Читать книгу Covid - 33 - Nicola Noel - Страница 2

Kapitel 2

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Ich gehe hinauf in mein Zimmer, um mich in das Lernsystem der Universität einzuloggen. Heute steht Rechtsgeschichte auf dem Stundenplan. Das Fach finde ich ganz spannend. Wir beschäftigen uns gerade mit der Entwicklung der Grundrechte. Dabei handelt es sich um Rechte, die den Bürgern eine gewisse Freiheitssphäre vor staatlichen Eingriffen gewähren sollen und die ursprünglich nur in engen Grenzen eingeschränkt werden können sollten. Leider sind die meisten Grundrechte aber aufgrund der übergeordneten Ziele des Gesundheitsschutzes und „der Sicherung des Fortbestands der Menschheit“ in den letzten Jahren sehr stark eingeschränkt worden. Auf dem Papier, das heißt in der Verfassung, stehen sie zwar immer noch, faktisch hat sich ihr Inhalt aber grundlegend verändert, „Verfassungswandel“ nennt das mein Professor. Ich frage mich, was Grundrechte wert sind, die nur noch auf dem Papier stehen. Das Ziel, langfristig das Überleben der Menschheit zu sichern, das 2025 auch als Rechtfertigungstatbestand für weitreichende Grundrechtseinschränkungen Eingang in die Verfassung gefunden hat, dient heute als Legitimation für staatliche Maßnahmen, die faktisch zu einer fast vollständigen Aushöhlung zahlreicher der verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte geführt haben. Sollten diese anfangs nur übergangsweise gelten, zeichnete sich allmählich ab, dass sie wohl von Dauer sein würden. Das Land wird auch faktisch nicht mehr von einem demokratisch legitimierten Parlament und einer vom Parlament gewählten Regierung regiert, sondern vom sogenannten „Demokratierat“, der aus dem Bundeskanzler und seiner Ministerriege, den Ministerpräsidenten der verschiedenen Bundesländer sowie Fachexperten für Gesundheit, Recht und Politik besteht, wobei Letztgenannte aber nur beratende Funktion haben. Ihr Einfluss ist gleichwohl immens. Aus Sicht meines Professors soll der Demokratierat zur Führung des Landes legitimiert sein, weil seine stimmberechtigten Mitglieder in den Jahren 2017 bis 2021 aus Wahlen hervorgegangen seien. Es bestehe insofern eine durchgängige „demokratische Legitimationskette“. Nachfolgende Wahlen wurden zwar aus Gründen des Gesundheitsschutzes zunächst ausgesetzt, später konnte der amtierende Demokratierat alle vier Jahre in einer Online-Abstimmung bestätigt werden. Dabei wurden bislang immer Bestätigungswerte zwischen siebenundneunzig und neunundneunzig Prozent erreicht. Dass der Demokratierat nach wie vor in der Verfassung gar nicht vorgesehen ist und immer wieder Manipulationsvorwürfe in Bezug auf die Online-Bestätigungsabstimmungen im Raum standen, wird gerne ausgeblendet. Eine wirksame politische Kontrolle durch andere Staatsorgane (Parlament, Gerichte) findet ebenso wenig statt wie durch Medien – Presse, Rundfunk, Fernsehen. Diese huldigen fast ausnahmslos dem Demokratierat und tragen dazu bei, ein bestimmtes „Angstlevel“ vor epidemiologischen Notlagen aufrechtzuhalten, was letztlich einer politischen Rechtfertigung der restriktiven staatlichen Maßnahmen in der Öffentlichkeit dienlich ist. Die meisten Artikel und Beiträge in den Medien werden heute allerdings sowieso nicht mehr von Journalisten oder Redakteuren verfasst, sondern – wie auch fast alle behördlichen Schreiben, Firmenkorrespondenzen oder Anwaltsschriftsätze - von sogenannten „Bots“. Dabei handelt es sich um Computerprogramme, die so programmiert sind, dass automatisch bestimmte Aufgaben – wie etwa das Schreiben oder Formulieren von Texten anhand von Textbausteinen und -routinen – abgearbeitet werden, ohne dass ein Mensch eingreifen müsste. Die Beiträge der Bots sind regelmäßig linientreu. In den Fällen, in denen ausnahmsweise einmal abweichende Positionen vertreten werden, ist zu befürchten oder – je nach Blickwinkel - zu hoffen, dass möglicherweise Hacker am Werk waren. Finden sich vereinzelt tatsächlich Kritiker der weitreichenden staatlichen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz, wird deren Geisteszustand in der Regel schnell öffentlich in Frage gestellt. Diese Personen müssen dann regelmäßig mit Diffamierung und Ausgrenzung rechnen und meist verstummen ihre kritischen Stimmen dann auch schnell in der Öffentlichkeit. Manche Kritiker, so munkelt man, seien sogar weggesperrt worden…

