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Kapitel 2: Ein rostroter Kadett

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Die Polizei hatte im Viertel der Dellers und der näheren Umgebung für große Aufmerksamkeit gesorgt. Es waren Andeutungen, kurze Beschreibungen, die wellenartig durch die Straßen wogten. Jeder Anlauf brachte Neues, überwarf bisherige Informationen und über allem prangte die zögerliche Überschrift von Cornelius Dellers Tod. Max Heiliger hörte Satzfetzen von an ihm vorbei flanierenden Passanten, als er von einem schnellen Einkauf aus einem Discounterladen zurückkam. Im Durchgang zum Hinterhof unterhielten sich Nachbarn in der Nähe der abgestellten Mülltonnen. Max, der am Morgen nur mit Mühe aufgestanden war, noch niedergerungen vom nackten Grauen seiner vollbrachten Tat, wurde immer neugieriger. Das Buch – Der kleine Mordratgeber – hatte ihn ausdrücklich vor diesem Gefühl und einem daraus resultierenden Fehlverhalten gewarnt. Wider jede Vernunft machte er Emilie und sich für einen Ausflug fertig.

»Das ist doch viel zu teuer«, hatte Emilie ihrem Max zugeflüstert, da dieser für zwei Kurzstreckenkarten drei Euro in bronzefarbenen Münzen auf das kleine Tablett des Busfahrers gelegt hatte. Max hatte ihr natürlich verschwiegen, dass sie sich den kleinen Luxus ausnahmsweise leisten konnten. Außerdem wollte er es ihr und sich nicht zumuten, durch den Feierabendverkehr zu schleichen. Er befürchtete auch, die Polizei werde mit ihrer Arbeit fertig sein, bevor sie anlangten. Ein wenig zeitlicher Spielraum schadete nicht. Es stimmte schon. Zeit war Geld. Und drei Euro wollte er für eine gesparte halbe Stunde Fußmarsch und ein geringeres Maß Erschöpfung gerne ausgeben.

Jeder zweite aus der näheren Umgebung musste sich hierher aufgemacht haben, denn vor dem Eingang zum Schrottplatz herrschte ein Andrang wie bei einem Volksfest. Endlich einmal passierte etwas! Nahe der leuchtenden Absperrbänder, die von den ermittelnden Beamten vor den Bretterzaun und die rostige Schranke zum Tatortgelände gespannt worden waren, tummelten sich zahlreiche Zuschauer, deren Aufregung von Minute zu Minute beträchtlich nachließ. Das Fernsehprogramm war doch spannender. Hintergründig wurde immer wieder eine Frage gestellt. »Kannst du was sehen?« Gefolgt von: »Was tut sich?«

»Kannst du was sehen?«, fragte auch Emilie ihren Max, noch überrascht von der Menschenmenge und der kurzen Erklärung, es müsse sich ein Verbrechen auf dem Schrottplatz ereignet haben, wenn die Polizei einen derartigen Aufwand betreibe. Die emotionslosen Rempeleien im Gedränge ließen sie beständig zusammenzucken.

Schützend legte er seinen freien Arm um ihre Schulter. Sie antwortete, indem sie ihre Hand nach Halt suchend um seine Hüfte schob. Nun, auf seinen Stock gestützt und auf den Zehenspitzen balancierend, schaute Max über die Köpfe der anderen Schaulustigen hinweg. Zu seinem Leidwesen gab es nichts Nennenswertes zu sehen.

»Du wolltest zum Laden«, sagte Emilie gerade laut genug, dass ihr Mann sie verstand. »Zum Laden. Müssen wir hier stehen bleiben? So was interessiert dich sonst nicht.«

»Das ist der Platz vom Deller«, meinte Max Heiliger, als sei das bereits Erklärung genug. Der fehlenden Reaktion wegen fügte er hinzu: »Den kann doch keiner leiden.« Max starrte auf den Schrottplatz und wähnte sich in Sicherheit. R wie Rückkehr zum Tatort. Bei manchen Tätern, so führte es Utz Entle mit offensichtlicher wie auch unterschwelliger Süffisanz aus, herrschte ein starker Drang, den Tatort neuerlich zu frequentieren, mehrmals sogar und sich von der Tat wie vom Geleisteten zu überzeugen, sich an den Ermittlungen zu ergötzen und das Selbstbewusstsein daran zu stärken. Nur kleine Geister, so schrieb der Oberst a. D., verhielten sich so. Der professionell agierende Mörder werde nie zurückblicken, eher Vorausschau halten. Max Heiliger sah das anders. Er hielt sich nicht für einen Kleingeist, nur für einen Amateur, der noch lernen musste.

