doch erst in einer theologischen Reflexion, die die biblischen Texte insgesamt bedenkt, kann „Offenbarung“ zu einem zentralen Begriff werden. Dabei steht die Theologie vor der gleichen Frage wie die biblischen Autoren bei der Auswahl ihrer Erzählstoffe: Wann kann eine Erfahrung sinnvoll als Gotteserfahrung – als Offenbarung – qualifiziert werden? Eine solche Beurteilung bedarf der Kriterien. Diese müssen nicht ausschließlich theologischreligiöser Natur sein. Als „Offenbarung“ bezeichnet die Umgangssprache Erfahrungen, die – meist plötzlich und überraschend – die bisherigen Einschätzungen und Einstellungen eines Menschen massiv verändern: „Es ist eine Offenbarung“, wenn sich mir ein Mensch von einer ganz anderen Seite zeigt, als ich es gewohnt bin; wenn sich mir lange Zeit verschlossene Zusammenhänge durch einen neuartigen Erklärungsversuch erschließen (Hoff/440: 40 – 121).

Die im profanen Umfeld entscheidenden Momente des Überraschens, des Erschließens und des Umstürzens allen bisherigen Verständnisses spielen auch für den theologischen Offenbarungsbegriff eine Rolle. Bei ihm kommen aber noch andere Kriterien zur Anwendung. Oft ist es die ungewöhnliche Form einzelner Erfahrungen, die sie als etwas Besonderes, als Offenbarung bewerten lassen: Visionen, Auditionen, Träume, Orakel, Erscheinungen, Wunder lassen göttliche Kräfte als Ursache vermuten. Dieser religionsgeschichtlich weit verbreitete Offenbarungsbegriff hat auch Eingang in die biblischen Texte gefunden (Fohrer/48: 38f.). Eine auf den Inhalt der Erfahrung bezogene Perspektive spricht von Offenbarungen, wenn Menschen – auf welche Weise auch immer – ein ihnen normalerweise entzogenes Wissen vermittelt wird; wenn ihnen die Schau göttlicher Geheimnisse eröffnet wird. Die für christliche Theologie wichtigste Perspektive aber richtet sich auf die Frage, ob und wie Gott in den fraglichen Erfahrungen etwas von sich oder gar sich selbst zu erkennen gibt. Vor allem wenn sie letzteres für gegeben hält, spricht die aktuelle Theologie von einer Offenbarung Gottes. Doch reflektierte Aussagen sind in ihrer sprachlichen Gestalt wie in ihren Voraussetzungen deutlich unterschieden von den Erfahrungen selbst sowie von ihrer Weitergabe in Form von Erzählungen (Preuß/53: I.228 – 238).

Einführung in die Theologie der Offenbarung

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