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3. Auf Entdeckungstour.

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Als sie am nächsten Morgen aufwachten, war Jim zwar enttäuscht, weil ihr Haus noch stand, aber gleichzeitig auch aufgeregt, weil er sehen wollte, welchen Schaden der Blitz oben auf dem Hügel angerichtet hatte. Er konnte jetzt noch das zersplittern des Holzes hören, hatte den schwefeligen Geruch sengender Hitze in der Nase, auch wenn vieles davon seiner Einbildung entsprang. Das der Regen so schnell das Feuer löschte, war für ihn ein herber Rückschlag, doch so blieben am Ort des Geschehens zumindest die meisten Spuren der zerstörerischen Naturgewalt erhalten. Er war sich sicher, dass sie die Einzigen waren, die davon wussten. Es sei denn, seine Eltern hätten sich im Schlafzimmer aufgehalten, ebenfalls nach draußen gesehen und bemerkt, was gegenüber ihres Hauses vor sich ging. Henry, der einfach nur froh war, dass er noch am Leben war, fand es übertrieben, die Sache wie ein Staatsgeheimnis zu betrachten, und doch musste er Jim feierlich versprechen, niemand etwas davon zu erzählen. Beim Frühstück, es gab Marmeladenbrote mit Milch, versuchte Jim so unverfänglich wie möglich, auf das Unwetter zu sprechen zu kommen. Doch weder seine Mutter, noch sein Vater erwähnten den brennenden Baum. „Ich geh dann mit Henry ein bisschen nach draußen“, verkündete Jim. „Wollt ihr nicht warten bis der Regen aufgehört hat?“ Fragte seine Mutter verwundert, während sein Vater, wie fast immer am Morgen, vertieft in seiner Zeitung seinen Kaffee trank. „Wird uns schon nicht umbringen“, entgegnete Jim genervt. Er hasste es bemuttert zu werden und er hatte es ihr schon oft und deutlich genug zu verstehen gegeben. Das sie es immer noch tat, konnte für Jim nur zwei einfache Gründe haben. Entweder war sie strunzdumm, was er keinesfalls ausschloss, oder sie legte es bewusst darauf an, ihn zu provozieren. Nach reichlicher Überlegung, kam er zu dem Schluss, dass beides zutraf. „Ich kann euch aber nur einen Regenschirm mitgeben, den anderen braucht dein Vater“, setzte sie nach. Er wusste nicht warum, aber niemand schaffte es ihn so auf die Palme zu bringen, wie seine Mutter. „Regenschirme sind für Weicheier“, entgegnete er trotzig, worauf hin sein Vater kurz von seiner Zeitung aufsah, bevor er sich wieder stillschweigend darin vertiefte. „Wenn du schon keinen willst, dann gib ihn wenigstens Heinrich. Müssen ja nicht alle deine Einstellung vertreten“, fügte sie bissig hinzu. Wenn sie Krieg will, dann kann sie ihn haben, dachte sich Jim. „Tut er aber“, konterte er wütend und stand auf. „Aber du hast ja noch nicht mal aufgegessen!“ Rief sie ihm entgeistert hinterher, während Jim die Treppe zu seinem Zimmer hoch stapfte, um auf Henry zu warten. Der stopfte sich so schnell es ging sein Brot in den Mund, versuchte irgendwie gleichzeitig den Kaffee in sich hineinzukippen, wodurch er kräftig husten musste als er sich verschluckte und schaffte es gerade noch ein „danke fürs Frühstück“ herauszupressen, bevor er Jim mit hochrotem Kopf folgte. Henry war ein Harmoniemensch. Er mochte keinen Streit und das hauptsächlich, weil er nicht dazu fähig war, den damit einhergehenden Stress auszuhalten. Es brachte ihn komplett aus dem Konzept und führte in der Regel zu einer tiefen Verunsicherung. Wenn er mal richtig wütend war, dann überrollten ihn seine Gefühle mit einer solchen Wucht, dass er gleich gar nichts mehr sagen konnte. Er hätte es keine Minute mehr länger ertragen, die Spannung am Tisch auszuhalten und dann vielleicht auch noch, für die eine oder andere Position Partei ergreifen zu müssen. Jims Mutter schüttelte nur den Kopf, als sie ihm hinterher blickte. „Und du Hans, sagst wieder mal gar nichts dazu“, sagte sie mit entrüsteter, sorgenvoller Miene an Jims Vater gewandt. Der sah nur kurz von seiner Zeitung auf, schüttelte mit einen Ausdruck den Kopf, als wäre sie reif für die Männer mit den weißen Kitteln, um anschließend in aller Ruhe weiter zu lesen. Er hatte andere Probleme im Kopf, als Kinder im Regen. Logistik. Lagerverwaltung. Rückgehende Verkaufszahlen. Ein mickriges Gehalt und eine blonde Sekretärin, mit der er sich am Wochenende vergnügt, wenn er angeblich einen Fortbildungskurs besucht.

