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6. Geisterstunde.

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„Bist du wahnsinnig?“ „Jetzt beruhig dich doch mal.“ Jim wusste ja, dass es nicht ganz so einfach sein würde, es ihm zu erklären, aber Henry ging ab, wie eine Rakete die man zum Mond schießt. Er war so laut, das Jim befürchtete, Henry`s Mutter könnte nach oben auf sein Zimmer kommen, um nachzusehen was da los ist. „Einen Scheiß beruhig ich mich. Na klar, außer ein paar fette Spinnen war da nichts. Na ja, und das Skelett eines Kindes, aber das sieht man ja tagaus, tagein, wozu es also groß erwähnen. Nö, da lügen wir doch lieber dem besten Freund die Hucke voll.“ „Aber ich hab’s dir doch erklärt. Ich hatte Angst, das du zur Polizei gehen würdest.“ Henrys Stirn sah inzwischen aus, wie Wasser wenn es ein Kind zeichnet. „Das wäre ja wohl auch das Vernünftigste gewesen. Sag mal, hast du eigentlich schon mal daran gedacht, dass dieses Kind sich nicht zum Spaß dort unten reingelegt hat? Vielleicht hat es jemand umgebracht und rein geschmissen, oder es ist… jetzt kommt’s mir ja erst. Dieses scheinheilige Gelaber, das Kinder reinfallen könnten. Hattest du Angst, jemand könnte die Höhle finden und deine Ersatzteile klauen?“ Jim wollte etwas sagen, aber Henry schnitt ihm das Wort ab. „Wie auch immer. Wir bringen heute noch den Kopf zurück und melden es der Polizei und wenn du mich ganz lieb bittest, dann erzähl ich ihnen nichts von deiner morbiden Veranlagung, Totenköpfe zu sammeln.“ „Also, begann Jim und atmete tief durch, ich fürchte, so einfach ist das nicht.“ Er erzählte ihm von seinem nächtlichen Besucher und was er mit ihm erlebt hatte. Er erzählte ihm auch von seiner Theorie, sich mit irgendetwas in der Höhle infiziert zu haben. Von seinen Träumen erzählte er nichts, um Henry nicht noch mehr zu verwirren. Es klang auch so schon unglaublich genug. Nachdem Jim geendet hatte, war Henry sehr schweigsam und nachdenklich. Er kannte Jim zu lange, um zu glauben, dass er sich das nur ausgedacht hatte, um sich einen Spaß zu erlauben. Außerdem brauchte es schon einen triftigen Grund, dass Jim zu ihm kam und so eine Beichte ablegte. Das würde er bestimmt nicht tun, nur um einen billigen Witz los zu werden. Also was, wenn Jim sich wirklich etwas eingefangen hat? (Das war für ihn übrigens die wahrscheinlichste Erklärung. Er glaubte genauso wenig an Geister, wie an den Weihnachtsmann.) Könnte er ihn dann ruhigen Gewissens heute Nacht allein lassen? Womöglich irrt er noch nachts mit seinem Schlafanzug im Wald herum. Außerdem konnte er Jims Wahnvorstellung nur widerlegen, wenn er anwesend war, während für Jim sein angeblicher Geist wieder auftaucht. Nach reiflicher Überlegung sagte er schließlich zu, bei Jim zu übernachten. Jims Erleichterung und Freude war nicht gespielt.

