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Kapitel 3: Der liebe Herr Ganter

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»Was heißt, du hast das Geld nicht?« Max trug seine Gefühle offen zur Schau. Er hatte auf dieses Geld gehofft, es gewollt, ja, verdammt, er hatte es verdient. »Du sagst mir, dass du das Geld nicht hast?!«

»Ich hab's nicht«, gestand Maria Deller wieder. Zum fünften Mal? Zum sechsten?

Max Heiliger hatte es nicht gezählt, wusste aber sehr wohl, dass seine Frage durch das hohe Treppenhaus hallen musste, den Treffpunkt, von Maria Deller selbst gewählt, um ihn so – Max konnte es nur vermuten – von Dummheiten abzuhalten. »Du sagst mir, dass du nicht nur nicht die vereinbarte Summe vollständig hast. Du hast erst recht nicht das Doppelte?« Er hielt inne, einen kalten Blick auf Maria Dellers Geierfratze gerichtet. Sie hatte ihr Wintercape übergezogen und stand ein paar Stufen über ihm. So wie er sich von ihrem Auftreten bedroht fühlte, wie sie so gemein und siegessicher auf ihn herab blickte, konnte er nicht anders, als den nächsten Satz abzufeuern. »Du sagst einem Mörder, dass du ihn nicht bezahlen willst?«, zischte Max in wohl dosierter Lautstärke, die so eben bis zu seiner Auftraggeberin reichte.

Das Treffen fand am helllichten Tag in einem Mietshaus statt, wie es sie in ihrer Gegend noch zuhauf in Keysaburg gab. Vor dem ersten Weltkrieg erbaut, von den Bombardements verschont, da das Kleinstädtchen im Teufelsdreieck von Dortmund, Bochum und Hagen übersehen worden war, waren die Häuser dennoch mehr Abrissgebäude als wirklicher Wohnraum. Heute waren kaum Alteingesessene, ganz bestimmt keine jungen Menschen in ihnen zu finden. Max und seine Emilie hielten in einem der besseren Häuser die Stellung, kriegerisch gesprochen, weil Ratten sich neue Territorien eroberten, und diese wiederum von Wanderarbeitern vertrieben wurden, die eine Saison dort hausten, nicht einzogen und nach wenigen Monaten wieder verschwunden waren. Maria Dellers Haus, in dem sie nach eigener angeberischer Aussage nicht allein wohnte, das ihr nämlich auch gehören sollte, hatte von außen den Anschein, als stehe die Abrissbirne schon bereit, sei im Schwung begriffen, der zerstörerische Aufschlag einzig eine Frage von Sekundenbruchteilen. Jeder Schritt brachte ein Knarren und Knarzen, ein Bröckeln und Rascheln. Die kahle Glühbirne im Treppenhaus knisterte fröhlich bedrohlich. Auf dem Treppengeländer, aus Holz und schön gedrechselt, blätterte seit Jahrzehnten der Lack ab. Im diffusen Licht der ungeputzten Scheiben, dem milchigen Glanz, mit diesen Strahlen, die auch so unheilvoll durch Kirchenfenster schienen, waren Max frühzeitig die Risse im spröden Holz des Geländers aufgefallen, harte Kerben, die sich bis in den Sockel zogen, ein ausgetrockneter Blitz, der auf den rechten Moment der Explosion wartete.

»Ich bezahl dich nicht.« Der Nachdruck in Maria Dellers Stimme hätte nicht sein müssen. Sie wartete ab. »Ich hab mich abgesichert«, sagte Maria Deller, als Max nicht reagierte und sie nur anstarrte. »Wenn mir was passiert.« Sie ließ das Ende des Satzes offen.