Unweit von der Stelle, wo Emilie und er standen, waren an gegenüberliegenden Positionen Polizisten aufgestellt und nicht nur mit dem Zurückdrängen der Gaffer beschäftigt. Ab und an zückte der eine, mal der andere eine Kamera und fotografierte in die Menge. Der Grund für diese Maßnahme fand sich in den Warnungen und Verhaltensmaßregeln des Obersten: Die Beamten versuchten, den Täter in der Menge vor dem Schrottplatz zufällig abzulichten.

Max Heiliger wusste Bescheid. Seine Gegenmaßnahme bestand in Emilie. Welcher Mörder kehrte mit einer blinden Frau zu einem Tatort zurück? Niemand, beantwortete sich Max die Frage selbst. Trotzdem duckte er sich möglichst unauffällig, sobald er das Objektiv des einen wie des anderen Polizisten in seine Richtung schwenken sah. Sein gesamter Körper befand sich in einer sanften Vibration, vor Anspannung und Konzentration. Max Heiliger genoss dieses Gefühl beinahe lustvoll.

»Sollen wir nicht weiter gehen?«, fragte Emilie und rückte näher an ihn heran.

Max drückte sie an sich. »Noch nicht. Noch nicht.« Er hob den Kopf. In der Zufahrt des Schrotthandels, die sich einige Wagenlängen bis hinein in das Gelände zog, kreuzten im Minutentakt Polizisten den Weg, trugen etwas herum. Einer tapste durch den Matsch, als wisse er nicht so recht, wie mit diesem widerwärtig bei jedem Schritt glucksenden Untergrund umzugehen sei. Mit einem Zeigefinger wies er unnötigerweise der nachfolgenden Maria Deller die Richtung. Hexengleich flatterte ein schwarzes Wintercape hinter ihr her, so dass es aussah, als schwebe sie über den Boden. Kurz trafen sich ihrer beider Blicke und Max wie Maria versuchten eine harmlose Miene aufzusetzen. Es gelang ihm besser als ihr. Wahrscheinlich, übertrieb Max Heiliger in Gedanken, weiß sie nicht einmal mehr, was das ist. Maria Deller verschwand mit dem voranschreitenden Polizisten hinter einem Stapel platt gepresster Autowracks. Ihre Fußabdrücke füllten sich langsam mit einer sämigen, hellbraunen Flüssigkeit.

M wie Matsch. Oberst a. D. Utz Entle nannte den aufgeweichten Boden einen Segen und Fluch zugleich. Wer Matsch nicht den nötigen Respekt zollte, legte untrügliche Spuren zu seiner Verhaftung. Wer mit ihm umzugehen verstand, konnte sich nach getaner Arbeit unerkannt davon machen und jegliche Tat verbergen. Cornelius Deller hatte das gewusst und auf seinem Schrottplatz praktiziert. Max musste erst noch viel lernen, er hatte den Fluch am eigenen Leib erfahren. Über und über verschmutzt war er nach Hause zurückgekehrt und hatte seine Kleidung unter den forschenden Ohren seiner Emilie gesäubert und gesäubert und wieder gesäubert. Erst nach der dritten Trocknung, auch der Schuhe, glaubte er, nichts werde sich von normalem Straßendreck, wie er Stoffen stets anhaftete, unterscheiden. Max hatte das Waschen mit Hilfsbereitschaft erklärt. Das Herumrutschen in der Diele, auf der Spur, die er bis zum Badezimmer hinterlassen hatte, das Putzen der Wanne, der Waschmaschinentrommel, aus der seine Stimme so geisterhaft nach draußen geklungen und er eine Entschuldigung gemurmelt hatte, sorgte für Kopfzerbrechen bei seiner Frau. Als ihr Entschluss, sich über die Hilfsbereitschaft und Tatkraft ihres Mannes zu freuen, sich endlich freie Bahn schaffte, ging er mit Mopp und Wassereimer bewaffnet in den Hausflur hinaus. In Emilie Heiliger, geborene Mistel, aus gutem Hause stammend und Sauberkeit leidend, gewann der Zweifel erneut die Oberhand. Aber Max hatte sie anschließend beruhigt. Was bliebe ihm denn zu tun, lautete seine berechtigte Frage. Mit den Zähnen knirschend hatte er ihr gestanden, wie sehr ihn sein Gewissen mit dem Umstand belastete, ihr kein besseres Leben bieten zu können. Und das entsprach der Wahrheit.