Die Sonne war schon am untergehen, als Henry endlich bei Jim auftauchte. Henry blickte zum Hügel hinüber, der mitten in die Landschaft hineingeworfen, mehr den je auf ihn den Eindruck eines alten, mit groben, rauen Steinen geformten, pyramidenförmigen Grabes machte. Mit einem riesigen Grabstein an der Spitze. So in der Ferne, wirkte es auf Henry, wie ein Mahnmal vergangener Zeit, dessen Schatten durch die untergehende Sonne langsam in seine Richtung kroch. Er hatte ein seltsam unwirkliches Gefühl als er an der Tür klingelte. „Hy Henry.“ Jims strahlende Laune holte ihn schlagartig wieder in die Realität zurück. Jim hatte sich nachmittags etwas hingelegt, um für die Nacht fit zu sein und fühlte sich, ganz im Gegensatz zu Henry, frisch und ausgeruht. Böse Träume hatte er zum Glück keine. Genau genommen Träumte er gar nichts. (Zumindest konnte er sich an nichts erinnern.) „Hy, Jim, begrüßte ihn Henry und fügte leise hinzu, nachdem er sich vergewissert hatte, das Jims Eltern nicht in der Nähe waren, und, alles bereit für die Geisterstunde?“ „Der Dreizack ist vom Staub frei gewedelt, das Pentagramm frisch nachgezogen und die schwarzen Kerzen stehen in Reih und Glied. Nur die einäugige Katze hat sich irgendwo draußen verlaufen“, scherzte Jim. Nun, abgesehen von seinen nächtlichen Halluzinationen, schien Jims Gehirn noch erstaunlich gut zu funktionieren, stellte Henry mit freudiger Erleichterung fest. Kaum das sie auf seinem Zimmer waren, platzte es aus Jim heraus, „willst du ihn mal sehen?“ „Lieber nicht“, entgegnete Henry nachdenklich. „Denn falls du dich wirklich mit irgendetwas infiziert hast, was mit der Höhle zu tun hat, dann ist es besser, wir lassen ihn gut eingepackt. Ich meine, bis wir ihn zurückbringen, falls deine Geist, (und hier musste sich Henry verlegen räuspern) nicht mehr auftaucht.“ „Na wie auch immer, sagte Jim grinsend, spätestens heute Nacht werden wir es wissen und keine Angst mein Freund, (und hierbei legte er Henry theatralisch die Hand auf seine Schulter) denk immer daran; ich bin bei dir.“ In Jims momentaner Verfassung, wirkte das eher wie eine Drohung, als wie ein Trost, dennoch musste Henry schmunzeln, über Jims offensichtlichen Humor. Jim legte sein altes Rubber Soul Album auf, das seine Mutter vor ein paar Jahren in ihrer Beatles Manie gekauft hatte und unterhielt sich mit Henry über Gott und die Welt, wie sie es immer taten. Es dauerte nicht lange, und sie kamen wieder auf den Geist zu sprechen. Jim konnte richtig sehen, wie Dr. Dr. Professor Henry, sich geistige Notizen machte, während er sich seine Brille zurecht schob: Der Geist bewegte sich langsam, was auf einen trägen Geist des Patienten schließen lässt. Zudem konnte er nicht sprechen, was auf eine unbewusste Verdrängung hinweist. Mögliche Schuldgefühle, die der selbstkonstruierte Geist nicht ansprechen soll. Womöglich redet er mit ihm, wenn der Patient sich seinem pathologischen, destruktiven Verhalten stellt und sich im Laufe der Therapie öffnet. Der Wald, - ein weiteres Zeichen der Verdrängung, als Rückführung in ein kindliches Märchenverhalten, darf nur unter größter Vorsicht mit einbezogen werden, damit sich der Patient nicht vollends in seiner labilen, am Rande zur Schizophrenie befindlichen Psyche verliert. (Absatz) Erste Diagnose, mit Empfehlung zur weiteren ambulanten Beobachtung, Dr. Dr. Professor Henry. Jim amüsierte sich köstlich. Er machte sich sogar einen Spaß daraus so zu tun, als hätte er etwas gesehen was gar nicht da war, nur um Henry damit aufzuziehen, was Henry wiederum gar nicht komisch fand. Gegen zehn Uhr spielten sie Monopoly und ab halb zwölf, warteten sie eigentlich nur noch auf den Geist. Jim beharrte sicherheitshalber darauf, dass der Stuhl beim Schreibtisch frei bleibt, was Henry mit einem leichten Kopfschütteln quittierte. Ansonsten lasen sie