In der Pause gegen Mittag trete ich raus auf den Balkon vor meinem Zimmer, recke und strecke mich im Schein der heißen Augustsonne und lasse meinen Blick durch unseren Garten schweifen – über den kurzen Kunstrasen, den wunderbar blühenden roten Oleander und die lebendigen violettfarbenen Hortensien. Plötzlich verharrt mein Blick, als ich über den Gartenzaun zu den Nachbarn gegenüber schaue. Dort liegt ein Mädchen – sie mag etwa sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein - nur mit einem knappen weißen Bikini bekleidet, auf einer Gartenliege.

»Wohohow – alter Schwede!«, murmele ich, »Wer ist denn das?«, frage ich mich, »die habe ich hier noch nie gesehen! Hm, wer wohnt denn dort im Haus gegenüber nochmal?«, überlege ich. »Waren das nicht die Schmidts, ein älteres Ehepaar? Egal!«, sinniere ich, »jetzt am besten einfach nur den Augenblick genießen«. In einer Welt, die sich fast nur noch online und digital abspielt, ist ein solcher Anblick natürlich ein echtes Highlight, das es zu genießen gilt. Es fällt mir schwer, meine Augen von ihr zu lassen.

»Mist, sie scheint zu spüren, dass sie beobachtet wird,« schießt es mir durch den Kopf, als sie sich aufrichtet und genau in meine Richtung blickt. Die peinliche Situation versuche ich zu überspielen, indem ich kurz die Hand hebe und geräuschlos ein »Hi« mit meinen Lippen forme. Als sie mich sieht, lächelt sie - nein, sie strahlt mich an…

»Wow – es ist um mich geschehen!«, denke ich in diesem Moment. Ich lächle zurück, mein Herz rast und ich beginne leicht zu schwitzen. Inzwischen signalisiert mir ein dumpfer Ton, dass meine Vorlesungen weitergehen. Nur ungern begebe ich mich ins Zimmer zurück. Ich identifiziere mich am Computer und bekunde damit, dass ich der nächsten Veranstaltung nun folgen werde. Gleichzeitig recke und strecke ich meinen Kopf immer wieder in Richtung Balkontür, um noch einen Blick von ihr zu erhaschen – ohne Erfolg, die Tür ist zu weit entfernt, der Winkel auch zu ungünstig.

Nachdem ich der Veranstaltung circa fünfzehn Minuten gefolgt bin und schon drei „Sie wirken unkonzentriert“ - Hinweise des Systems erhalten habe, hält es mich nicht mehr auf dem Stuhl. Ich beschließe, mich online krankzumelden, um so schnell wie möglich auf den Balkon zurückzukehren.

»Mist!«, denke ich, als ich wieder auf den Balkon trete, denn sie ist verschwunden, die Liege ist leer. Schnell hechte ich zurück an den Rechner, um die Krankmeldung zu berichtigen. Auf diese Weise möchte ich den automatischen Start eines Online-Anamneseprogramms verhindern, das man absolvieren muss, kurz nachdem man sich krankgemeldet hat. Nach den Online-Veranstaltungen verbringe ich den Rest des Tages damit, immer wieder auf den Balkon zu treten und einen Blick über den Gartenzaun zu werfen. Ohne Erfolg – die Gartenliege bleibt leer, die schöne Unbekannte im Verborgenen.

Covid - 33

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