So zierlich und zerbrechlich! Die Erkenntnis traf Max zusammenhanglos. Unter seinen Fingern fühlte er noch durch den Stoff von Emilies Jacke die dünne Haut seiner über alles geliebten Frau. Er spürte ihr Frösteln und schalt sich einen Narren. Zuvor hatte er in seinem Plan, Emilie mit zur Tatortbesichtigung zu nehmen, noch einen Anflug von Genialität gefunden. Nun schämte er sich mit gleicher Intensität. Im nächsten Augenblick wurde er abgelenkt.

»Der Conny ist tot«, sagte jemand unweit ihres Standortes. »Was für'n Scheiß.«

Emilie wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme erklungen war. »Joseph?«

»Nein«, antwortete Max schnell. Wieder duckte er sich. »Nein, bestimmt nicht«, sagte er eindringlicher, weil er nicht über seinen Schwager sprechen, noch ihn sehen oder hören wollte. Max Heiliger verabscheute seinen Schwager Joseph in dem Maße, wie seine Frau Emilie ihren Bruder abgöttisch liebte. »Da ist kein Joseph«, erklärte Max weniger ruppig als zuvor und schirmte seine Frau gegen die Richtung der Feststellung über Cornelius Dellers Zustand mit dem Körper ab. Einzig die Art und Weise, wie über den Stiefsohn von Maria Deller gesprochen worden war, versöhnte ihn ein wenig mit der unangenehmen Situation. Er selbst horchte, ob sich jemand, schlimmstenfalls Joseph, näherte. Hinter seinem Rücken geriet nichts in zusätzliche Bewegung und Max atmete auf. Nach einer kurzen Weile gestattete er sich einen Blick über die Schulter und ins Rund, entdecken konnte er die bizarre Leibesfülle des ungeliebten Schwagers nicht.

»War ja klar«, meinte eine Frau mit Kopftuch und Mantel in der Nähe. »Musste doch. Wär doch nicht zu glauben, wär's anders ausgegangen.«

Max nickte sachte. Wenn nicht er, dann jemand anderes. Irgendjemand hätte das Urteil, nein, die Vision der Gemeinschaft vollstreckt. Cornelius Deller, der Mann, der mit Alteisen nach Kindern warf, alte Frauen anspuckte und Hunde schlecht behandelte. Wie sollte solch ein Mensch denn sonst enden? Als Monster fassten viele in der Nachbarschaft den Verstorbenen zusammen. Andere formulierten es weniger schmeichelhaft.

Über den automobilen Überbleibseln vergangener Technikgenerationen erhob sich eine feingliedrige Silhouette, die sich bei genauem Hinsehen als Kran entpuppte, stark genug, um die ausgemusterten Straßenfahrzeuge auf dem Schrottplatz ihrer vorläufigen Ruhestätte zuzuführen. Der Ausleger war relativ kurz, deckte nur einen geringen Radius ab und musste bei Bedarf auf einem Kettenlaufwerk an andere Stellen verbracht werden.