Comics und blickten immer wieder zum Schreibtisch. Henry lag dabei auf dem Sofa und Jim saß auf seinem braunen Ledersessel daneben. Auch wenn Henry sein Bett auf dem Sofa bereits gemacht hatte, bat Jim ihn, sich keinen Schlafanzug anzuziehen, für den Fall, das sie heute Nacht noch spontan in den Wald müssten, was Henry nur mit einem müden zurechtrücken seiner Brille beantwortete. Henry hielt es gerade noch aus, bis zehn nach zwölf, dann schlief er ein. Auf einen Geist, der sich noch nicht mal an eine ordentliche Geisterstunde hält, und den es höchstwahrscheinlich nur in Jims Fantasie gab, wollte er nicht länger warten. Jim blieb wach, doch er wurde zunehmend nervöser. Er hatte fast genauso viel Angst davor, dass der Geist kommt, wie das er nicht kommt. Beim ersteren, würde sich entweder herausstellen das er was an der Murmel hat, weil er der einzige Mensch auf Gottes schönem Planeten ist der ihn sieht, oder aber, es würde sich herausstellen das der Geist echt ist und er würde sie wieder in den Wald führen wollen, und wer weiß, was sie dort erwartet. Von Geisterzombies, bis zum Tor zur Hölle, war für Jim alles dabei. Beim zweiten, hätte er keine Chance herauszufinden, ob der Geist nun echt war oder nicht und er müsste weiterhin mit der Ungewissheit seines Geisteszustandes leben. Auch wenn er sich ganz normal fühlte, - wer weiß, vielleicht ist das bei Verrückten ja so. Henry würde jedenfalls nicht jede Nacht bei ihm Wache schieben, nur um auf einen imaginären Geist zu warten. Er musste daran denken, wie traurig der Geist ausgesehen hatte, weil er nicht mitgehen wollte, oder besser gesagt, nicht konnte, und genau das war letztendlich der Grund, weshalb er wollte, das er wieder erschien. Er hatte nicht nur gesehen, dass der Geist traurig war, er hatte es gefühlt. Als wäre er auf einer seltsamen Weise mit ihm verbunden. Als wären sie eins. Diese tiefe Traurigkeit, doch nicht nur das, - ein darunter liegender Schmerz, der ihn wie ein glühendes Messer in die Seele traf, - das Gefühl, er wäre der Schlüssel zu einer Tür, die geöffnet werden musste, um Licht in ein dunkles Verlies zu bringen, in deren dunkelstem Eck jemand darauf wartet das er ihn befreit, - all das, stärkte von Minute zu Minute den Wunsch ihn zu sehen. Es war bereits kurz nach ein Uhr, als Jims Gefühlspegel ausschlug, wie die Nadel eines Seismographen und der Geisterjunge, sich wieder auf dem Stuhl neben dem Schreibtisch materialisierte. Jim war mit einem Schlag hellwach. Er beugte sich zu Henry hinüber und rüttelte ihn an der Schulter. „Was ist denn?“ „Wach auf Henry, er ist da!“ „Wer?“ Fragte Henry schlaftrunken. „Der Geist“, antwortete Jim aufgeregt. Henry tastete nach seiner Brille und setzte sie sich auf. Als er in Richtung des Schreibtisches blickte, war auch er schlagartig wach und nicht nur das; alles was er bis dahin geglaubt hatte, die schöne Ordnung seiner rationalen Welt, konnte er gerade getrost auf den Müll werfen. Es gibt Geister. Ein Blick genügte um daran keinen Zweifel mehr zu haben und der einzige Grund, weshalb er nicht in Panik geriet, war der, das Jim da war. „Er ist echt“, flüsterte Henry fassungslos. Der Geist schaute Jim an und es war, als würde man zwei Stromkabel verbinden. Jim konnte immer noch seine Traurigkeit spüren, doch darunter verborgen, spiegelte sich auch Jims sichtbare Freude ihn zu sehen. Jim wusste nicht was er sagen sollte, und so sagte er einfach das Erste das ihm einfiel. „Schön dich zu sehen.“ Es war das erste Mal, dass er den Jungen lächeln sah und sein leuchten wurde heller als die Sonne. Zumindest empfand es Jim so, bevor er wieder seine ursprüngliche Leuchtkraft annahm. Jim, der sich erst langsam wieder an das normale Licht gewöhnen musste, wartete etwas, dann stellte er ihm die aus seiner Sicht alles entscheidende Frage. „Willst du wieder mit mir in den Wald gehen?