Wäre sie herzlicher gewesen, Max hätte es verstanden, hätte sich bemüht, es zu verstehen. Ihre Absicherung? Ein Brief vielleicht? Oder ein Bluff? So provozierte sie Widerstand. Eine Machtprobe stand bevor. In Max' Berufsleben als Lastwagenfahrer, später als Nachtwächter in Fabrikanlagen und Hausmeister in Wohnanlagen, waren ihm die verschiedensten Werkstoffe begegnet. Holz, alle Zeit so lebendig, beeindruckte ihn. Er kannte es aus seiner Zeit in einem Großhandel, wo er Bauhölzer abgeholt und zu Baustellen gefahren hatte. Max Heiliger sah die Kerben, erkannte die Schwachstellen, sah, wo ein Tritt genügte, um ein Segment von wenigstens einem Meter Länge aus dem Geländer zu brechen. Dort, wo Maria Deller stand. Er dachte, wie es aussähe, fiele sie die zwei Stockwerke ins Treppenhaus hinab, auf die schwarzweißen Fliesen im Eingangsbereich. Ein Bluff? Wer würde ihr glauben, wenn es keiner war? Es gab keine Beweise, keine Aufzeichnungen. Max war instinktiv bereit, das Risiko einzugehen. Er hörte den Knall ihres Aufschlags mitleidslos im gedanklichen Ohr und spürte die aufkeimende Befriedigung über die Tat, die ihm zwar kein Geld, aber immerhin Genugtuung verschaffte ...

»Ich hab einen neuen Auftrag für dich«, sagte Maria Deller in die Stille des Augenblicks.

I wie Impulsivität. Impulsivität, dozierte Utz Entle sehr ernsthaft, ist der Tod eines guten Plans. Wer impulsiv handelt, begeht Fehler, ist ganz einfach dumm. Wer sich von Impulsivität übermannen lässt – die keinesfalls gleichzusetzen ist mit einem kreativen Impuls, der den menschlichen Genius beweist – wird über kurz oder lang gefasst werden. Und geschieht dies nicht, ist dies nur unverschämtem Glück zu verdanken. In den seltensten Fällen wird ein Mörder auf Dauer mit dieser bequemen und dummen Vorgehensweise davonkommen. Wenn Sie, lieber Leser, so hatte es der Oberst geschrieben, einen Anflug der Impulsivität spüren, ihre Gefühle Sie zu übermannen drohen, bremsen Sie sich schnellstens. Eine bewährte Technik: halten Sie den Atem an! Konzentrieren Sie sich genau auf diesen Vorgang. Halten Sie den Atem an. So lange Sie es vermögen. Bis Sie rot anlaufen, falls notwendig.

Max Heiliger hielt die Luft an. Er hörte Maria Dellers Stimme wie durch Watte. Auftrag? Noch ein Auftrag? Von ihr? Sie zahlte den ersten schon nicht und hatte nun einen weiteren Auftrag, für den ebenfalls kein Geld zur Verfügung stand? Max' Gesicht färbte sich rot. Nach lediglich dreißig Sekunden schnappte er nach Luft. »Ich werde dich nicht töten«, hauchte er, und es war ihm gleichgültig, ob sie es verstand oder nicht.

Die Frau schlug das Wintercape zur Seite und senkte sich mit theatralischem Talent auf die Stufen vor Max hin, verschwieg ihm aber, wie beschwerlich es für sie war, halb gebückt auf ihn herabzublicken. Die Stufe gab unter ihrem Mindergewicht hörbar nach. Ihre Gesichter waren nun auf gleicher Höhe. »Das habe ich auch nie gedacht«, flüsterte sie. »Wir stehen auf derselben Seite. Ob dir das passt oder nicht. Ich hab dir den Auftrag gegeben. Du hast ihn ausgeführt. Gut übrigens.«

Max nickte bloß. Ihr Lob galt ihm nichts.

»Ich werde zahlen«, sagte sie, mürrisch über die eigene Feststellung, »wenn ich kann. Wenn ich noch mehr Mieter gefunden habe. Weißt du, wie schwer es ist, gute Mieter zu finden?« War da ein Schaudern auf ihrem Gesicht? »Zahlende Mieter«, fügte sie schnell an. »Zahlende Mieter. Von der anderen Sorte habe ich genug.«

»Weißt du, wie schwer es ist, einen guten Auftrag, einen zahlenden Auftraggeber zu finden?« Das verschmitzte Lächeln rutschte ihm einfach so raus.

»Deshalb hab ich Auftraggeber, die zahlen können«, erwiderte Maria Deller schelmisch. Der Humor fand keinen Weg in ihre Augen.