Cornelius Deller hatte nach Aussage seiner Stiefmutter, offiziell gegenüber den Beamten der Kriminalpolizei, nur wenig Gebrauch von dieser Funktion gemacht. Eigentlich konnte sie sich nicht erinnern, ihn jemals weiter in Bewegung gesehen zu haben, als seine stationäre Position erlaube. So übersetzten es die Beamten. Präzise gesagt hatte sie: »Der stand schon immer da.«

Wer innerhalb der metallenen Gassen flanierte und die Autowracks betrachtete, die sich seitwärts türmten, dem wäre diese Tatsache sofort aufgefallen. Der äußerliche Zustand deutete nicht auf eine Veränderung des Bestandes in den letzten Jahren hin. Allein die Baujahre der hier deponierten Fahrzeuge lagen derart lange zurück, dass keiner der Polizisten, die an diesem Tag auf dem Schrottplatz nach bestem Wissen und Gewissen ermittelten, bei ihrer Konstruktion schon auf der Welt gewesen waren. Ebenso verhielt es sich mit den Pkws um den Kran. Dennoch hatte sie jemand in den letzten Monaten bewegt. Nicht nur einmal, sondern mehrmals. Bei einer dieser Arbeitsgänge, so rätselhaft sie auch auf den ersten Blick anmuteten, war eines der rostigen Relikte zu Dellers Unglück zu seinem zeitweiligen Sarg geworden. Oder auch zu einer metallenen Zudecke, wie einer der Polizisten scherzte. Der Rüffel eines Beamten von der Kriminalpolizei brachte den Mann zum Schweigen. Die erwünschte Betroffenheit sprang von einem zum anderen.

»Was'n das?«, brummte jemand, sobald die Kette des Krans anzog und mit bemerkenswerter Lautlosigkeit einen ehemaligen Pkw in die Höhe hob.

»Ein Kadett«, flüsterte Max Heiliger.

Nur Emilie verstand, seit Jahren darin geübt auch die leisen Töne zu vernehmen, die Worte ihres Mannes. Zuordnen konnte sie diese indes nicht. »Max?«

»Ein Kadett«, wiederholte Max hin zu ihrem Ohr gebeugt. »Ein rostroter Kadett. Sie ziehen ihn gerade mit einem Kran hoch.« Er hoffte, er verriete sich nicht mit seinem gepressten Tonfall.

»Einen rostroten Kadett? Du hattest früher einen rostroten Kadett. Warum ziehen sie ihn hoch?«, wollte Emilie wissen. Die Frage war naheliegend.

Max hätte sie ihr beantworten können, hätte er sich selbst ans Messer liefern wollen. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er ihr folgerichtig. »Ich weiß es nicht.«

»Können wir jetzt gehen? Es ist zu kalt fürs Herumstehen. Da hätten wir daheim rumsitzen können. Das wär wärmer gewesen. Wenn wir nicht zum Laden gehen.« Emilies Stimme verfiel in den Nörgelton. Den hatte sie bereits in ihrem sehenden Leben beherrscht. In der Rückschau klang Max' vornehme Schwiegermutter in ihr durch.

»Noch nicht. Gleich. Nicht mehr lange«, beschwichtigte er seine Frau. »Wir gehen zum Laden«, sagte er, obwohl es ihn nicht dorthin zog. Das beharrliche Verschweigen der offiziellen Bezeichnung des Ladens machte es nicht leichter.