“ Der Geist nickte, doch dieses mal wirkte er dabei kein bisschen langsam. „Was willst du dort?“ Fragte er weiter. Der Geisterjunge schien zu überlegen, wie er das Jim, ohne die Fähigkeit zu reden vermitteln sollte, was Henry intuitiv erfasste. Selbst etwas von sich überrascht, übernahm er spontan die Initiative. „Kannst du schreiben?“ Der Geist nickte heftig. „Kannst du einen Stift halten?“ Jim wusste nicht was Henry vorhatte, doch das jemand so über sich hinauswachsen kann, wie Henry gerade, beeindruckte ihn. Der Geisterjunge schüttelte mit einem etwas verlegenen und traurigen Blick den Kopf. „Ich habe eine Idee“, begann Henry aufgeregt, der ausgelöst von seinem Geistesblitz in seiner Euphorie kaum noch zu bremsen war. „Jim, ich brauche einen fetten, schwarzen Stift.“ Jim ahnte worauf er hinaus wollte. Er ging zu seinem Schreibtisch, um einen Stift aus seiner Schublade zu holen und es war das erste Mal, dass er dem Geisterjungen so nahe kam. Es war, als ginge ein elektrisches Knistern von ihm aus, das direkt auf Jim überlief und seinen ganzen Körper durchströmte. Er reagierte auf Jim, wie ein Metallsuchgerät das auf Gold gestoßen ist und Jim wurde von einem Gefühl durchflutet, das überwältigend war. Er konnte sich kaum noch konzentrieren und selbst die einfache Suche nach dem Stift, schien ihn zu überfordern. Als er ihn endlich hatte und Henry reichte, war es ihm, als ob er neben sich stand und sich dabei zusah. Als er wieder zu sich kam, stand Henry bereits mit seinem Filsstift an der Wand und demonstrierte dem Geisterjungen seinen Plan. Ohne lange zu überlegen, malte er einen Buchstaben an die Wand und wandte sich dann an den Geist. „Siehst du? Wenn du dich neben mich stellst, und etwas langsam mit deinem Finger an die Wand schreibst, dann kann ich es mit dem Stift nachfahren und wir können es lesen.“ Der Geisterjunge schien sich darüber sehr zu freuen. Doch er stand nicht auf, um zu Henry zu laufen, was zu erwarten wäre, sondern stand wie aus dem Nichts, von einer Sekunde auf die andere neben ihm, mit dem Finger an der Wand. Henry lief ein eiskalter Schauer durch seinen Körper, auch wenn er versuchte es sich nicht anmerken zu lassen. „Ok“, sagte er langsam und schnaufte tief durch. „Was willst du im Wald?“ Der Junge überlegte kurz, als ob er sich erst wieder an das Schreiben erinnern müsste, dann legte er los. Henry folgte mit dem Stift seinem Finger, doch so sehr er sich auch bemühte, konnte er nicht verhindern, dass das Ergebnis recht verwackelt aussah. Doch wer konnte es ihm verdenken. Er fühlte sich, als wäre der Geist John F. Kennedys auferstanden, um mit seiner Hilfe, eine Botschaft an die Welt zu übermitteln. Als sie fertig waren, betrachteten sie aufgeregt die krakelige Schrift und was sie lasen, trug nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei. Dort standen nur zwei Worte. Müssen graben. „Na das ist ja prächtig“, grummelte Henry. „Und nach was müssen wir graben?“ Der Geisterjunge ging wieder näher an die Wand und Henry folgte erneut mit dem Stift seinem Finger, als er weiter schrieb. Das Nächste was sie lasen, trug eher noch mehr zu ihrer Verwirrung bei, als das es ihnen Aufklärung brachte. Eine Kette. „Wir sollen in den Wald gehen und eine Kette ausgraben?“ Der Geisterjunge nickte heftig. Die großen Augen mit denen er Henry dabei ansah, verrieten deutlich, wie aufgeregt er allein bei dem Gedanken daran war. Henry überlegte, wie er seine nächste Frage stellen sollte, während Jim sich immer mehr vorkam, als wäre er in einem Agatha Christie Roman. Die nächsten Worte die Henry herausbrachte, zeigten deutlich, das es manchmal nicht gut ist, wenn man zu lange überlegt. „Und zu was?