„Jetzt mach doch schon“, sagte Jim ungeduldig. Henry war noch keine hundert Meter gelaufen und hatte jetzt schon keine Lust mehr auf diese Erkundungstour. „Ich mach ja schon“, keuchte er und wirkte dabei mehr als nur angepisst. Jim drehte sich um und unterzog Henry einen prüfenden Blick. „Du wirst mir doch nicht ernsthaft erzählen wollen, du bist sauer wegen ein paar Tropfen Wasser.“ Henry wusste nicht was er sagen sollte. Der Regen sickerte ihm in seine Kleidung, die bereits unangenehm an der Haut klebte und durch seine verschmierte Brille, konnte er nur noch verschwommen sehen, auch wenn er sie ständig mit einem feuchten Taschentuch abwischte. „Ich mag das einfach nicht, das ist alles“, sagte er mit dem Blick eines trotzigen Kindes. Jim schüttelte nur den Kopf und lief weiter in Richtung des Hügels und Henry folgte ihm mit eingezogenem Kopf, als könnte er dadurch dem Regen entgehen. Vereinzelt entdeckte er abgeworfene Zweige und Blätter am Boden und in der Ferne sah er ein Weizenfeld, das für ihn aussah, als hätte ein verrückter Friseur ein neues Werk kreiert. Wenigstens ist es warm, tröstete sich Henry, als ihm Bedenken wegen seiner nassen Kleidung kamen, und hatte nicht zu Unrecht das seltsame Gefühl, Jim hätte seinen Gedankengang erraten. „Keine Angst, säuselte Jim, wenn du krank wirst, wird dich Mamilein schon wieder gesund pflegen. Kriegst dann `ne heiße Milch mit Honig und Zwieback, während du im Bettchen liegst und zum schlafen gehen singt sie dir ein Liedchen vor. Schlaf ein mein Prinz…“ Während Jim weiterlaufend ein albernes Lied zum Besten gab, das er sich gerade so ausdachte, fragte sich Henry ernsthaft und in ähnlicher Weise wie Jim es erst vor kurzem tat, weshalb er schon so lange mit ihm zusammen war. Glücklicherweise war der Hügel nicht allzu weit entfernt. Henry hatte ihn zwar immer schon zur Kenntnis genommen, wie ein unpassendes Monument aus Steinen, hineingeworfen in die Landschaft, aber im Gegensatz zu Jim, wäre er nie auf die Idee gekommen dort hinauf zu klettern, um ihn zu erkunden. Jetzt, wo er so auf ihn zuschritt, überkam ihm das eigenartige Gefühl etwas Falsches zu tun. Er war vielleicht an die acht Meter hoch und somit durchaus zu besteigen, aber das war es nicht, das ihn nervös machte. Irgendetwas ging von ihm aus, das Henry nicht gefiel. Etwas magisches, so wie bei Stonehenge. Eine Kultstätte in Salisbury in England, die angeblich aus der Steinzeit stammt. Nun, so alt schätzte er diesen Hügel nicht, aber wer weiß? Zumindest wirkte er so unpassend in dieser Landschaft, wie ein Maulwurfhaufen im Wohnzimmer und er fragte sich nicht das erste Mal, wie er eigentlich hier her kam. Das Eigenartige war nicht nur seine Ausstrahlung, sondern hinzukam, dass dort oben auf dem sandigen Untergrund so ein riesiger Baum wachsen konnte. Als würde er die Natur verspotten wollen, so wie es überhaupt der ganze Hügel tat, mit seiner seltsam ungeometrischen Form. Die Felsblöcke wirkten so schief ineinander gewürfelt, das einem schon fast die Augen wehtaten, wenn man zu lange hinsah. Als sie davor standen, konnte Henry ganz deutlich den zersplitterten Baum, oben auf dem Felsplateau erkennen. Nur den wuchtigen, breiten Stamm konnte er nicht sehen, da Felsblöcke den Blick verdeckten. So sehr Henry auch suchte, er konnte nirgends einen sicheren Weg entdecken, der zum Baum hinaufführte. Er sah nur große, moosbewachsene Felsen vor sich. „Und wie sollen wir da jetzt hochkommen?