Die Karosserie des ausrangierten Automobils schaukelte sanft an den Ketten hin und her. Der Kranführer zog den Kadett noch ein wenig höher und drehte ihn dann aus dem Gefahrenbereich darunter, wahrscheinlich aus dem Grund, damit die Polizisten sich an den Flecken Erde trauten – ein Unfall mit diesem schweren Gerät genügte – wo das Wrack vormals im Matsch versunken war, mussten sie doch mittlerweile vor Augen haben, was das Gewicht des Fahrzeugs mit den sterblichen Überresten von Cornelius Deller angerichtet hatte. Max selbst haftete der Anblick noch im Gedächtnis, denn er hatte den Wagen nach dem ersten Fall auf Cornelius Dellers Leiche erneut hochgezogen, bevor er ihn wieder, aus größerer Höhe diesmal, auf den Toten fallen ließ. Nur auf diese Weise, so hatte es sich Max dank seiner Lektüre von »Der kleine Mordratgeber« gedacht, zerstörte er die Spuren seiner Stichattacke nachhaltig. Kein noch so gewiefter Pathologe fände Schnittspuren in einem derartig deformierten Leib. Selbst ohne den Motor reichte das Gewicht des Kadett aus, um Deller bis zur Unkenntlichkeit ... Max Heiliger beendete den Gedanken rechtzeitig, bevor sich die Bilder im Geiste manifestierten. Jetzt mussten die Polizisten um den Toten herumstehen, fassungslos vielleicht, das Fehlen von Spuren verdammen. Selbstverständlich hatten sich Fußspuren vollkommen verflüchtigt. Einer übergab sich vielleicht, seitlich des Tatorts natürlich, gerade so weit davon entfernt, wie er es mit seinem rebellierenden Magen noch schaffte. Dieser konnte auf die weiteren Spuren stoßen. Oder ein anderer Beamter, der sich fragte, was Cornelius Deller wohl an diesem Ort gesucht hatte, entdeckte eines der Verstecke unter dem Morast. Es spielte keine wirkliche Rolle, wie sie es fanden. Hauptsache war, es stützte die Theorie eines Unfalls. Aus dem ersten Versteck der Kupferteile ergaben sich weitere. Ein Hehler war bei seiner Arbeit ums Leben gekommen, würde das Fazit letztlich lauten. Cornelius Deller, so hatte Max sich seine eigene Theorie gebaut, hatte sich in das Führerhaus des Krans gesetzt und den Kadett in die Höhe gezogen. Zur Kontrolle seiner Bestände war er an die Falltür herangetreten. Ein Materialfehler in der Winde des alten Krans und ein Ausfall der Lastenbremse hatten für den Sturz des Kadett gesorgt. Den Schlüssel für den Anlasser hatte Max stecken lassen. Der Motor tuckerte, so war es beabsichtigt, die restliche Nacht vor sich. Entweder bis der Treibstoff zur Neige gegangen war. Oder bis ihn jemand am Morgen abgestellt hatte. Deller war – die Beamten mussten einfach zu dem Schluss gelangen, betete Max Heiliger inständig – sofort verstorben. Max hatte Dellers Kopf gesehen und hoffte, dass seine Theorie mindestens in diesem Bereich stimmte. Der selbsternannte Auftragsmörder, wie es in Max' Hinterkopf spöttelte, hatte es nämlich vermissen lassen, sich nach dem Stich in Cornelius Dellers Brust von dessen Tod zu überzeugen. Viele Handgriffe, so überlegt im Vorfeld und aus der beruflichen Vergangenheit ins Bewusstsein gezerrt, waren während des Tathergangs in ziemlicher Überstürzung erfolgt. Einzig hatte Max zu jedem Zeitpunkt darauf geachtet, keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.

»Was geschieht denn?« Resignation unterstrich Emilies Worte.

»Sie haben offenbar was gefunden«, entgegnete Max mühselig, um jede Silbe ringend.

»Was ist? Was hast du?«, fragte sie besorgt und suchte seine Brust mit der freien Hand. Diese senkte und hob sich unter ihrer Berührung in einem panikartigen Stakkato. Ihr Max japste nach Luft. »Max? Sprich mit mir? Geht es dir nicht gut? Brauchst du Hilfe? Du atmest so ...«

Er lehnte sich gegen sie, gerade so sehr, wie er ihre Kraft einschätzte und sie ihn zu halten vermochte, schwang den Stock unter seine Achsel, wo er ihn einklemmte. Max legte seine Hand, noch verkrampft von der Umklammerung des Spazierstockes, auf die ihre, ganz bei sich in diesem glücklichen Moment, den ihm niemand mehr nehmen konnte, ganz gleich was noch geschah. »Es ist gut, mein Herz. Es ist gut. Es war nur für einen Moment – jetzt geht's wieder. Es geht wieder.«