“ Eigentlich meinte Henry, weshalb sie das tun sollten. Der Junge legte seinen Kopf leicht schräg nach hinten und kaute auf seiner Unterlippe, während er an Henry vorbei ins Leere blickte. Er wirkte dabei auf Jim, wie ein Vater, der gerade darüber nachdachte, wie er seinem begriffsstutzigen Kind mit zwei Worten die Bibel erklären soll, bevor er den Kopf schüttelte und wieder an die Wand ging. Während Henry und der Geisterjunge weiter schrieben, schoss es Jim so nebenbei durch den Kopf, dass er demnächst unbedingt ein paar Poster umhängen sollte, bevor seine Mutter das liest und ihn für einen angehenden Serienkiller hält. Die nächsten Worte die sie lasen, machten ihnen ganz eindeutig klar, dass die Fragestunde beendet war. Müssen uns beeilen. Henry schnaufte tief durch und sah Jim fragend an. Jim wusste genau was Henry durch den Kopf ging und es gab für ihn nur eine Antwort. „Gehen wir.“

Es ist gar nicht so leicht, sich unbemerkt aus dem Haus zu schleichen und in einen alten Holzschuppen um eine Schaufel zu holen, wenn man einen Geist dabei hat, der leuchtet wie ein Flutlicht im Fußballstadion. Jim hoffte inständig, dass seine Eltern tief und fest schliefen, denn wenn sie jetzt aus dem Fenster schauen würden, würde sie wahrscheinlich der Schlag treffen. Die Tatsache, dass sie sich gemeinsam auf den Weg machten, schien den Geisterjungen mit ungeahnter Energie zu versorgen. Er zappelte ganz aufgeregt herum, während Jim nach einer Schaufel suchte und kaum das er sie hatte, lief er nach draußen und in Richtung des Waldes. Sie brauchten keine Lampe. Rings um den Geisterjungen schien es taghell. Ein aufkommender Wind strich durch die hohen Fichten und Tannen und sie waren schon ein gutes Stück bergauf gelaufen, als Henry fragte, ob es noch weit sei. Der Geisterjunge schüttelte den Kopf und deutete auf eine Stelle, die schräg über ihnen lag. Sie liefen noch zweihundert Meter den Feldweg entlang, dann bog der Geisterjunge unvermittelt in den buschigen Wald ab, wo er etwas langsamer lief, damit seine Begleiter auf den mit Wurzeln und Ästen übersäten Untergrund genug sahen, um sicher voranzukommen. Auch hier ging es ein kleines Stück bergauf, doch es dauerte nicht lange, bevor sie eine flache Lichtung erreichten und schon von weitem konnte Jim das plätschern von Wasser hören. Als sie näher herankamen, wirkte der Ort fast magisch. Von einem hohen Felsen, der im Licht des Geisterjungen silbern schimmerte, fiel ein kleiner Wasserfall herab, in einen von Steinen umrandeten Teich, vor dem sich ein Teppich aus grüner Wiese und kleinen rosa Heideröschen befand. Als Jim den Ort sah, der ihn so deutlich an seinen Traum erinnerte, musste er schlucken. Es war nicht nur die Wiese mit ihren kleinen Rosen, - es war vor allem die kleine Engelsfigur, die verwittert neben dem Teich stand. Es war nicht das erste Mal das Jim hier oben im Wald war, doch diese Stelle hatte er noch nie zuvor gesehen. Als hätte sie sich auf wundersamer Weise seinem Blick entzogen. Jetzt da er sie sah, war er zutiefst berührt von ihrer Schönheit. Der Geisterjunge lief zu dem Engel und deutete nicht weit davor auf den Boden. Obwohl es offensichtlich war, fragte Jim nur zur Sicherheit, „sollen wir hier graben?“ Der Junge nickte heftig mit dem Kopf. „Ich weiß nicht, sagte Henry, aber wenn du mich fragst, sieht das aus wie ein Grab.“ „Ach weißt du, erwiderte Jim grinsend, bevor er die Schaufel in die Erde stieß, so langsam gewöhne ich mich an so was.“ Während Jim grub, fiel Henry auf, das der Geisterjunge immer wieder besorgt in Richtung Osten schaute, wo die Morgendämmerung den neuen Tag ankündigte und er fragte sich ernsthaft, ob sie das Richtige taten. Was, wenn dort keine Kette lag, sondernd etwas anderes? Etwas…Düsteres. Was, wenn der Geist gar nicht das war, was er Vorgab zu sein und sie ihm halfen etwas zu finden, das besser verborgen geblieben wäre? In welcher Gestalt würde sich wohl der Teufel nähern, wenn er möchte, dass du ihm vertraust? Henry sah sich den Jungen genauer an. Sicher, er sah aus wie ein Engel, aber was wenn… „Ich glaub ich hab was gefunden.