“ „Also“, überlegte Jim und grinste. „Wir können warten, bis jemand kommt und eine Seilbahn baut. Wir könnten ganz viele Luftballons aufpusten und uns daran festhalten, oder wir können jetzt einfach hochklettern.“ Jim wartete nicht auf eine Antwort und erklomm den ersten Felsen. Auch wenn es nichts im Vergleich zu einem richtigen Berg war, rutschte Henry doch ein paar Mal ungeschickt auf den moosigen Felsblöcken ab und fragte sich bereits nach wenigen Metern, wie er seiner Mutter seine schmutzige, und um sie auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen, gerade am Knie aufgerissene Hose erklären sollte. Hätte Jim ihm nicht tatkräftig geholfen, wäre er wahrscheinlich nie nach oben gelangt, (wo er eh nicht hin wollte) aber so ereichten sie dann doch, nach einem zähen Aufstieg, den höchsten Punkt des Hügels, mit seinem ebenen Felsplateau an dessen Ende, der große Eichenbaum direkt an einem Felsen stand, der wie der Finger Gottes senkrecht in den Himmel ragte. In einiger Entfernung sah Henry einen halbverkohlten Ast liegen, der wirkte, als hätte ihn jemand vom Baum gesprengt. Die Blätter waren größtenteils verbrannt, wie auch die an der Eiche. Als sie den Baum näher untersuchten, entdeckten sie seitlich eine Einkerbung, die wie abgefräst wirkte und von der Baumspitze bis zum Boden führte, wo der Blitz austrat. Jim war schwer beeindruckt. Doch schnell wurde seine Aufmerksamkeit auf einen, etwas mehr als einen Meter großen Felsblock gelenkt, der sich direkt neben dem Baum, an dem, wie eine Wand flach nach obenhin verlaufendem Felsen befand. Er war in der Mitte auseinander gebrochen und gab den Blick dadurch auf ein dahinter liegendes, dunkles, schwarzes, konturenloses Etwas preis. Das ungewöhnliche daran war, das dahinter eigentlich die Felswand sein sollte. „Was is´n da?“ Fragte Henry neugierig, während Jim durch den Spalt im Felsblock spähte und versuchte etwas zu erkennen. „Ich weiß nicht“, erwiderte Jim. „Sieht aus, wie ein dunkles Loch im Felsen.“ Als nächstes streckte er seinen Arm durch den Felsblock, der gerade so hindurchpasste, um zu schauen ob er irgendetwas dahinter erfühlen konnte. Doch da war nichts. Henry gefiel das gar nicht. Er hatte das Gefühl, das jeden Moment etwas nach Jims Hand greifen könnte, um ihn zu packen und nicht mehr loszulassen. Er hatte das Bild einer Muräne im Kopf. Eine Wasserschlange, die sich in Felsspalten verbirgt und im Dunkeln auf ihr Opfer lauert, um dann blitzschnell hervorzustoßen und mit seinen rasiermesserartigen Zähnen zu zubeißen. „Also das is ja eigenartig“, sagte Jim vor dem Stein kniend und fügte dann, von einem inneren Pioniergeist ergriffen hinzu, „aber das kriegen wir schon raus. Los pack mal mit an.