»Auftraggeber? Mehrzahl?«

»Mehrere, ja. Aber nur ein Auftrag. Und weil's so ein guter ist, will ich Provision.« Selbstzufrieden suchte sie eine größere Nähe, fast Nasenspitze an Nasenspitze, mit einer Vertrautheit, die Max abstieß, bis es ihm dämmerte, Maria Deller wolle ihn nicht etwa küssen – eine grausige Vorstellung – sondern nur sein Gesicht sehen. Ohne Brille, die sie sich nicht leisten konnte, war seine Mimik nach spätestens einem halben Meter Entfernung ein verwaschener Fleck. Sie hatte ihn da draußen vor dem Schrottplatz in der gaffenden Menge überhaupt nicht gesehen. Ihr sich zu ihm hinwendendes Gesicht war eine rein zufällige Bewegung gewesen.

Unfreiwillig stockte Max der Atem. »Provision? Eine Vermittlungsgebühr?«

Ein Aufschlag für ihre Vermittlung, überlegte Max, mit dem Kopf schüttelnd in dem Moment, da er vor dem Altersheim stand, in dem sich einige betagte Menschen entschlossen hatten, ihr Leiden auf den letzten Metern zu verringern und einen boshaft sadistischen Pfleger um die Ecke bringen zu lassen. Ein Jugendfreund hatte Maria Deller seinen Ärger geklagt, wie der Tag im Heim mit Angst begann und endete, ein Alptraum, den sie selbst nicht beenden konnten, da das Böse mit Argusaugen und Kameras über sie wachte. Wer keine Angehörigen mehr besaß oder solche, die sich nicht blicken ließen, weit weg waren oder kein Interesse an den Alten hatten, war dem Heiner Fritzelshues auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Mit kleinen Zettelbotschaften, auf Klopapier notiert, die sich im Entdeckungsfall aufessen ließen, hatten sich sechs Männer und Frauen auf die Maßnahme verständigt, den Fritzelshues unter die Erde zu bringen. Doch nach dem freudig erregten Bejahen der Aktion – einstimmig, versteht sich, kindisch besprochen, versteht sich auch – haderten sie monatelang mit dem Wie. Wie sollten sie es denn machen?

»Sie wollten schon immer wissen, wie man's macht ... und wie man damit davon kommt?«, zitierte Max Heiliger den Werbespruch auf der Rückseite von »Der kleine Mordratgeber« leise und traute sich noch nicht durch den breiten, prachtvollen Eingang des Altenheims. Nichts von den Schilderungen der Deller gab ihm einen Anreiz, sich frühzeitig in die Vorhalle zu begeben, an die Anmeldung zu gehen und sich mit seinem Kontaktmann zu treffen. Max Heiliger gluckste im Stillen beim Wort Kontaktmann. Er hatte einen Kontaktmann!

Ehe er sich versah, stand er, seiner instinktiven Abneigung ungeachtet, unter dem gläsernen Säulengang des Heims, gerade vor der mit dunkelbraunem Holz gezimmerten Rezeption und einer jungen Dame mit einer Fantasieuniform, nicht ganz Krankenschwester, nicht ganz Soldat, die sich vom Hocker neben einer Plastikpflanze erhob, die nicht mehr getränkt, vielmehr gestaubwischt werden musste. Impulsivität hatte seine Schritte an das Pult gelenkt. Max Heiliger rümpfte die Nase. Es roch so sauber wie in einer Leichenhalle. Er hielt den Atem an. Zweiunddreißig perlweiße, polierte, mit Seide gereinigte Zähne glitzerten ihm mit der Gewalt einer Werbesendung entgegen. Die Haut sah so natürlich nacktbelassen wie ein Babypopo um die vollendet geformten Lippen herum aus. Eine schmale Nase mit dünnen Flügeln stieg zu einem leicht rauchgeschwärzten Augenpaar an. Ein Häubchen fehlt, dachte Max, mit den Blicken bei ihrem goldenen Blondschopf angekommen. Nicht bloß ihre zementierte Jugend bereitete ihm Kopfzerbrechen und Bauchschmerzen gleichermaßen. Nachdem er genügend Vergleiche zu den Science–Fiction–Filmen gezogen hatte, die ihm in den 70er Jahren untergekommen waren, des letzten Jahrhunderts wohlgemerkt, mit all jenen plastikähnlichen Gestalten in einer bunten Bonbonwelt, war ihm das Namensschild über der Gegend aufgefallen, hinter der sich ihr Herz befinden sollte, und sauer aufgestoßen. Fritzelshues. Stand darauf. Aber hatte Maria Deller nicht von einem Mann gesprochen? Einem Inbegriff von verzärtelter Grausamkeit, den sanft schlagenden Mopp in der einen, die Beruhigungsspritze in der anderen Hand. Und der Name? Lautete er nicht Heiner? War sie am Ende eine – Heinia? Nein, derart dämlich konnte er sich nicht verhört haben. Vermutlich hatte Maria Deller die Geschichte nur falsch überliefert. So musste es sein. Das gab Abzug in der Vermittlungsgebühr, entschied er scharfrichterlich.

»Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«

Mechanisch gegrüßt, nicht unsympathisch, wohl aber stützte sie seine These einer nie wahr gewordenen Plastikzukunft. »Ich suche«, zögerte er, sich schlicht am falschen Ort wähnend, »einen alten Freund. Der hier wohnt. Wohnen soll«, verbesserte er sich. »Den Ganter Jordan, Jordan Ganter, den suche ich. Aber ich glaube ...«

»Ja, der Herr Ganter«, sprang sie ihm mit einer furchtbar schönen Herzlichkeit ins Wort, die sich nicht als Heuchelei entlarven ließ. Sie war perfekt einstudiert und bis zu den Grübchen und kleinen Augenfältchen überaus ästhetisch gestaltet. »Der liebe Herr Ganter. Einer unserer Liebsten. Aber sicher, sicher, er hat sie angekündigt. Sie interessieren sich für unsere Heimstatt?« Das Schneeweiß in ihrem Gesicht erinnerte vor der mattierten Oberfläche ihrer makellos porierten Haut an ein Haifischgebiss. »Das hat er gesagt.«

»Hat er?«, fragte Max überrascht und fühlte die Faust im Körperinneren, die sich unerbittlich um seinen Magen schloss. »Nun«, sagte er.

E wie Eloquenz. F wie Floskeln. F wie Freundlich. H wie Harmlos. N wie Nett und Nettigkeit. Es war das Bild, das zählte. Sein und Schein. Der Schein blendete. So wie hier, fand es Max Heiliger bestätigt. Eine Fassade sollte indes, so zog Oberst a. D. Utz Entle ein häufiges Resümee, nicht als solche erkennbar sein. S wie Schauspiel. Ein schauspielerisches Talent ging einher mit Eloquenz, dem taktischen Gebrauch der Sprache. Gebärde verband sich mit Wortspiel, konstruierte eine andere Persönlichkeit, zur Tarnung, schwächer, stärker, ganz nach Bedarf, aufgrund von Training, nicht aus dem Handgelenk, aus Impulsivität heraus – »verboten, verboten, verboten«, der Oberst schrieb es in der Tat dreimal.

Noch hielt die Unsicherheit Max Heiliger einige Sekunden lang gefangen und beherrschte ihn. Du hast getötet! Die T–Laute im letzten, dem brutalen Wort spuckten hart über die Zunge. Die Anklage, der heimtückische Angriff des Gewissens aus dem Hinterhalt, in dieser Situation bewirkte das vom guten Heiliger erwünschte Gegenteil. Der böse Heiliger, der Macht erfahren hatte, der das Stöckchen wie ein Opale schwang, richtete sich auf, drückte das Kreuz heraus, hatte Rückgrat. »Hat er?«, fragte er wieder, und es klang nach einem anderen Menschen, der Max Heiliger ungemein gut gefiel, da er sich nichts gefallen ließ, keine Angst hatte und aus jeder Höhe auf andere Menschen herabsah. »Vielleicht«, meinte er weiterhin lockend. »Überzeugen Sie mich.« Aus Max sprach ein Charmeur, seine äußere Erscheinung mit den eingefallenen Wangen, den silbrig glänzenden Bartstoppeln, den, hingegen aller Erwartungen, sehr wachen Augen, erwartete eine Antwort auf die Aufforderung.

Fritzelshues reagierte mit offensichtlichem Erstaunen und einer kurz aufblitzenden Abneigung. Forsches Verhalten widersprach ihrem Bild von Alter und Untergebenheit, glaubte Max Heiliger. Er arbeitete noch an seiner Menschenkenntnis. »Können Sie meinen Freund ausrufen?«

»Er wartet auf Sie im Wintergarten«, gab sie zur Antwort, der eine roboterhafte Armbewegung nach links folgte, wo ein Schild auf den Wintergarten und noch mehr Glas hinwies und ein weiteres Schild den Aufdruck »Nur für Besucher« trug. »Bitte.«

Max Heiliger senkte das Kinn zum Dank, nickte nicht, denn Demut stand dem bösen Max nicht zu Gesicht, das Humpeln schon, mit einem energischen Schritt und dem teuflischen kleinen Klacken der Metallspitze auf die Bodenkacheln aus Terrakotta.