D wie »Das erste Mal«. Siehe auch N wie Nachschock. Der erste Auftrag. Der erste Arbeitstag. Der erste Mord. Der erste Tote. Die Auflistungen im Buch waren vom Obersten mit einer charmanten Unaufdringlichkeit aufgeführt. Rational. Spartanisch. Dennoch überzeugend. Das erste Mal. Wenn die Erkenntnis bei einem gewöhnlichen Menschen reifte, einem solchen, der nicht über soziopathische Züge verfügte – S wie Soziopath, siehe auch Seite 603 – wenn man dem eigenen Spiegelbild die bittere Klarheit im Gesicht ablas, getötet zu haben, einem Akt, der wie nur wenige auf Erden, unumkehrbar war, dann brach für den normalen Menschen – den einzigen Begriff, für den Utz Entle eine klare Definition schuldig blieb – eine Welt, bei jedem Charakter in unterschiedlicher Größenordnung, mehr oder minder laut zusammen. In Max Heiliger lösten sich aus dem Schuttberg seines kleinen Universums immer noch Brocken und polterten, Staub aufwirbelnd, einen steilen, viel zu hohen Hang hinab. Du hast getötet. Dieser anklagende kleine Satz wehte auf dem Gipfel aller moralischen Reste als Schriftzug auf einem ausgeblichenen und im langjährigen Sturm zerfetzten Fähnchen tapfer und aufmüpfig, versagte aber vor den Erdbeben und Orkanen von Max' Missgunst, die am Ende aller Gedanken und widriger Gefühle mit unfassbarer Wut alles beiseite fegte und nur vor seiner Liebe zu Emilie die Flaggen streckte. Ich werde töten. Das war ein Satz, von dem es noch ein Zurück gab, der auch eine Spinnerei, eine dunkle, sein konnte, im Alkoholdunst gestrickt, nicht gemauert, jederzeit zu zerreißen. Du hast getötet. Die Anklage kam von außen, vom System, den erlernten Werten, die das Verteidigen des eigenen Umfelds nur im Rahmen von Gesetzen und einer der Zivilisation gemäßen Antwort erlaubte. Eine Antwort, die Max Heiliger nicht mehr schmeckte, weil sie ein fades Verkriechen, Zurückweichen, ja, eine feige Flucht war, die einen hinter die Barrikaden trieb, anstatt auf sie, wo einer doch sein sollte, wenn er für sich und seine Lieben stritt. Nicht mit dem Schicksal hadern ... »Bei den Eiern packen!« Max hörte seinen Schwager Joseph im Geiste sprechen, und ganz zwanglos und nur minimal widerwillig gab er ihm Recht. Das Schicksal bei den Eiern packen, dachte Max. Das werde ich. Ich habe getötet. So lautete die nächste Feststellung. Es folgte keine Begründung. Die brauchte Max Heiliger nicht. Nicht mehr. Er nahm die Tatsache an, nicht aufs Gewissen, sondern packte sie obenauf, auf alles Erlernte, Befohlene, Verordnete, dippte sie in das zuerst verdutzte und folgend ängstliche Gesicht von Cornelius Deller, das in Gedanken das Blickfeld ausfüllte, als die Spitze des Stockes in die Brust des anderen eingedrungen war und sogleich trieb das Bild auseinander wie eine Wasserfläche, in die ein winziger Tropfen gefallen war.

Eine falsche Bewegung und sein Stock fiel auf den Boden. Max drehte sich gefühlvoll aus Emilies Griff, entschuldigte sich, hielt an ihrer Hand fest, da er sich bückte und die Gehhilfe aufhob. In der Menschenmenge auftauchend, in Kopfhöhe, in deutlicher Kühle außerhalb der Leiber, die eine sonderbare Wärme abstrahlten, vertraut und unwirklich zugleich, bemerkte Max einen Polizisten, der das Schrottplatzgelände verließ und sich um Haltung bemüht neben einen Kollegen stellte. Einige merkwürdige Flecken auf der Uniform bestätigten Max' Überlegungen. Wenn es kein Matsch war, der sich dort abzeichnete, musste sich der Beamte übergeben haben. Dieser sprach zu dem anderen Mann, der ungerührt die Kamera auf den Kollegen richtete und das Malheur dokumentierte. Daraufhin machte er einen eleganten Schwenk über die Schaulustigen und blieb mit dem Objektiv auf Max hängen.