“ Henry war gar nicht wohl bei dem Gedanken, die abgespaltene Hälfte des Felsblocks wegzuziehen, um herauszufinden was sich dahinter verbarg. Doch bevor er sich’s versah, zerrte er gemeinsam mit Jim, mit aller Kraft an dem wuchtigen Stein. Henrys Unwohlsein kam nicht nur von der Angst vor dem, was er dahinter erblicken würde. Sie mussten auch aufpassen, dass ihnen der schwere Steinblock nicht einfach auf die Füße fällt, sollte ihr vorhaben gelingen. Doch so sehr sie auch zogen, er bewegte sich keinen Millimeter. „Verfluchtes Drecksding“, schimpfte Jim und machte eine Pause. „Soviel kann der doch gar nicht wiegen“, fügte Henry nach Atem ringend hinzu. „Los, wir zählen bis drei, sagte Jim schließlich, und dann ziehen wir noch mal mit aller Kraft.“ Sie stellten sich in Position, zählten, zogen, und mit einem saugenden, schmatzenden Geräusch, gab der Stein schließlich nach, kippte nach hinten und auf die Seite. Dabei hatte es Henry nur seinen guten Reflexen zu verdanken, dass er ihm nicht wirklich auf den Fuß fiel. „Geschafft“, jubelte Jim und machte sich sofort daran das Loch zu untersuchen. Viel sehen konnte er nicht, nur das es wie eine Röhre schräg nach unten führte. Schließlich schauten sie beide hinunter, was auch nicht mehr brachte, denn so sehr sie sich auch anstrengten, es war zu einfach dunkel, um etwas zu erkennen. Henry gelang es nur mühsam, seine Fantasie im Zaum zu halten und auch Jim ging es nicht anders. Was immer auch dort unten war. Es schien zu ihnen herauf zu blicken… nach ihnen zu rufen… als wäre etwas nach langer Zeit aus einem düsteren Schlaf erwacht. Jim konnte es spüren und Henry ebenfalls, und obwohl es sehr warm war, bekam Henry eine Gänsehaut und Jim hatte das seltsame Gefühl, mit Lichtgeschwindigkeit durchs All zu rasen, an einen Ort, den noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat und den vielleicht auch niemals ein Mensch sehen sollte. Aber lange hielt das Gefühl bei Jim nicht an. „Hallo?“ Rief Henry nach unten. Jim schaute ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Hör mal Henry, der Stein liegt da bestimmt schon seit einer halben Ewigkeit. Glaubst du wirklich, dass dir jemand antwortet?“ Henry lächelte unsicher und kratzte sich am Kopf. „Ich weiß auch nicht, ich hatte nur plötzlich so ein komisches Gefühl.“ Jim auch, doch davon sagte er ihm nichts, denn dafür war die Vorlage einfach zu gut. Das konnte er sich nicht entgehen lassen. „Das kommt davon, begann er einleitend, wenn man sich von Mami so verwöhnen lässt. Weißt du, da bekommt man irgendwann so komische Gefühle.“ Dann tat er so, als ob er ernsthaft nachdenkt. „Hattest du eigentlich schon mal den Gedanken Papi aus dem Weg zu räumen, um Mami ganz für dich allein zu haben? Ich meine, machte dich das nicht eifersüchtig, wenn du in deinem Babybettchen lagst und daran denken musstest, wie er an ihrer Brust nuckelt, so wie du, bevor er sie rammelt wie ein wild gewordener Osterhase?“ Henry wurde knallrot im Gesicht. „Du bist`n Arsch.“ „Entschuldige, sagte Jim, ich wollte ja nicht deine zarten Gefühle verletzen.“ Henry stand auf, lief wortlos zu den Felsblöcken zurück und machte sich an den Abstieg. Es war eigentlich gar nicht seine Art so empfindlich zu reagieren und gerade das, alarmierte Jims innere Warnanlage. Ein Teil von ihm sagte ihm deutlich, das es besser wäre ihn in Ruhe zu lassen, aber er konnte ihn jetzt unmöglich einfach so gehen lassen, ohne sich den restlichen Tag schuldig zu fühlen. Mann, war doch nur Spaß!