Jordan Ganter oder der Ganter Jordan, wie sie sich in ihrer Altersklasse gerne riefen, als sei der Nachname eine Art Markenzeichen, eine Abgrenzung zu anderen Vierteln, als diese noch eine tiefer gehende Bedeutung hatten, dieser Ganter erwartete Max tatsächlich im Wintergarten, ziemlich zentral auf einem Korbstuhl an einem Korbtisch, umringt von mehr glänzenden Plastikpflanzen und einer Schwüle, die nicht zu einer pflanzenlosen Umgebung passen wollte. Max brach der Schweiß aus. Er nahm gegenüber von Jordan Ganter auf einem Korbstuhl ohne Lehnen Platz. Aus dem Taxieren des jeweiligen Gegenübers ging Ganter als Verlierer hervor. Max nannte seinen Namen nicht. »Wäre ein anderer Ort nicht passender für ein Gespräch?«, fragte er stattdessen.

Ganters Finger tänzelten über die Tischplatte wie über eine unsichtbare Klaviatur, unmelodiös, unsicher.

Max beugte sich vor und hielt dem anderen Mann die Finger fest. »Keine Sorge«, sagte er.

»Wir reden nicht hier. Ich wollte sie nur sehen. Wissen, wie Sie aussehen. Ob Sie für den – ob Sie das können.« Jordan Ganter hatte einen ungewöhnlichen Wuchs. Unter einer Hausjacke zeichnete sich eine leichte Wölbung über der rechten Schulter ab, die eine Täuschung oder ein flacher Buckel sein konnte.

»Ja, ich kann«, sagte Max Heiliger mit fester Stimme.

Ganter schaute sich um. Sein Blick streifte an den beiden Überwachungskameras vorbei, die jeden Winkel des Wintergartens erfassten. »Ich habe, wir haben«, korrigierte er sofort, »wir haben Ihnen einen Brief geschrieben. Da steht alles drin.«

»Und wenn ich Fragen habe?« Max brauchte den anderen Mann nicht mehr festzuhalten. Dieser hatte sich inzwischen selbst im Griff.

»Finden Sie darin auch eine Telefonnummer. Die ist save«, sagte Ganter.

»Save?«

»Sicher. Sie ist sicher. Das hab ich noch von früher, da, wo ich gearbeitet hab, beim Engländer, privater Sicherheitsdienst, wissen Sie? Manches bleibt einfach hängen. Es hört keiner mit.« Ganter sah sich jetzt mit zwangloserem Gehabe um. Zu den Kameras, ganz besonders zu den Kameras.

»Übertreiben Sie's nicht«, befahl Max.

Jordan Ganter hörte damit auf, es zu übertreiben. »In dem Brief ist eine Beschreibung, ein Bild von – Sie haben sie schon gesehen, denke ich, aber zur Sicherheit haben wir ein Bild beigelegt, ein älteres wohl, einen Weihnachtsgruß von ihr – ja, ich bin still«, nuschelte er und fuhr beherrschter fort, »und«, Ganter legte eine bedeutungsschwere Pause ein, »eine Anzahlung. Der Rest bei ...«

»Lieferung.« Er klopfte seinem neuen Auftraggeber auf den Handrücken. »Dann haben wir alles«, lächelte Max Heiliger. »Vorerst. Jetzt sollten wir, wir haben ja noch Zeit, wir sollten noch etwas – Smalltalk machen, bevor wir auseinander gehen.«