“ Jim legte die Schaufel auf die Seite und wühlte mit den Fingern in der Erde. „Was ist es denn?“ Henrys Nerven waren gespannt wie Drahtseile, gleichzeitig fiel ihm auf, dass der Junge im hereinbrechenden Licht des Morgens immer mehr verblasste. „Ich glaub… es ist… eine Dose.“ Jim beförderte eine olivgrüne Dose ans Tageslicht, mit abschraubbaren Deckel. Der Geisterjunge schien jetzt so aufgeregt, wie ein kleines Kind am Geburtstagmorgen. Er machte eine hastige Geste, dass Jim sie aufschrauben sollte. Während Jim sie mit zitternden Fingern aufschraubte, konnte Henry nur an eines denken - die Büchse der Pandora. Nachdem Jim sie geöffnet hatte, griff er hinein und zog eine goldene Kette heraus. An ihrem Ende hing ein kunstvoll verziertes Medaillon. Er drücke auf den kleinen, seitlichen Verschluss und als es aufschnappte, sah er ein altes Schwarzweißbild. Auf der Innenseite des Deckels stand in kleinen Buchstaben eingraviert; v.H.f.S. Der Geisterjunge gestikulierte heftig und deutete an, Jim solle sie sich umhängen. Jim sah kurz zu Henry, der mit blassem Gesicht den Kopf schüttelte und dann wieder zu dem Geisterjungen, der ihn mit großen Augen ansah. Jim kam sich vor, als stünde er auf einem Berg und würde ein uraltes Ritual durchführen. Nur das er nicht wusste, was es zu bedeuten hat. Er blickte erneut zum Geisterjungen und sah ihm tief in die Augen. Es war, als würde er eine Seele erforschen, die verborgen unter Sand am Grund eines tiefen Meeres liegt. Alles was er darin erkennen konnte, war der flehentliche Ausdruck sich zu beeilen. Sich zu entscheiden. Und wenn Jim genau darüber nachdachte, blieb ihm eigentlich gar keine andere Wahl. Die einzige Möglichkeit herauszufinden, was das alles zu bedeuten hatte, war das Ritual durchzuführen. Er zögerte noch einen Moment, dann klappte er kurzerhand den Deckel zu und zog sich die Kette über den Kopf. In dem Augenblick, als sie um seinen Hals fiel, ging die Sonne hinter den östlichen Bäumen auf. Ein rötlicher Sonnenstrahl ließ die Kette leuchten wie goldenes Feuer und der Geisterjunge, - war verschwunden.

Etwas in Jims Blick ließ Henry nervöser werden, als eine langschwänzige Katze in einem Raum voller Schaukelstühle. Er blickte so verwirrt, als hätte er gerade erfahren, dass er eigentlich vom Mars kommt. „Jim?“ Keine Reaktion. „Jim, alles in Ordnung?“ Es schien, als ob Jim weit weg wäre und erst langsam wieder zu sich kommen würde. „Jim!“ Jim warf Henry einen Blick zu der ihn frösteln ließ. Es dauerte lange, bevor er etwas sagen konnte und als er es schließlich tat, wurde aus Henrys frösteln, ein eisiger Sturm des Entsetzens. „Er ist… in mir.“ „Was heißt das er ist in dir?“ Henry hatte das Gefühl, als sei er kurz vorm durchdrehen. Als könnte sein Verstand jederzeit in eine andere Welt abdriften, wo glitzernder Regen von einem rosa Himmel fällt und eine schwarze Sonne über phosphorisch leuchtende Hügel aufgeht. „Ich weiß doch auch nicht“, sagte Jim gereizt. „Ich weiß nur, dass ich ihn in mir hören kann und dass ich fühle dass er da ist.“ „Das… also ich…“ Als Jim das Flackern in Henrys Augen sah, beschloss er Henry schleunigst zu beruhigen, bevor die Probleme noch größer wurden. Er legte seine Hände auf Henrys Schultern und sah ihm dabei fest in die Augen. Er senkte auch bewusst seine Stimme, denn Henrys braune Augen, sahen ihn an wie ein scheues Reh, das jederzeit in Panik davon rennen könnte. „Er ist kein außerirdischer Parasit der mich befallen hat, Henry. Er ist ein neunjähriger Junge und sein Name ist Alexander.“ „Also ich… ich glaub das einfach nicht.“ „Ich glaub, das spielt keine Rolle“, entgegnete Jim mit einem müden Lächeln.

Schattenkind

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