“ Rief er Henry hinterher, bevor er ihm folgte. Obwohl er ein paar Mal ungeschickt abrutschte, gelangte Henry doch relativ schnell nach unten, so dass Jim ihn erst einholte, als er bereits über die Wiese lief. „Warte doch mal“, rief er erneut und fasste ihn von hinten an die Schulter. Mit einer blitzartigen Bewegung drehte sich Henry um und stieß Jim so heftig von sich, dass er rückwärts ins Gras fiel. Er beugte sich über ihn und schnaufte wie ein tollwütiges Tier. Sein Blick war so voller Wut, dass Jim Angst bekam, und Jim hatte fast nie Angst. Henry war ein stilles Wasser, doch sein Staudamm war gerade explodiert und ergoss sich über Jim mit voller Wucht. Jim wusste nicht, ob es Regen war, oder Tränen in Henrys Augen, nur das er bereit wäre ihn zu töten, wenn er jetzt auch nur ein falsches Wort sagt. Sie kannten sich schon so lange, doch zum ersten Mal wurde Jim bewusst, das er eigentlich nichts über Henry wusste. Noch nie hatte er ihn so erlebt. Seine Augen waren wie eisiges Feuer und sein Gesicht so weiß wie gefrorener Schnee. Henrys Atem ging immer noch stoßweise und sein flackernder Blick wanderte unruhig hin und her, als er sich plötzlich umdrehte und einfach ging. Jim blickte ihm noch lange hinterher, bevor er langsam aufstand und nachhause lief.

In dieser Nacht konnte er kaum einschlafen. Zum einen wollte er die Höhle untersuchen, die er dort oben unterhalb der Röhre vermutete. Doch das wollte er nicht alleine tun. Und zum Anderen plagte ihn sein Gewissen wegen Henry. Das Zweite wog dabei mehr als alles andere, das er sich im Zusammenhang mit der Höhle ausmalte. Er war gemein zu ihm gewesen. Hat ihn in einer Art und Weise verletzt, wie er es kaum für möglich gehalten hätte. Dieser Blick, den Henry ihm zugeworfen hatte. Obwohl es überaus warm war, fröstelte es ihn. Henry war mit Abstand Jims bester Freund, doch alles was er heute in seinen Augen gelesen hatte, war ein abgrundtiefer Hass. Dabei wollte Jim eigentlich nur Spaß machen. Er konnte ja nicht wissen, auf welche Landmiene er da treten würde. Jim beschäftigte sich noch lange mit dem Gedanken und als er dann endlich in einen unruhigen Schlaf fiel, träumte er nur wirres Zeug. Bettlaken, die im Sommerwind flattern, aufgehängt an einer Wäscheleine. Schatten die sich dahinter bewegen. Ein Windspiel über einer alten Tür, mit silbernen Stangen die im Wind klimpern. Eine schwarze Katze die ihn vom Dach herunter anfaucht und wieder die Bettlacken im Wind, besprengt mir Blut. Dann sah er plötzlich Henrys Vater und seine Mutter, die stöhnend unter ihm aufschrie, während er schwitzend auf ihr lag, stoßweise sein Becken bewegte und seine Hände in die Bettdecke krallte. Und dann sah er Henry, wie er hinter dem Bett stand und weinte. Wie er fassungslos das Geschehen beobachtete, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet, bis er endlich unter Tränen hervorstammelte, er solle Mami nicht wehtun. Und wieder sah Jim die Bettlaken, wie sie im Wind flattern. Und als eine davon vom Wind umgeschlagen wurde, sah er Henry, der aussah wie ein Zombie und Jim mit großen Augen anstarrte, bevor er die herabhängenden Hände zu Fäusten ballte, den Mund öffnete und schrie.