»Smalltalk«, wiederholte Ganter amüsiert. »Gern.«

Max Heiliger blieb noch eine Stunde bei Jordan Ganter im Wintergarten und den falschen Pflanzen sitzen. Er genoss das Gespräch mit dem anderen alten Mann, in dem sich so viele gemeinsame Erinnerungen aus einer getrennten Vergangenheit fanden. Beide suchten nach dem Zeitpunkt, der sie aus der Geschichte entlassen hatte, das verhängnisvolle Jahr, den Monat, die Woche, den Tag oder sogar die Minute, als sie von allem und jedem überholt wurden und sie nicht mehr Schritt halten konnten mit der Welt. Oder wollten. Ganter nahm an, eine Woche in den 90ern trage die Schuld. Damals war seine Frau gestorben. Schnell. Nach einem banalen Treppensturz kam sie mit einem Oberschenkelhalsbruch ins Krankenhaus. Die Ärzte retteten das Bein. Unerwartete Keime, gegen die keine Verteidigung existierte, rafften sie binnen Tagen dahin. Ein Teil des Schadensersatzes, den das Krankenhaus nach einer malträtierenden Verhandlungsdauer vor Gericht zahlte, ein kläglicher Rest, der geblieben war, wie Jordan Ganter verschwieg, war Teil von Max Heiligers Entlohnung. Max suchte unterdessen nach seinem Wendepunkt, der sich einer Eingrenzung verweigerte, und am Ende schien es Max, als habe das Leben ein Komplott gegen ihn geschmiedet oder Gott und Teufel in einem ähnlichen Treffen wie dem ihren, als sie darum wetteten, wie viele Tritte es brauchte, um ihn umzuwerfen wie einen drittklassigen Kegel. Wenn ihr es schafft, komme ich zu euch, drohte Max Heiliger. »Da gab es einiges«, grummelte er mitleidig, »aber nicht so Schlimmes wie bei Ihnen.« Das war aus Selbstschutz gelogen. Max wollte weit zurückliegende Ereignisse nicht mehr ausgraben. Der Schmerz ließ sich nur verdrängen, nicht mit ihnen zusammen beerdigen, wie er einst gehofft hatte. Die Erinnerungen wurden zu intensiv.

Sie verabschiedeten sich.

Gebeugter als sonst schlenderte Max nach Hause, vor sich hin summend, ein alter Gassenhauer lag auf seinen Lippen, eine Analogie zum Pfeifen in der Dunkelheit. Ein schnell dichter werdendes Schneegestöber in diesem unwirklichen November verschluckte die Melodie erbarmungslos. Daheim, auf der Treppe in den dritten Stock, kündigte sich das Verhängnis mit einem penetranten Geruch an, billigem Aftershave, dessen Dunstwolke Max beinahe spürbar durchquerte, einen unsichtbaren Bannkreis, in dem er sich Schritt für Schritt auf die folgende Begegnung wappnete. Er schloss die Wohnungstür auf. Von drinnen erschallte das stets laute Organ von Joseph Mistel, Emilies Bruder, aus der Küche, eine Tournee von Schimpfereien, nur pausiert durch Schluckgeräusche, aus denen Max schloss, dass dort seine letzten Bierreserven, alkoholfrei des Alters wegen und kalorienreduziert, durch des Schwagers Schlund rannen. Die Begegnung ließ sich nicht vermeiden, und Max Heiliger sah, als er die Küche betrat, wie schlimm es wirklich um ihn stand. Auf dem Küchentisch lag nicht nur die Post des Tages, zwei Werbeschreiben und der Brief von Jordan Ganter, es präsentierten sich auch ein paar Küchenutensilien und andere elektrische fleißige Helfer für den Haushalt, die Max von der geringen Ausbeute seiner Arbeit für Maria Deller erstanden hatte.

»Der Krösus!«, rief Joseph schnorchelnd. Er schnaufte aus seiner dreimalig gebrochenen Nase und kapitulierte vor der Aufgabe gleichzeitig trinken und durch den Mund atmen zu wollen. Ein Bierfaden lief aus seinem Mundwinkel. Er wischte es mit dem Handrücken fort. »Was is'n das hier? Klaust du jetzt? Oder was?«

Max antwortete nicht, legte wie gewohnt seinen Schlüssel in ein Porzellanschälchen neben der Zimmertür, nutzte die Verzögerung, um nachzudenken und Ruhe zu sammeln.