Max Heiliger lächelte ein heiteres, offenes Lächeln, geradewegs in die Kamera, herzte seine Emilie, sagte ihr, sie gingen nun. Zum Laden, wie sie es wollte. »Bitte«, sagte er, »dürfen wir vorbei?« Und die Leute machten den Alten Platz, denn das Paar sah so erbarmungswürdig aus. Hätte Max Heiliger diesen Eindruck erahnt, wäre ihm das Lächeln im Halse stecken geblieben. So aber dauerte es zwei Blocks, bis zum Laden mit dem wunderbaren Namen Reinoldus–Haus, in dem Bedürftige einkauften, in einer zweigeteilten Passage, Lebensmittel und Kühlraum in der einen Hälfte, vornehmlich Kleidungsstücke in der anderen Hälfte. Die nächste halbe Stunde verwendete Max darauf, seine Emilie in Kleiderfragen zu beraten und ihre Farben in den getragenen Stoffen zu finden. Lila und kräftiges Blau waren ihre Lieblinge. Für den nahenden Winter waren nicht viele Kleidungsstücke in ihrer Größe zu finden. Ihren farblichen Vorlieben konnte er nicht nachkommen. Karos fanden sich, das schreckliche Beige, ein mysteriöses Braun, viel Einfallsloses, eben Aussortiertes. Er beschrieb ihr die Kleidung, auch die Farben wahrheitsgemäß, ehe sie sich für eine Jacke und einen Mantel entschied, für die sie gespart hatte. Gleich auf dem Heimweg trug sie freudig die Jacke, er hatte den Mantel in einer Tüte für sie zu transportieren. Er tat es gern, so lange sie sich freute, und beide nahmen nicht so recht Notiz davon, zu Fuß bis in ihre Straße gegangen zu sein, bis Max ihre Haustür in hundert Schritt Entfernung erspähte. Und dort, davor wartend wie schon etliche Male zuvor, Joseph Mistel, Emilies Bruder, zuweilen aus seiner Zeit als Rausschmeißer im Rotlichtmilieu auch Jupp gerufen, die Daumen irgendwo weit unter dem riesigen Bauch in der Gürtelschnalle eingehakt. Max stoppte. Zerberus' Sohn, dachte er. »Wir gehen noch einen Kaffee trinken«, sagte er zu Emilie, weil er die Peinlichkeit, vielmehr seine eigene, irgendwie zu überwinden suchte, und der Aufenthalt in einem Café, eine gemütliche weitere halbe Stunde, eine Abwechslung sein würde. »Gehen wir einen Kaffee trinken«, sagte er noch liebevoller. »Und Kuchen essen.«

»Max?!«, empörte sie sich. »Das ist zu viel.« Im Geist rechnete sie, was es kostete, wenn sie tatsächlich in einem Kaffeehaus echten Bohnenkaffee tranken und Kuchen dazu aßen.

»Nein, ist es nicht. Heute nicht.« Er hatte eigentlich vorgehabt, sie mit einer gewissen Verve herumzubugsieren, aber sie hatten viel zu lange nicht mehr getanzt, so geriet der Schwung auf dem Ballen ungelenk und seine Führung außer Kontrolle, so dass er sie fast aus den Händen verlor und sie bedenklich nahe an den Bordstein wankte. Prustend vor plötzlicher Anstrengung fing er sie rechtzeitig auf.

Joseph hatte einen Zeigefinger in seiner linken Ohrmuschel versenkt, bohrte mit viel Finesse darin und vergaß darüber, weshalb er sich vor dem Haus, in dem seine Schwester wohnte, aufgebaut hatte. In dem Moment, in dem Max und Emilie um die Ecke außer Sicht entflohen, war Joseph der Faszination seiner breiten Boxernase erlegen, gab es aber bald auf, denn sie bot, weil drei Mal gebrochen und in jeweils unterschiedliche Richtungen getrieben, seinem Finger am Rand der verknöchert gezackten Nasenscheidewand nicht ausreichend Platz. Während die Heiligers im Café saßen, sich an frühere Zeiten erinnerten und Emilie kaum wusste, wie ihr geschah, jeder von ihnen nach der Tasse Kaffee noch eine heiße Schokolade zum Apfelstrudel trank, gab es Joseph endlich auf und trollte sich in die Kälte der aufziehenden Nacht.

Der kleine Mordratgeber

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