Als Jim aufwachte, lag er schweißgebadet in seinem Bett und war total verstört. Ein Teil von ihm sagte sich, das es nur ein verrückter Traum gewesen war, - völlig bedeutungslos. Ein anderer, tiefer liegender Teil in ihm, erzählte ihm das Gegenteil. Er war nicht nur nahe dran, er hatte genau ins Schwarze getroffen. Wehalb sonst sollte Henry so abdrehen. Er hatte seinen wundesten Punkt entdeckt. Treffer. Versenkt. Henry. Stilles, tiefes Wasser. Ein Bettlaken im Wind. Blutrot, - und keiner wäscht es weiß.

Bereits am frühen Vormittag machte er sich auf den Weg. Er war noch nie so nervös, wie an diesem Tag, als er zu Henrys Haus lief. Er hat ja schon so manches mal etwas verbockt, doch diesmal hatte er seinen Wagen so tief in den Sand gesetzt, dass er beim besten Willen nicht wusste, wie er ihn wieder herausziehen soll. Er hatte Angst Henry zu verlieren. Bisher war es für ihn einfach immer völlig normal, das Henry für ihn da war. Wie ein Bruder. Ein Teil seiner Familie. Es wäre ihm auch nicht im Ansatz in den Sinn gekommen, dass es jemals anders sein könnte. Bis Heute. Als er an der Haustür klingelte, zitterte seine Hand. Es dauerte etwas, dann öffnete Henrys Mutter die Tür. Sie stand vor ihm, mit verschränkten Armen, wie eine ein Mann Armee. Jim schluckte. „Ist Henry da?“ „Tut mir leid“, sagte sie und musterte ihn von oben bis unten. „Ich fürchte, er ist für dich nicht zu sprechen.“ Jim hatte das Gefühl, als hätte ihn jemand mit voller Wucht in den Magen geschlagen. Er musste tief durchatmen bevor er wieder etwas sagen konnte. „Dann, stammelte er schließlich, möchte ich ihm wenigstens etwas da lassen.“ Er gab ihr einen länglichen Karton und ohne noch etwas Weiteres zu sagen, drehte er sich um und ging. Er konnte nichts mehr sagen. Sein Hals war wie zugeschnürt und sein Herz schien zu zerspringen und schon nach wenigen Metern musste er sich die Tränen aus dem Gesicht wischen, bevor er erneut tief durchatmete und in Richtung seines Hauses lief. Henry trat vom Fenster zurück und war total verwirrt. Er konnte einfach nicht glauben, was er gerade gesehen hatte. Sicher hatte er Jim schon einmal weinen gesehen, als er noch kleiner war, doch das war vor einer halben Ewigkeit. Das er es jetzt wieder tat und offensichtlich wegen ihm, war für Henry nicht nur überraschend, es war einfach unglaublich. Und doch konnte es nicht anders sein. Aufgeregt sprang er die Treppe nach unten, um seine Mutter nach dem Paket zu fragen. „Ach das… das liegt im Flur“, sagte sie und man merkte, dass es ihr gar nicht gefiel, das Henry davon wusste. „Und wann hattest du vor es mir zu geben?“ Fragte Henry und erwartete keine Antwort. Stattdessen nahm er sich das Paket und ging damit auf sein Zimmer. Seine Aufregung steigerte sich ins unermessliche, als er es vorsichtig öffnete, und als er schließlich den Deckel abgenommen hatte, saß er einfach nur wortlos da und starrte auf den Inhalt. Es war eine USA Flagge, eine Enterprise Zeichnung und die deutsche Spiderman Erstausgabe. Zusammengenommen war es Jims wertvollster Besitz. Er schenkte ihm buchstäblich alles was er besaß.