»Stronzo!«, sagte Joseph in kaum verminderter Lautstärke, ein Schimpfwort in einer anderen Sprache, von dem er hoffte, seine Schwester verstehe es nicht, denn er wollte vor ihr etwas sauberer da stehen, vor allem wollte er seine Schwester sauber halten, die er für reiner als sich selbst hielt, beschützenswert. Und gerade das traute er Max Heiliger seit Jahrzehnten nicht zu. »Idiota!«, schallte es weitaus harmloser daraufhin, auch für Emilie zu verstehen. Josephs Schimpfwortsammlung aus seiner langen Zeit im Rotlichtmilieu war noch längst nicht ausgeschöpft, aber im Sinne der einzigen Verwandten, für die er je Zuneigung, Liebe gar, nicht selten auch Bewunderung empfunden hatte, wollte er auf die harten Geschütze verzichten.

Max nickte bloß, nahm auf dem dritten verbliebenen Stuhl vor Joseph und Emilie Platz, seufzte laut, ein weiteres Mal leiser, nachdrücklicher und holte so tief Luft, wie es die Lungen noch hergaben. »Was willst du, Jupp?«

»Was ich will?! Immer frag ich und hör dann, ich hab nix. Kein Geld übrig. Wir kommen so grad über die Runden, muss ich mir anhören. Und was seh ich? Neues Zeug! Toaster! Kaffeemaschine ...«

»Wir haben eine neue Kaffeemaschine?«, mischte sich Emilie völlig unerwartet in das Gespräch ein. Sie hielt sich ansonsten aus den Streitereien zwischen ihrem Mann und ihrem Bruder heraus.

Eine Kaffeemaschine, einen Toaster, einen Fön, ein Plastikgeschirr für vier Personen aus dem Ein–Euro–Laden, eine neue Brotdose, einen elektrischen Dosenöffner – kein Fragezeichen –, dachte Max. »Ja«, antwortete er kurz angebunden. Die Ausrede war da. »Ich hab im Lotto gewonnen. Nicht viel.« Sicherheitshalber hängte er die beiden Worte an. Sie nähmen Joseph den Wind rechtzeitig aus den Segeln.

»Ist für mich was übrig?«, fragte Joseph dreist, als er die leere Bierflasche auf den Tisch stellte. »Von dem Geld, mein ich.«

Also doch nicht. Max' gedankliches Fazit zog eine plötzliche Traurigkeit hinter sich her, einem Überfall aus dem Hinterhalt gleich. »Nein. Nicht genug jedenfalls. Ich hab was beiseite gelegt. Auf der Bank. Für uns beide hier. Nicht für dich«, verfügte er mit Richterstimme.

Joseph schwieg. Er ballte die Fäuste, froh darüber, dass seine Schwester die instinktive Gestik nicht sah. Dafür knirschte er hörbar mit den Zähnen. »Was soll ich da noch sagen?« Das Abschiedsritual fiel aus, wie so oft, zart gegenüber Emilie, mit einer sanften Umarmung aus der Hocke, einem Kuss auf die Wange, ruppig gegenüber Max, ruppiger als gewöhnlich, einem Fauststüber gegen die Schulter, schmerzhaft direkt auf den Knochen, gefletschte Zähne präsentierend und der leisen Drohung, man sei noch nicht fertig miteinander, gefolgt von einem geflüsterten: »Glaub’s mir!«

Letztere Worte vernahm Max nicht zum ersten Mal, doch scherten sie ihn heute so gering wie noch nie. Er hörte die Türe ins Schloss fallen.

Emilie saß unverändert auf ihrem Stuhl, kerzengerade aufgerichtet, die Ellenbogen angezogen, betende Hände im Schoß liegend. Eine Schluckbewegung verriet ihre Gemütslage, wankelmütig, mal zu dem einen, dann zum anderen Mann in ihrem Leben tendierend.

»Es ist für uns«, sagte Max, und das sagte alles. Es war das Mantra, das er sich noch im Dunkeln, viel später, wiederholte, am Küchentisch mit einer allerletzten Flasche Bier, die Joseph im Schrank unter der Spüle übersehen hatte. »Es ist für uns«, klang richtig, so huschte die Feststellung vorüber. Nicht für diesen Luden, dachte er. Ich mache das für uns. Ich nehme das für uns auf mich. Er variierte den Satz in seinem Kopf im Minutentakt. Vor dem Toaster mit der Edelstahloberfläche lag der Brief von Jordan Ganter. Darüber erkannte Max sein Spiegelbild. »Mörder«, raunte es ihm zu.

Der kleine Mordratgeber

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