Henry rannte nach unten, an seiner staunenden Mutter vorbei und aus dem Haus. Er fand Jim unterwegs, auf einem Stein neben der Straße sitzend. Seinen Kopf hatte er in seine verschränkten Arme vergraben. Als er jemand kommen hörte und sah, dass es Henry war, wischte er sich schnell die Tränen aus dem Gesicht. „Mann, das kannst du mir doch nicht schenken“, sagte Henry, kaum das er bei ihm war. „Mach ich aber“, sagte Jim. „Aber das kann ich echt nicht annehmen.“ „Na dann lass es doch“, sagte Jim, und schon wieder liefen ihm Tränen über die Wange. Er legte sein Gesicht in seine verschränkten Arme und schluchzte vor sich hin. „Muss es doch wieder gut machen…ist alles was ich habe…vielleicht finde ich ja noch was anderes…“ Die Sätze kamen so bruchstückhaft aus Jim, wie Wasser aus einem hin und her kippenden Eimer. „Mann, du verstehst aber auch alles falsch. Ich meine es ist zu wertvoll. Ich weiß doch wie sehr du daran hängst. Aber allein, dass du mir das alles schenken wolltest, zeigt mir, wie viel dir an meiner Freundschaft liegt und das bedeutet mir eine Menge. Auch wenn du manchmal eine echte Nervensäge bist. Also, hör auf das Gras zu bewässern und freu dich darüber, das wir wieder Freunde sind.“ „Echt?“ Fragte Jim überrascht und warf dabei Henry einen Blick zu, der selbst am Nordpol das Eis zum schmelzen bringen würde. So, dachte sich Henry, muss Jim mit fünf geschaut haben, als er sein erstes Spielzeug geschenkt bekam, und zwar vom Christkind höchstpersönlich, umringt von tausend Engeln. „Na was denkst du denn“, sagte Henry und musste einfach lachen. „Aber nur, wenn du nie wieder etwas dummes über meine Mutter sagst.“ „Versprochen“, sagte Jim und wischte sich seine Tränen ab. Die Art, mit der Jim ihm nur durch diese eine Geste erneut signalisierte, wie wichtig er für ihn war, ging Henry so nahe, das er eiligst beschloss das Thema zu wechseln. „Warst du eigentlich noch mal bei der Höhle?“ Fragte er, wobei ihm sofort wieder seine eigenartigen Gefühle durch den Kopf gingen, als er in das finstere Loch schaute, das in die Tiefe führte. „Nein, sagte Jim bedeutsam, das wollte ich mit dir zusammen tun.“ Henry wusste nicht warum, doch er fühlte in diesem Moment eine Zuneigung zu Jim, die tiefer ging als gewöhnliche Freundschaft. Er erinnerte sich daran, wie sie auf dem Dorfspielplatz Türme bauten. Damals waren sie noch nicht mal in der Schule. Während Jim Schwierigkeiten hatte, etwas halbwegs Brauchbares zu formen, nahm sein Turm bereits deutliche Konturen an und als sie fertig waren, war er fast doppelt so groß wie Jims. Henry machte sich darüber lustig und meinte, das Jims Soldaten, (die sie übrigens beide deutlich vor sich sahen) ja in seinem Turm übernachten könnten, bevor ihrer über sie Nachts zusammenstürzt, und als Jim seinen mickrigen Turm betrachtete, wurde er auf einmal ganz rot im Gesicht und starrte Henry wütend an. Dann trat er mit seinem Fuß nach Henrys Turm und als er einstürzte, fing er (Henry) sofort an zu heulen. Er erinnerte sich wie ihn seine Mutter aufgeregt wegtrug und versuchte zu beruhigen, wobei sie Jim vorwurfsvoll ansah. Wie er zu ihm zurückblickte und wie Jims Augen verrieten, wie sehr es ihm leid tat, als wüsste er selbst nicht, warum er das gerade getan hat. Wie traurig ihm Jim hinterher blickte, als seine Mutter ihn zum Auto trug und wie Henry sich nur noch eines wünschte, den Turm bereits vergessend, - diese traurigen Augen wieder fröhlich zu machen.

Sie verabredeten sich für den nächsten Tag, der laut Radio warm und sonnig werden sollte, um die Höhle, wie sie es nannten, zu untersuchen. Jim versprach zu diesem Anlass ein Seil zu organisieren und Henry sollte eine Taschenlampe mitbringen. Sie hätten sie auch liebend gern sofort untersucht, doch Henry hatte seiner Mutter bereits zugesagt, mit ihr seine Tante zu besuchen die in der Stadt wohnte und vor Abends würde er nicht nachhause kommen. Bewundernswerter Weise sagte Jim nichts dazu, obwohl ihm vieles dazu eingefallen wäre. Schließlich fragte er das, was auch Henry insgeheim durch den Kopf ging. „Meinst du dort gibt es Schätze?“ „Na ja, sagte Henry nachdenklich, also ich an deiner Stelle, würde mir da nicht allzu große Hoffnungen machen, aber immerhin können wir ja einen Nacht lang davon träumen.“

Als Jim zurücklief, war er sichtlich zufrieden mit sich und der Welt. Dennoch stieg in ihm zunehmend die Besorgnis, dass jemand vor ihnen die Höhle entdecken könnte. Er musste einfach noch einmal dort hin gehen und nach dem Rechten sehen. Als er das Felsplateau erklommen hatte, sah alles noch genau so aus, wie sie es verlassen hatten. Jim war beruhigt. Dann beschloss er, den abgebrochenen Ast des Baumes davor zu ziehen, um den Eingang besser zu verbergen, auch wenn er nicht sehr groß war. Aber vorher wollte er unbedingt noch eine Idee in die Tat umsetzen, die er die ganze Zeit schon hatte. Er holte sich einen kleinen Stein, den er gleich in der Nähe fand und ließ ihn den röhrenartigen, schmalen Eingang hinunterrollen. Er hörte, wie er für einen kurzen Moment über den sandsteinbeschichteten Untergrund rollte, bevor er lautlos in der Dunkelheit verschwand, um dann nach wenigen Sekunden auf einem sandigen Boden dumpf aufzuschlagen. Das war der Beweiß nach dem er suchte. Also wirklich, es war eine Höhle. Während er noch nach unten lauschte, überkam ihn wieder dieses eigenartige Gefühl, doch diesmal war es irgendwie anders. Es ging kein Wind. Kein Vogel der irgendwo von einem Baum zwitscherte. Kein Traktor, der weit entfernt sein Feld abfuhr. Es war einfach nur still, und diese Stille hatte etwas Unheimliches. Er fühlte sich plötzlich sehr allein hier oben. Schnell zog er den halb abgefackelten Ast davor und machte sich wieder an den Abstieg.

Er irrte durch die Dunkelheit, als suchte er nach einem Ausgang. Als würde er erwachen, nach einem langen Traum. Was ist nur mit ihm passiert? Er suchte nach Erinnerungen. Sah ein Knab ein Röslein stehen, Röslein auf der Heide, war so jung und morgenschön, lief er schnell es nah zu sehen… und dann… Dunkelheit. Schlaf. Aber da waren plötzlich Kinder. Er hatte sie gehört und da war auch ein Licht, wenn es auch von weit weg kam. Und der wilde Knabe brach, Röslein auf der Heide, Röslein wehrte sich und… aber dabei war er doch sein Freund und dann… den Kopf auf den Felsen gedrückt…Rösslein sprach ich steche dich, das du ewig denkst an mich… die Sonne die durch die Blätter funkelt… fast so wie kleine Diamanten… und dann der Stein… und wieder Dunkelheit. Half ihm doch kein Weh und ach, muss es eben leiden… und sein Name, wenn ihm doch nur sein Name wieder einfallen würde…Röslein, Röslein, Röslein rot…seine Mama, die ihn in den Schlaf singt…komisches Gefühl… Mami ganz für dich allein… Osterhase… Sah ein Knab ein Röslein stehen… zarte Gefühle verletzen… war so jung und morgenschön… sie werden wiederkommen und sie werden mich finden und auch mein Name wird mir wieder einfallen. Schlaf gut… schlaf gut… Alexander.

Schattenkind

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